Enkel und Großvater

Michael Morpurgo zeigt in „Nur Meer und Himmel“, wie ein junger Mensch seiner Familie hilft, anders mit ihren Konflikten umzugehen

Von Nicolai GlasenappRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolai Glasenapp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Morpurgos Nur Meer und Himmel. Die Geschichte meines Großvaters erscheint in der Reihe Die Bücher mit dem blauen Band, in der beispielsweise auch Felicitas Hoppes Nacherzählung von Hartmann von Aues Iwein, von Jonas Lauströer illustrierte Spukgeschichten und Märchen Theodor Storms oder Peter Stamms sowie Johann David Wyssʼ Der schweizerische Robinson mit Illustrationen von Willi Glasauer veröffentlicht wurden. Die Reihe zeichnet sich durch einen Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen und kulturellen Themen und – wie an den genannten Beispielen ersichtlich – aktualisierenden Bearbeitungen bekannter literarische Stoffe aus. Hervorzuheben sind die Illustrationen, die mehr als nur eine Ergänzung der textlichen Grundlage sind. Das gilt auch für Morpurgos Nur Meer und Himmel.

Die Erzählung beginnt mit der Beschreibung eines Alptraums, der den mittlerweile erwachsenen Ich-Erzähler in seiner Kindheit regelmäßig heimsucht. Sein Großvater ist dabei in ein katastrophales Ereignis verwickelt, bei dem zahlreiche Männer von einem brennenden Schiff fliehen und durch das Meer zu einem Rettungsboot schwimmen müssen. Für ihn scheint dabei kein Platz mehr zu sein, während sein Enkel im Traum mit im Boot und damit gerettet ist. Die Traumhaftigkeit des Dargestellten manifestiert sich auch darin, dass der Enkel seinen Großvater mit einem brennenden Gesicht sehen muss und die Hand eines Bootsinsassen, die er dem Großvater entgegenstreckt, keine Finger aufweist. Es handelt sich um eine auffällig explizite und zugleich sparsam andeutende Beschreibung, deren Symbolhaftigkeit dem geschilderten Traumszenario zupasskommt und grauenhaft genug erscheint, um sich auch dem Leser einzuprägen und entsprechende Bilder zu evozieren.

Dieser Traum ereignet sich nun immer, kurz bevor der Großvater seinen Enkel und dessen Familie in London besucht, was wegen seines Wohnsitzes auf den Scilly-Inseln nicht oft geschieht. Er greift Aspekte auf, die der Enkel mit der Präsenz seines Großvaters verbindet – von dessen Händen und Gesicht bis zu seiner wenig gesprächigen Art. Hier setzt sich das Moment des zugleich Angedeuteten und Unausgesprochenen, des Gesagt-Ungesagten fort und trägt zu der Konstruktion einer mystischen Aura um die Figur des Großvaters bei, die als ein poetisches Prinzip des Textes verstanden werden kann. Daran fügt sich das Verbot der Eltern nahtlos an, ihr Sohn möge seinen Großvater bloß nicht anstarren, wie auch die Illustrationen, auf denen der Großvater einem Auto entsteigt und dabei durch die perspektivische Distanz nur spärlich zu erkennen ist, oder wenn er vor der Tür steht und nur die Schatten gezeigt werden, die er wirft. Der beklemmende und bedrohliche Eindruck dieser Situation wird noch dadurch untermauert, dass eine Katze mit aufgestelltem Schwanz in seine Richtung blickt. Offensichtlich verbindet sich mit der Person des Großvaters und seiner Biografie etwas Besonderes und die Art und Weise der textuellen wie visuellen Inszenierung trägt ihren Teil dazu bei, dass Spannung in Bezug auf diese schemenhafte Großvaterfigur und ihre Geschichte entsteht.

Am Ende der Geschichte kann der letzte Wille des Großvaters respektvoll erfüllt werden, gerade weil der junge Ich-Erzähler nicht uneingeschränkt dem Verbot der Mutter folgt, sondern seinen Großvater häufig aufmerksam anschaut. Diese Aufmerksamkeit ist die eigentliche Grundlage dafür, dass sich die Beziehung zu seinem Großvater intensiviert und dieser ihm die Geschichte und damit den Grund seiner Verletzungen detailliert erzählt, die mit dem Schicksal seiner Tochter, der Mutter des Ich-Erzählers, zusammenhängen. Die Annäherung von Enkel und Großvater führt schließlich dazu, dass es auch zwischen dessen Mutter und seiner Großmutter wieder zu einer Annäherung kommt, nachdem der Kontakt über Jahre ausgesetzt wurde.

Der alptraumhafte Beginn der Erzählung, in dem der Großvater zunächst als bedrohliche Figur erscheint, mag die Frage aufwerfen, für welches Lebensalter der Text angemessen ist. Und auch bei der Auflösung dieses anfänglichen Eindrucks in eine harmonische und von Vertrauen geprägte Beziehung von Großvater und Enkel spielen komplexe psychologische und emotionale Vorgänge eine Rolle – schließlich gilt es zu begreifen, dass das anfängliche Bild vom Großvater auf unzureichenden Erzählungen basiert, die dem Enkel von seinen Eltern vermittelt werden, welche wiederum selbst offensichtlich nicht die ganze Wahrheit kennen. Doch stellt der Text den jungen Ich-Erzähler deutlich als Figur heraus, die die konfliktreichen Familienverhältnisse durch Mut, Offenheit, Aufmerksamkeit und Respekt nachhaltig und positiv beeinflusst, statt den Tabuisierungen der Eltern zu folgen, die dennoch nachvollziehbar bleiben, da sie einen anderen Grad der Involviertheit in die Geschichte des Großvaters aufweisen. Es bieten sich also identifikatorische Lesarten für Morpurgos Text an, dessen pädagogischer Sinn darin bestehen kann, junge Menschen zu einem eigenständigen Denken und Fühlen wie auch zu Empathie anzuleiten. Nur einer der positiven Aspekte an der Erzhälung ist, dass dies gelingt, ohne dabei moralisierend zu wirken. In diesem Sinne ist Nur Meer und Himmel ein wertvolles Buch, das aber primär für die etwas reiferen unter den jungen Lesern geeignet ist, da es Traumata, Trauer und Konflikte in den Vordergrund stellt. Am Ende löst sich der Grundkonflikt zwischen den Figuren zwar auf, aber es wird keine Illusion einer Rückkehr in eine harmonische Vergangenheit konstruiert. Ein Stück Enttäuschung und Melancholie bleibt, weshalb das Buch eine – im positiven Sinn – Zumutung für seine Leserinnen und Leser ist.

Titelbild

Michael Morpurgo: Nur Meer und Himmel. Die Geschichte meines Großvaters.
Illustrationen von Gemma O‘Callaghan.
Übersetzt aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
55 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783737352109

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