Die Schuld der Liebe

Jochen Missfeldts große Storm-Biografie „Du graue Stadt am Meer“ widmet sich den erotischen Fantasien eines eigensinnigen Dichters

Von Thorsten CarstensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Carstensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jochen Missfeldts Biografie des Husumer Autors Theodor Storm ist die kritische Würdigung eines Mannes, der es verstand, auch „unter schwierigsten persönlichen Bedingungen den Kopf oben zu halten“. Minutiös rekonstruiert das Buch ein bewegtes Leben, in dem beruflicher Erfolg und privates Unglück nicht selten zusammenfielen. Missfeldt ist ein großer Wurf gelungen: Er deckt die problematischen Subtexte von Storms Schreiben auf und lässt zugleich doch keinen Zweifel daran, dass sich die Lektüre dieses Autors auch heute noch lohnt. So entsteht eine mitreißende Erzählung, die durch jene Fähigkeit zur Empathie besticht, die auch für Storms literarischen Erfolg wesentlich war.

Missfeldt, der aus Schleswig stammt und als Romancier und Essayist in Nordfriesland lebt, ist mit den für Storms Leben und Werk relevanten Landschaften bestens vertraut. Er versteht es, die Biografie Storms sowohl in das norddeutsche kleinstädtische Alltagsleben („Man hat das Mittagsmahl eingenommen, vielleicht Rhabarbergrütze mit Milch.“) als auch in die größeren politischen Zusammenhänge des 19. Jahrhunderts einzubetten. Ob bei Storms Gründung eines Husumer Singvereins im Jahr 1843, seinen Freundschaften mit Figuren des kulturellen Lebens, dem Tod seiner ersten Frau Constanze oder dem Rückzug nach Hademarschen in den 1880er-Jahren – Missfeldt ist als sensibler, nicht selten ironischer Begleiter stets vor Ort. Ein besonders anschauliches Bild erhält der Leser von den Jahren 1853 bis 1856, als Storm mitsamt Familie in der Kasernenstadt Potsdam lebte. Missfeldt charakterisiert das Preußen der Jahrhundertmitte als einen durch politische Unterdrückung und Duckmäusertum geprägten Staat, in dem der „auf Eigensinn und Unabhängigkeit bedachte Dichter“ Fuß fassen sollte und dabei nicht selten in Fettnäpfchen trat. Die Fremdheit, mit der sich Storm in Preußen bewegte, kommt auch in seiner Beziehung zu Theodor Fontane zum Ausdruck. Freunde wurden die beiden Schriftsteller nie; vor allem in späteren Jahren kritisierte der anglophile Fontane die Heimatverbundenheit Storms als Ausweis fehlender Weltläufigkeit, als „Husumerei“. In der Gesellschaft der Gardeleutnants im Café Kranzler am Berliner Tiergarten fühlte sich der Mann von der Nordsee nie wohl. Fontane resümierte: „Für Kranzler war er nicht geschaffen.“ Wenngleich er mit Storms erotischer Manier wenig anfangen konnte und ihn für „ein kränkliches Männlein“ hielt, hat Fontane den Kollegen für sein schriftstellerisches Können doch sehr bewundert.

Nicht nur beeindruckt Missfeldts Biografie durch sprachliche und erzählerische Souveränität, sie steht vor allem auf einem imposanten Quellenfundament. Die wohl wichtigste Stütze bilden die Briefwechsel Storms mit dem Historiker Theodor Mommsen, dem Literaturhistoriker Erich Schmidt, dem Ehepaar Mörike und den Schriftstellern Theodor Fontane, Klaus Groth, Gottfried Keller sowie Paul Heyse, der 1910 als erster deutscher Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur erhielt und dennoch heute beinahe vergessen ist; allein der Briefwechsel mit Heyse umfasst drei Bände. Auf der Grundlage dieser Quellen erleben wir Storm als selbstverliebten Gerechtigkeitsfanatiker, der den Frauen zu gefallen wusste, bei manch männlichem Wegbegleiter aufgrund seiner Weichheit jedoch Stirnrunzeln hervorrief. Seinen drei Söhnen und vier Töchtern setzte er derweil, wie Missfeldt darlegt, mit einer „manipulativen Pädagogik“ zu. So nahm er, der selbst Zeit seines Lebens mit Verdauungsproblemen kämpfte, an Lucies Gewichtsproblemen regen schulmeisterlichen Anteil. Vor allem aber die Söhne litten, wie man seit langem weiß, unter Storms Leistungsdruck. Zum Sorgenkind, das die väterlichen Erwartungen regelmäßig enttäuschte, wurde Hans, der Älteste: Er musste von der Schule abgemeldet werden, verlor seine Stelle als Arzt, meldete öffentlich Konkurs an und verfiel dem Alkohol. Sein Tod im Dezember 1886, kurz vor seinem 37. Geburtstag, rief „unerbittliches Mitleid“ im Vater hervor. „Aus Allem ist nichts geworden, als ein wirres Leben, das er nun in fremden Landen ausschläft“, schrieb Storm später an Heyse und zitierte damit indirekt eine Vorahnung, die er eine Dekade zuvor bereits ans Ende seiner Novelle Aquis submersus (1876) gestellt hatte: „Es ist alles doch umsonst gewesen.“

Missfeldts Biografie verfolgt nicht den Anspruch, der Storm-Forschung mit neuen Werkinterpretationen auf die Sprünge zu helfen. Trotzdem erweisen sich seine klug und beherzt formulierten Ausführungen zu einzelnen Novellen und Gedichten, aber auch zum Gesamtwerk Storms als literaturwissenschaftlich aufschlussreich. Storms Hinwendung zur Chronik und zu historischen Themen deutet Missfeldt als Strategie des Wegtauchens; in der Novelle habe er sich „einigeln, abschotten und erholen“ können von der Gegenwart. Neben dem Schimmelreiter (1888) hält Missfeldt die romanhafte Erzählung Zur Chronik von Grieshuus (1884) für Storms bestes Prosawerk, und die Begeisterung, mit der er von seiner Lektüreerfahrung zu berichten weiß, wirkt ansteckend: „Man liest dieses Stück mitgerissen und gespannt in einem Zug, beglückt von seiner poetischen Kraft, bezaubert von seiner erzählerischen Anmut und Raffinesse.“ Attribute wie „unvergesslich“ und „kostbar“ benutzt Missfeldt ohne Scheu, doch er weiß auch die weniger geglückten Arbeiten Storms einzuordnen. So stellt er fest, dass Ein Fest auf Haderslevhuus (1885) altbekannte Erzählmuster abklappere und letztlich kaum mehr als „erotische[r] Edelkitsch“ sei. Ebenso scharf fällt das Urteil aus über Es waren zwei Königskinder (1884). Da der Text die angeschlagenen Themen nicht organisch entfalte, könne man die Lektüre getrost nach der recht gelungenen ersten Hälfte aufgeben: „Bis hierher und nicht weiter, jetzt lieber das Buch beiseitelegen und den Rest schweigen lassen.“ Bei der Überarbeitung für den geplanten Band 18 der Gesamtausgabe von Storms Werken konnte Paul Heyse immerhin helfen, das unzulängliche Bayrisch des Textes auszubessern.

Theodor Mommsen betrachtete seinen Freund als „Kenner von Mädchenhänden und Herzen“, und tatsächlich kommt dem Eros im Leben Storms, der in seinen Briefen die Frauen mit fragwürdigem Taktgefühl zu überwältigen versuchte, eine brisante Rolle zu. Die Liebesgedichte begreift Missfeldt deshalb zu Recht als Schlüssel zu Storms Werk. Die Tatsache, dass der Dichter „nicht um den heißen Brei herumredet“, verleihe seiner Liebeslyrik eine besondere Glaubwürdigkeit. Was Fontane in einem Brief als „geradezu lüstern“ beschreibt, ist der Umstand, dass sich das Erotische bei Storm eben doch nicht jenseits der Sprache vollzieht, wie es ein Gedicht im Titel ankündigt („Du willst es nicht in Worten sagen“). Vielmehr werden die Gedichte zu Liebesakten, die Worte verbergen nichts, sondern weisen unmissverständlich den Weg: „Du fühlst, wir können nicht verzichten;/ Warum zu geben scheust du noch?/ Du musst die ganze Schuld entrichten,/ Du musst, gewiss, du musst es doch.“

Die pädophile Disposition ihres Autors verschleiern die häufig kitschigen Liebesfantasien, in deren Zentrum immer wieder sexuell aufgeladene Kindfrauen (sowie, allgemeiner gesprochen, die Sehnsucht nach einer dauerhaft fixierten Kindheit) stehen, keineswegs. Storms Kinderliebe „erscheint jedenfalls nicht ganz korrekt“, schrieb bereits Thomas Mann in seinem Aufsatz von 1930. Den biografischen Hintergrund dieser unheimlichen Erotik bildete sein „Projekt Bertha“, wie Missfeldt es nennt: Der 19-jährige Storm war, nach einer Begegnung am Heiligabend, „bis über beide Ohren in ein Kind verknallt“ – in eben jene Bertha von Buchan, der er nicht nur sein Märchen „Hans Bär“ widmete, sondern auch vielsagende Liebesgedichte, in denen das neun Jahre jüngere „Lockenköpfchen“ gefügig gemacht und zur Liebe gezwungen wird. Missfeldt arbeitet diesen unheilvollen Aspekt von Storms Schaffen als Verschränkung von erlebtem Verlangen und dichterischer Sublimation überzeugend heraus, ohne entschuldigen oder anklagen zu wollen.

Auch in anderen Zusammenhängen zeichnet Missfeldt ein ausgewogenes Bild, das seinem Gegenstand gerecht wird. Ausführlich widmet er sich dem verschiedentlich vorgetragenen Vorwurf, Storms Werk weise antisemitische Tendenzen auf. Missfeldt zeigt, wie Storm zwar in manchen Gedichten und Novellen durchaus auf jüdische Klischees zurückgriff, in seinem Umgang mit Freunden und Bekannten jüdischer Abstammung aber zu einer weitgehend vorurteilsfreien Haltung fand. Missfeldts Fazit ist so differenziert wie entschieden: Seine bisweilen „antisemitische Gossensprache“ könne als Randerscheinung bewertet werden; ein systematischer Antisemit sei Storm trotz manch salopper Äußerung nicht gewesen.

Am 4. Juli 1888 erliegt Storm den Folgen eines Lungenschlags. Missfeldts einfühlsame Schilderung jener Frühlingsmonate, als das Sterben „längst begonnen“ hat, gehört zu den stärksten Passagen des Buches. Mithilfe der Briefwechsel rekonstruiert er die letzten Gänge durch den heimischen Garten ebenso wie das Einsetzen von Lähmungserscheinungen. Dass Storm 400 Mark für die eigene Beerdigung bereitgelegt hat, belegen die Quellen. Ob der Sterbende freilich „den Lerchengesang hört, der in den frühen Morgenstunden an sein Ohr gelangt“, ist eine Frage, die auch der penibelste Biograf nicht wird beantworten können.

Titelbild

Jochen Missfeldt: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
496 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-13: 9783446241411

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch