Frauenleben und Frauenliebe

Jochen Missfeldts Roman „Sturm und Stille“ zeichnet das vergessene Leben der Doris Jensen nach

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum jemand kennt heute noch Doris Jensen. Als Dorothea Storm, wie sie seit ihrer Hochzeit mit dem Dichter Theodor Storm hieß, wird sie wohl auch nur mit dem Verfasser des Schimmelreiters assoziiert werden, ein genaues Bild von ihren Lebensumständen und ihrem Zusammenleben mit dem berühmten Autor dürfte kaum jemand haben. Auch dem Autor Jochen Missfeldt geht es da nicht besser, wie er im Nachwort seines neuen Romans Sturm und Stille erklärt. Wenige Nachrichten und Quellen zu Dorothea Storm jenseits der reinen äußeren Fakten und Daten sind überhaupt auf die Nachwelt gekommen. Daher war, so Missfeldt, die Fantasie gefragt, die Fehlstellen auszuschmücken und das Nichtwissen romanhaft zu überspielen. Das alles ist für einen Roman zulässig, wenngleich man während der Lektüre mehr und mehr unsicher wird, ob diese fantasievolle Evokation eines Frauenlebens im 19. Jahrhunderts geglückt ist. Keine Frage: Jochen Missfeldt ist ein begnadeter Erzähler, vor allem ein Erzähler historischer Figuren und Geschichten, die man meint, eigentlich gut zu kennen. Außerdem ist er einer der besten Kenner Theodor Storms, der Husumer Topographie und (nord-)deutschen Geschichte und Mentalitäten im 19. Jahrhundert, was er nicht zuletzt in seiner großartigen Storm-Biografie bewiesen hat. Aber sein neuer Roman Sturm und Stille über die spätere Ehefrau Theodor Storms ist wohl nicht sein bester Text geworden.

Doris Storm war als relativ junges Mädchen von 18 Jahren – Storm kannte sie aber schon früher – vor und auch während Storms 1846 geschlossener Ehe mit der ersten Frau Constanze seine Geliebte. Sie entstammte einer wohlhabenden und angesehenen Husumer Kaufmannsfamilie. Diese hat wie auch Storms Familie die Liaison der beiden eine Zeit lang geduldet, bevor man sich auf moralische Grundsätze besann und das Mädchen kurzerhand aus Husum wegschickte, damit sie – und auch Storm – auf andere Gedanken käme. Über all die Jahre und verschiedenen Stationen ihres Lebens hinweg scheinen die beiden aber den Kontakt nie verloren zu haben. Es mutet wie ein zwielichtiges, seltsames (und spätes) Glück an, dass Doris im April 1864 wieder nach Husum zurückkehren konnte und Storms erste Frau im Mai 1865 nach der Geburt des siebten Kindes verstorben ist, sodass die beiden nach Ablauf des Trauerjahres schließlich im Juni 1866 heiraten konnten.

Unerfüllte Liebe endet ja bekanntlich nie, aber diese Liebesbeziehung hat offensichtlich noch in der späten Erfüllung ihre Gefühle nicht eingebüßt. Dabei war Storm kein Kind von Traurigkeit, immer wieder aber – was in der Storm-Forschung als Thema bisweilen mit spitzen Fingern angefasst wird – an kindlichen Liebespartnern interessiert, die teilweise noch weit von ihrem 18. Lebensjahr entfernt waren. Mit Doris hat ihn indessen eine besondere Beziehung verbunden. Erschütternd ist für den heutigen Leser die Darstellung der Schicksalsergebenheit dieser Frau, der Fügungen, Wendungen, Belastungen und Trennungen oft für viele Jahre, die Gleichförmigkeit der Lebensläufe und die Gottergebenheit – auch wenn gerade Storm mit Gott nichts anzufangen wusste –, mit der man das eigene Los annahm und nicht darüber verzweifelte. Und es dämmert einem, dass Dorothea Storm nur eine von vielen ist. Eine von vielen Frauen und Männern im Schatten großer Namen, die uns auch heute noch etwas sagen, die aber auch ihre eigene Geschichte hatten. Nicht zuletzt verdanken wir diesen komplexen Beziehungsverhältnissen Storms auch einige der schönsten Liebesgedichte der deutschen Literatur.

Aber nicht aus der Sicht des berühmten Dichters zeichnet Missfeldt dieses Frauenleben nach, sondern er konzipiert seinen Roman als Erinnerungsbuch der Dorothea Storm selbst. Einer der Vorzüge des Buches, die sich daraus ergeben, ist sicherlich, dass man dadurch auch mehr den Menschen, Vater, Ehemann, Anwalt und Richter Theodor Storm kennenlernt. Genauer gesagt ist den Erlebnissen der Ich-Erzählerin Dorothea Storm noch ein Kapitel vorgeschaltet, in dem sich der aus Missfeldts früheren Romanen bekannte Gustav Hasse zu Wort meldet, über das vergessene Leben der zweiten Ehefrau von Theodor Storm räsoniert und bekennt, dass er es sei, der ihr die Worte in den Mund lege, wenn sie über ihre Liebe zu Storm berichte.

Damit beginnt gleichzeitig das Problem dieses Romans: Man wird den Eindruck nicht los, dass der Autor mit dieser Konstruktion schon von vornherein Kritik vorbeugen will, die sofort laut wird, wenn man die Perspektive und die Sprache Dorothea Storms näher betrachtet. Bis auf ein paar altertümlich und topografisch bedingt unverständlich wirkende Passagen und Wendungen wirken die Erinnerungen dieser Frau alles andere als glaubwürdig und ihrer Zeit angemessen. Thematisiert wird übrigens auch nicht, dass ihr Rückblick und ihre Gedanken teilweise nicht zu der alten Frau passen, von der Sprache ganz zu schweigen. Noch ärgerlicher sind Anachronismen, um deren Verschleierung sich der Autor gar nicht erst bemüht. So kennt Dorothea Storm offenbar vieles schon, was sie eigentlich nicht kennen konnte. Da wird leutselig einmal die Hoffnung geäußert, von guten Mächten wunderbar geborgen zu sein, oder die heute zur Formel verkommene Wendung von „Unordnung und frühem Leid“ zur Beschreibung der eigenen Situation aufgerufen oder aber Erich Kästners Bonmot bemüht, „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Sollte das etwa ästhetisch avanciertes, verspielt-postmodernes Schreiben darstellen und nur der Rahmen-Konstruktion geschuldet sein? Dagegen spricht der – anders als bei Missfeldts letzten Solbüll-Romanen – oft angestrengt wirkende lyrische Duktus der Prosa. Als Leser soll man Zeuge einer Leidenschaft oder Betrachter einer Landschaft werden, findet aber nicht selten durch die verstellte Stimme der Erzählerin keinen Zugang zu ihrer Gefühlswelt. Sicher: Der Text ist insgesamt stilsicher geschrieben, liest sich flott und lässt einen nicht unbedingt ratlos oder gequält zurück. Zu vieles aber läuft ins Leere, wie etwas Dorotheas Leidenschaft für das Barometer und die Wetterforschung, zu vieles vom historischen Hintergrund, den sozialen Entwicklungen bleibt unscharf. Auch das könnte man der Perspektive eines „gewöhnlichen“ Frauenlebens anlasten. Allerdings liefe gerade diese Beurteilung Dorotheas dem Gesamteindruck zuwider, dass man es hier keineswegs mit einer gewöhnlichen Frauenbiografie im 19. Jahrhundert zu tun hat.

Titelbild

Jochen Missfeldt: Sturm und Stille. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
352 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783498045296

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