Martin Luther, wie die Deutschen ihn sahen

Eine Bild-Text-Dokumentation zu fünf Jahrhunderten Luthererinnerung

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

500 Jahre Reformation… es scheint als wollte das Reformationsjubiläum kein Ende nehmen. Soviel Martin Luther war wohl nie?! Weit gefehlt: der Reformator hat sich über die Jahrhunderte hinweg eine erstaunliche Präsenz im kollektiven Gedächtnis der Deutschen bewahrt. Dieses komplexe historische Phänomen beleuchtet der Bild-Text-Band „Ketzer, Held und Prediger – Martin Luther im Gedächtnis der Deutschen“ anhand einer „kulturellen Bildersammlung“ vom 16. bis 21. Jahrhundert. Die historischen Luther-Memoria reichen dabei von Reformationsjubiläen, Lutherwirkstätten über Gemälde, Druckgrafiken, Plastiken, Filme, Werkausgaben bis hin zu Münzen, Briefmarken und Souveniren. Dabei sind die Abbildungen in Essays eines Teams renommierter Autoren eingebettet, die das Bildmaterial erläuternd kommentieren. Dass sich die Essays an der Chronologie der Jahrhunderte orientieren, hat rein pragmatische Gründe, denn sie gewährleistet eine rasche Orientierung in der Bilddokumentation.

Infolge der rasanten Verbreitung seiner 95 Thesen war der namenlose Wittenberger Theologe Martin Luther innerhalb kurzer Zeit zu einer öffentlichen Person geworden, die in Deutschland fast jedermann kannte. Dank des Buchdrucks verbreiteten sich seine Schriften und so erschien bereits zu Luthers Lebzeiten eine Gesamtausgabe seiner Werke. Der Reformationstag, der 31. Oktober, spielte allerdings, wie Herausgeber Marcel Nieden (Professor an der Universität Duisburg-Essen) in seinem Essay darlegt, im 16. Jahrhundert noch keine hervorgehobene Rolle. 1617 wurde dann in der lutherischen Reichsstadt Ulm das erst offizielle Jubiläumsfest der Reformation begangen. Während des Dreißigjährigen Krieges kam jedoch die künstlerische Entwicklung weitgehend zum Erliegen. Wie Wolfgang Sommer (Profossor an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau) zeigt, war das zeitgenössische Lutherverständnis im 17. Jahrhundert weiterhin von konfessioneller Polemik geprägt. Erst mit dem beginnenden Pietismus ist Luther nicht mehr der polemische Kämpfer, sondern der Verkünder des wahren, lebendigen Glaubens.

So stand die Luthererinnerung im 18. Jahrhundert im Zeichen von Aufklärung und Emanzipation. Luther wurde in der Bildpublizistik immer wieder als Lichtbringer und Lichtträger dargestellt. Albrecht Geck (Professor an der Universität Osnabrück) weist in seinem Essay daraufhin, dass in diesem Jahrhundert die Pflege des Verhältnisses von Kirche und Staat ein zentrales Anliegen war. Mit dem entstehenden Nationalismus im 19. Jahrhundert wurde auch die Reformation geschichtspolitisch beansprucht. Es entstanden zahllose bildliche Darstellungen (unter anderem von Adolph Menzel oder Ferdinand Pauwels) bis hin zur monumentalen Historienmalerei. Mit der Reichsgründung von 1871, so Tim Lorentzen (Professor an der Christian-Albrechts-Universität Kiel) wurde Luther geradezu zum „Erkennungszeichen reichsdeutscher Zuverlässigkeit“ und der Protestantismus zum „Kulturkampf“ hochstilisiert.

Das protestantisch dominierte Luther-Bild setzte sich im 20. Jahrhundert zunächst fort, doch mit dem Jahr 1917 kam es zu einem Bruch in der Luthererinnerung, denn der nationale Protestantismus war, wie Klaus Fitschen (Professor an der Universität Leipzig) anschaulich darlegt, im Krieg „als Geistes- und Herzensmacht total zusammengebrochen“. Während des Dritten Reiches erfolgte schließlich eine Vereinnahmung Luthers (vor allem seine späten Äußerungen gegen die Juden) durch die Nationalsozialisten, beispielsweise mit dem „Deutschen Luthertag“ zu Luthers Geburtstag am 10. November 1933. Nach dem Krieg wurde die Luther-Erinnerung zwar „entnationalisiert“, es blieb aber im Wesentlichen bei seiner Heroisierung. In beiden deutschen Staaten vollzog sich eine deutsch-deutsch geteilte Erinnerung an Luther, die besonders im „Lutherjahr 1983“ deutlich wurde. Nach der politischen Wende erreichte die Luther-Verehrung weitere „Höhepunkte“ von der Errichtung von Lutherwegen in Mitteldeutschland bis hin zum Luther-Reformations-Bier. Schließlich läutete 2008 die Lutherdekade das 500jährige Reformationsjubiläum ein, das sich nun seinem Ende neigt. Weit über 200 verschiedene Publikationen erschienen in den letzten Jahren, von historischen Darstellungen über Biografien bis hin zum Luther-Adventskalender. Da erhebt sich die Frage: Was bleibt? Eine Antwort wird die Zukunft bringen.

Der Bild-Text-Band bietet eine opulente Bilddokumentation zur Wahrnehmung und Aneignung Martin Luthers in der deutschen Erinnerungskultur seit dem Thesenanschlag von Wittenberg – vom deutschen Nationalhelden bis zur Vorbildfigur, wobei die extremen Deutungen von Monumentalisierung und Heroisierung sowie der Missbrauch von Luther-Memoria nicht ausgespart werden.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Marcel Nieden (Hg.): Ketzer, Held und Prediger. Martin Luther im Gedächtnis der Deutschen.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2017.
248 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783650401717

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