Zusammengehen, auseinanderkommen

„Ferne Verabredungen“, eine neue Anthologie mit Kurzgeschichten von Alice Munro

Von Sylvia HeudeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Heudecker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie ist eine Frau von 86 Jahren. Die Bilder, die von ihr in der Presse zu sehen sind, zeigen eine gepflegte, grauhaarige Dame, die wenn nicht immer ein Lachen, so doch ein mildes Lächeln auf den Lippen trägt. Würdiger könnte eine Nobelpreisträgerin für Literatur wohl kaum erscheinen als es Alice Munro tut. Die Kanadier sind stolz auf sie. Und die Reaktion der literarischen Welt auf den Nobelpreis 2013 war, im Gegensatz zur aktuellen Vergabe an Bob Dylan, selten einiger: Diese Schriftstellerin hat die Auszeichnung verdient. Unbestritten gilt Munro als Meisterin der Kurzgeschichte. Das attestieren ihr sowohl Kritiker als auch Schriftstellerkollegen. Ingo Schulze vermutet in einem Interview anlässlich des Nobelpreises, Munro nutze „die absolute Sicherheit der äußeren Form“, um ihre Figuren in waghalsige Verstrickungen führen zu können, ohne dabei erzählerisch den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Als 19-Jährige betrat Alice Munro die literarische Bühne. Zwischen heute und damals liegen beinahe 60 Jahre. In denen hat sie ihr Schreiben kultiviert, hat ihr Themenspektrum variiert und dabei immer den Anspruch verfolgt, sich nicht zu wiederholen. Man kann sich Munros Kunst vorstellen wie die einer Sonettdichterin des Barock: Die formalen Vorgaben sind verbindlich, das Themenspektrum umgrenzt. Die eigentliche literarische Freiheit liegt in der Sprache und im Ausleuchten des Individuellen, das so vielfältig erscheint wie die Menschheit selbst. Davon zeugt auch die neue Munro-Anthologie Ferne Verabredungen.

Frauen stehen im Zentrum von Munros Kosmos, egal ob jung oder alt, glücklich oder unglücklich, zufrieden oder enttäuscht vom Leben. Sie bewegen sich in Beziehungen mit anderen Frauen und Männern, immer wieder mit Kindern. Eingeengt durch die anderen, versuchen sie ihre Würde zu wahren und durchs Leben zu kommen. Meist gelingt ihnen dies durch ein Aufbegehren gegen die Umstände. Manchmal setzen sie sich ein bisschen zur Wehr, manchmal brechen sie aus und lassen ihr altes Leben ganz hinter sich. Das Setting von Munros Geschichten ist meist ein ländliches, ihre eigene Heimat, die kanadische Provinz Ontario. Die Autorin zeichnet Lebenslinien, immer leicht, präzise, ohne Pathos, eindringlich. Sie erzählt nichts aus und meidet die Sektion ihrer Figuren, um dadurch umso mehr von ihnen preiszugeben. Gerade das, was Munro nicht erzählt, schafft die Tiefe in ihren Geschichten. Bevorzugt zeigt sie, was geschieht, wenn zwischen Menschen Anziehung oder Abstoßung herrscht oder beides zugleich. Hateship, Friendship, Courtship, Loveship, Marriage (2001), zu Deutsch Hasst er mich, mag er mich, liebt er mich, Hochzeit ist der in beiden Sprache unangenehm sperrige Titel einer Geschichte, die so typisch für Munros Schreiben sind. In der Figurenkonstellation stehen mehrere Paare zueinander. Deren Beziehung ist immer im Fluss, sie kommen zueinander und entfernen sich wieder. Johanna, Typ rothaarige Frau mittleren Alters, altjüngferlich, vom Leben benachteiligt, etwas plump in der Erscheinung, aber doch in der Lage, die eine Gelegenheit zu erkennen, die ihr Schicksal verändern kann. Sie ist Hausangestellte bei Mr. McCauley und seiner Enkelin Sabitha. Sabithas Mutter ist tot; der Vater, Ken Boudreau, erscheint als larmoyanter Looser, der immer wieder versucht, von seinem Schwiegervater Geld zu schnorren. Vater und Tochter wechseln uninspirierte Pflichtbriefe, bis eines Tages Sabithas Freundin Edith ein unappetitliches Täuschungsspiel vorschlägt. Die beiden halbwüchsigen Mädchen haben entdeckt, das Johanna Boudreau heimlich Nachrichten zukommen lässt. Die Haushälterin ahnt nicht, dass ihr jemand auf die Schliche gekommen ist, und schon gar nicht argwöhnt sie, dass die Mädchen auf Ediths Betreiben hin beginnen, Boudreaus Antworten zu fälschen. Die Gören gauckeln der Haushältern vor, dass Sabithas Vater eine Zuneigung zu ihr hege, die so weit geht, dass er sich vorstellen könne, sie zu heiraten. Beflügelt von der Aussicht, endlich Liebesglück zu finden, hintergeht Johanna ihren Dienstherrn und reist zu dem nichts ahnenden Boudreau. Sie findet ihn allein und krank in einem heruntergekommenen Hotelgebäude, das er beim Glücksspiel gewonnen hat. Sie pflegt ihn gesund und übernimmt die Führung des Hauses. Boudreau, willensschwach und dankbar zugleich, ergibt sich in Johannas Hände. Die beiden heiraten und bekommen ein Kind. Munro rückt diese Story in eine, wenngleich nahe, Vergangenheit. Damals, so scheint es, waren Männer noch echte Männer und Frauen passten noch in die gängigen Kategorien. „Der Stationsvorsteher liebte es, mit Frauen seine Späßchen zu machen, insbesondere mit den unscheinbaren, denen das auch zu gefallen schien“, heißt es in dieser Geschichte. Aber die genderbewusste Munro erzählt davon, dass sich hinter der vermeintlichen Konformität unberechenbare Weiblichkeit verbirgt. Johanna mag zwar unscheinbar sein und sicher trifft sie ihre Lebensentscheidungen auf der Grundlage falscher Tatsachen. Doch es gelingt ihr, den Lebenstraum einer glücklichen Ehe und Mutterschaft zu realisieren. Mit Johanna und Ken geraten zwei Menschen aneinander, die nicht füreinander bestimmt waren, zwei, die marginalisiert wurden. Doch gerade diese beiden schaffen es durch die Fügung des Schicksals und letztlich durch den Betrug der Mädchen, den Weg zurück, mitten hinein ins gesellschaftliche Gefüge zu finden. Edith und Sabitha, die Schulfreundinnen hingegen, die sich auf Kosten einer Arglosen amüsieren wollten, driften auseinander. Ihre Verbundenheit löst sich trotz des gemeinsamen Geheimnisses; sie können nichts mehr miteinander anfangen.

Alle Kurzgeschichten in Ferne Verabredungen thematisieren die Überwindung räumlicher Distanz. In der Bewegung von einem Ort zu einem entfernten anderen Ort entsteht die Dynamik dieser Kurzgeschichten Munros. Es ist das Moment der Veränderung, das durch die Bewegung im Raum ausgelöst wird. Irgendwann gibt irgendein Ereignis den Impuls – der irgendwann zu einer gravierenden Veränderung führt. Bei Munro erscheinen die Menschen dabei nicht eigentlich als Spielbälle des Schicksals. Sie zeigen sehr wohl Willensstärke, Überzeugung, Leidenschaft. Und doch gleiten sie durchs Leben, geraten zueinander oder trennen sich. Es geht ums Auftauchen und Verschwinden, ums Verlieren und Finden, und darum, dass das Leben ein langer ruhiger Fluss ist. Damit liegt über Munros Kurzgeschichten immer eine gewisse Melancholie.

The Dimensions of Shadow war Munros erster, 1950 veröffentlichter Text. Als Die Dimensionen eines Schattens wurde er dem deutschsprachigen Publikum im Jahr der Nobelpreisverleihung zugänglich und erscheint in der hier vorliegenden Anthologie Ferne Verabredungen erstmals in Buchform. Er dient quasi als Schlüsselloch in Munros Vergangenheit, platziert am Ende der Sammlung. Die weiteren sechs Kurzgeschichten stammen aus Family Furnishings: Selected Stories, 1995–2014, erschienen bei Alfred A. Knopf, New York 2014. Für die Übersetzung der Auswahl zeichnet Heidi Zerning verantwortlich, die Munros gesamtes Werk ins Deutsche übertragen hat. Zernings Arbeitsweise wirft ein Licht auf die Wirkung von Munros Texten: Denn die Berliner Amerikanistin liest Munros Erzählungen nicht, bevor sie sie übersetzt. Sie will die Spannung bewahren, die oft durch überraschende Wendungen entsteht. Spannung bewahren für sich und den Leser, dem sie nicht ungewollt zu viel verraten möchte. Eine irgendwie naive Neugier auf den Fortgang der Geschichten will sie sich erhalten, indem sie von einem Satz zum nächsten übersetzt: übrigens nicht am Computer, sondern mit Bleistift auf Papier. Die Auswahl der vorliegenden Anthologie steht für das literarische Können Munros – jenseits des zufälligen Gelingens. Der Superlativ aus dem Untertitel, die „schönsten Erzählungen“, dient allein vermeintlichen Marketingzwecken.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Alice Munro: Ferne Verabredungen. Die schönsten Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Manuela Reichart.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
440 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100024848

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch