Parabel ohne Enden

Jakob Nolte verheddert sich in seinem zweiten Roman „Schreckliche Gewalten“

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es geht schon mal gut los: Wir schreiben das Jahr 1973. Die Norwegerin Hilma Honik verwandelt sich unversehens in einen Werwolf und zerreißt ihren Ehemann. Als sie dafür ins Gefängnis wandert, trennen sich ihre Kinder Edvard und Iselin. Edvard wandert in die Sowjetunion aus, genauer gesagt, nach Riga; später beschließt er, zu Fuß bis nach Afghanistan zu reisen. Iselin bleibt dagegen im heimischen Bergen und wird später zur Mitbegründerin der terroristischen Gruppe „Mädchen im System“.

Das ist aber nur die Basis für den wilden Cocktail, der Schreckliche Gewalten ist. Der 1988 geborene Jakob Nolte, der hier seinen Zweitling vorlegt, füllt sein Buch anscheinend mit allem, was ihm zwischen die Finger kommt – mit dem Radical Chic des 1970er Jahre-Terrorismus, Exkursen über das Avantgarde-Kino der Jahrhundertmitte, die Beschaffenheit von Kometen, das Wesen des BHs oder darüber, welche Figuren welche Unterwäsche tragen. Man spürt förmlich, wie die Ideen zwischen Noltes Fingern hervorsprühen: Immer, wenn man meint, man könne die nächsten Schritte der Geschichte Edvards und Iselins vorhersehen, nimmt die Erzählung die nächste unvorhergesehene Wendung. Manches, was zunächst zufällig und deplatziert scheint, ergibt im Laufe des Romans tatsächlich Sinn – etwa, wenn sich herausstellt, dass ihr Vater Gabriel Honik in Wirklichkeit kein Norweger, sondern ein desertierter Wehrmachtssoldat war, der den ersten Teil seiner Biografie verleugnete. Soll das heißen, sein Tod war durch seine Vergangenheit gerechtfertigt? Nolte lässt die Antwort dankbarerweise offen, statt gleich die Interpretation mitzuliefern.

Für seinen Mut und seinen Ideenreichtum kann man den Autor durchaus bewundern. Auf jeden Fall ist seine Prosa ein perfektes Antidot gegen die Nabelschauprosa der einfachen Hauptsätze, die man den Absolventen der Schreibschulen von Leipzig und Hildesheim so gern unterstellt. Keine Frage: Schreckliche Gewalten strahlt eine gewisse Faszination aus, und er erinnert nicht umsonst an die kontrafaktische Geschichtsschreibung in Inglorious Basterds und Thomas Pynchons furiosem Die Enden der Parabel, in dessen Erscheinungsjahr Noltes Roman spielt. Insofern ist es folgerichtig, dass das Buch auf der diesjährigen Longlist zum Deutschen Buchpreis landete.

Man sollte aber nicht verschweigen, dass das permanente Ideenfeuerwerk und das bisweilen affektierte Springen des Autors zwischen den sprachlichen Registern den Plot letztlich überwuchern; um im Bild zu bleiben, entsteht ein guter Cocktail auch nicht dadurch, dass man wahllos alle Flüssigkeiten zusammenschüttet, die gerade in der Hausbar herumstehen. Möglich, dass alle Elemente der Handlung symbolisch für irgendetwas stehen sollen, aber wofür eigentlich? Geht es hier um das postmoderne Spiel der Zeichen oder gibt es eine Botschaft, die bloß zufällig von Noltes Erfindungsreichtum an die Wand gedrückt wird? Schreckliche Gewalten möchte wohl gern das Gravity’s Rainbow der Gegenwart sein, aber dessen Dichte erreicht es dann leider doch nicht. Zu heterogen stehen die einzelnen Textabschnitte nebeneinander. Der Roman verläppert, versandet im Nichts. Jedenfalls der erste, weitaus längere Teil. Eine Hauptfigur stirbt einen rollengemäßen Tod, eine andere verwandelt sich derart, als hätte Nolte aus Ovids Metamorphosen abgeschrieben, aber den LeserInnen ist es längst egal. Die distanzierte Erzählhaltung des Textes trägt ihr Übriges dazu bei, dass man im Laufe der Zeit immer langsamer liest – das genaue Gegenteil des Mottos, das sich auch im Buch findet: Schnell lesen, langsam leben.

Ach ja: der zweite Teil handelt von einem Rudel Tüpfelhyänen in Afghanistan. Im Mittelpunkt steht wieder ein Geschwisterpaar, was wohl die Konstellationen des ersten Teils spiegeln soll. Am Ende sind alle tot. Schade.

Titelbild

Jakob Nolte: Schreckliche Gewalten. Roman.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
340 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957574008

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch