Ein Klassiker für die Bibliothek des Völkerkundemuseums?

Zu Aras Örens Lesebuch „Wir neuen Europäer“

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir neuen Europäer. Ist das, was Autor und Verlag unter diesem Titel präsentieren, nicht eine Irreführung der Behörden, eine Irreführung zumindest der Leserinnen und Leser? Denn in diesem „Lesebuch“ findet sich kein einziger Text, der explizit Stellung nimmt zu den aktuellen Vorgängen und Diskursen in und um Europa, eine Antwort gibt auf Statements von Hans Magnus Enzensberger, Robert Menasse oder Elfriede Jelinek zu Europa; stattdessen nur (nur?): Gedichte, Auszüge aus Romanen, Reden und Kurzgeschichten, nahezu allesamt aus den 1970er- und 1980er-Jahren, dazu, als jüngster Text, ein kleiner Ausschnitt aus der Vorlesung Eine Metropole ist kein Völkerkundemuseum (1999) und schließlich, in einer Faksimile-Version, noch ein türkischer Text zum Thema Auswanderung, ein kleines Typoskript, das offenbar 1965 in Ankara entstanden (und nach wie vor, im Gegensatz zu allen anderen Texten dieser Sammlung, nicht übersetzt) ist.

Aras Ören, 1939 in Istanbul geboren, seit 1969 in Berlin lebend, muss indessen nicht neuerlich aktualisieren, was er über Themen wie Weggehen und Ankommen und über das Sich-fremd-Fühlen in seinem neuen Domizil in Deutschland registriert und in seine literarischen Arbeiten eingetragen hat. Denn seine Texte sind keinem ideologischen Überbau verpflichtet, der, kaum errichtet, gleich schon verstaubt wirkt, sondern durchtränkt von Alltagspartikeln, die Schlüsselwörter wie „Fremde“ oder „Identität“ mit Signalwörtern wie „Zärtlichkeit“, „Liebe“, „Menschlichkeit“ und „Treue“ konfrontieren und dabei keineswegs allein die „Löwentürken“ oder die „Kümmeltürken“ ins Auge fassen.

Auch dort nicht, wo die Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg den Schauplatz abgibt. Die Texte sträuben sich häufig zu verraten, aus welcher Perspektive beziehungsweise aus welchen Perspektiven Sachverhalte und Figuren beobachtet und bewertet werden. Sie machen jedoch stets hartnäckig sichtbar, wo es um Recht und Unrecht geht, um Ungleich- und um Gleichbehandlung, um Unmenschlichkeit und Menschlichkeit. Akribische Darstellung ist dabei zentrales Charakteristikum; sie gilt den „aufgeplatzten Honigfeigen“ im Garten genauso wie der Geschichte der Liebesbeziehung zwischen Emine und Nejdet (aus Die Fremde ist auch ein Haus), die in einen Gedankenstrom mündet, der alle selbsternannten Autoritäten vom Sockel stößt: „Rache/ für alles,/ was ihr jahrelang/ in euch angestaut habt,/ was man euch zumutet,/ was ihr sein müsst und nicht sein wollt,/ was ihr feige unter euren/ gravitätischen Schnurrbärten verbergt“.

In diesen Gedichten und Geschichten ist oft die Rede von Träumen und Illusionen, von kollektiven Wertvorstellungen und zerrissenen Identitäten, auch von offenen Türen zur Welt der Halluzinationen. Wo immer aber das Miteinander der Kulturen, das Ideal der gegenseitigen Ergänzung der diversen Kulturen beschworen wird, bleibt gleichzeitig die Überheblichkeit im Blick, die auf allen Seiten blüht und dafür sorgt, dass die „neuen Europäer“ auch im 21. Jahrhundert an vielen Ecken und Enden weit mehr Scherben vorfinden als Brücken.

Von Brüssel ist in diesen Texten nie die Rede, aber sie liefern bedrückende Impressionen vom Sich-Festklammern an alten Gewohnheiten wie an alten Feindbildern und vom Stolz auf die eigene Verbohrtheit, vorzugsweise in allen Fragen der Sexualität oder auch des Selbstschutzes. Aras Ören wird in seinen Texten – auch in den Gedichten, die alles andere als hermetisch-dunkel sind – unmissverständlich deutlich, wo er das für angemessen hält. Gleichwohl, allein dem Vieldeutigen, dem Geheimnisvollen, der Kraft der Poesie (wie sie etwa im Märchen vom Hyazinthen-Gärtner zum Vorschein kommt) gehört am Ende seine ganze Sympathie.

In diesem neuen Lesebuch, schreibt Friederike Fahrenhorst im Nachwort (das die Auswahlkriterien dieser Anthologie übrigens nicht weiter aufdeckt), erweise sich eine „Universalität“, die den literarischen Arbeiten von Aras Ören „zeitlosen Bestand verleiht“. Das steht wohl dahin. Zurzeit sind diese Arbeiten nämlich immer noch brandaktuell.

Titelbild

Aras Ören: Wir neuen Europäer. Ein Lesebuch.
Herausgegeben von Friederike Fahrenhorst. Mit Illustrationen von Wolfgang Neumann.
Verbrecher Verlag, Berlin 2017.
260 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783957321916

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