Ein Außenseiter, der Weltliteratur schrieb

Michael Opitz hat die erste umfassende Arbeit zu Leben, Werk und Bedeutung Wolfgang Hilbigs vorgelegt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wolfgang Hilbig (1941–2007) ist eine singuläre Erscheinung in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einer der sprachmächtigsten Autoren seiner Zeit, versuchte der Staat, in dem der im heute thüringischen Meuselwitz Geborene groß wurde, die DDR, alles, damit Hilbigs Texte keine Adressaten fanden. In Berufen wie Abräumer, Montagehelfer oder Heizer eigentlich der von der Einheitspartei und ihrer auf dem „Bitterfelder Weg“ ins kommunistische Paradies aufgebrochenen Kulturpolitik permanent geforderte, ideale „Arbeiterdichter“, war seine illusionslose Beschreibung des Lebens dieser Klasse unter realsozialistischen Bedingungen nicht akzeptabel für jene, die sich die Wirklichkeit, über die sie bis 1989 herrschten, nach ihren eigenen, lebensfremden Maßgaben schönredeten.

Mit Michael Opitzʼ Hilbig-Biografie wurde nun zum ersten Mal der Versuch unternommen, Leben, Werk und Bedeutung des Georg-Büchner-Preisträgers von 2002 einer Gesamtschau zu unterziehen. Denn obwohl die Sekundärliteratur zum Werk dieses Autors inzwischen auf eine stattliche Bibliothek angewachsen ist – in der es auch an biografisch orientierten Annäherungen wie dem 2014 im Transit Buchverlag erschienenen  Erinnerungensbuch (Erinnerung an Wolfgang Hilbig) der ersten Hilbig-Lebensgefährtin und Mutter seiner Tochter Constanze, Margret Franzlik, oder dem von Birgit Dahlke 2011 im Wehrhahn Verlag herausgebrachten schmalen Bändchen Wolfgang Hilbig nicht fehlt –, gab es doch bis dato keine Arbeit, die sich der Mühe unterzog, den riesigen Berg an Unveröffentlichtem zu sichten.

Das hat Opitz nun mit großem Gewinn für sich und die Leser seiner Biografie getan. Er hat Freunde, Kollegen und Lebensgefährtinnen des Dichters um Einblicke in ihre Briefwechsel mit Hilbig gebeten, sich in die neun Aktenordner, die das Ministerium für Staatssicherheit im Laufe von mehr als zweieinhalb Jahrzehnten über den ungeliebten Autor füllte, vertieft und den in 46 Archivkästen bei der Akademie der Künste gesammelten Dichternachlass – eine wahre Fundgrube für alle an Hilbigs Werk Interessierten – gesichtet.

Herausgekommen ist das Porträt eines Mannes, für den Leben und Schreiben bis zu seinem Tod am 2. Juni 2007 immer eins waren: eines Unangepassten in jeder Hinsicht. Denn Hilbig war nicht nur ein Außenseiter in seiner Familie – den Vater, der als Soldat in Hitlers Heer 1943 bei Stalingrad als vermisst gemeldet wurde, hat er nicht bewusst erlebt, der des Lesens unkundige Großvater und die Mutter, Verkäuferin und Sachbearbeiterin in Hilbigs Heimatort Meuselwitz, standen seiner Schreibsucht stets kritisch gegenüber –, sondern auch in seiner Beziehung zur Literatur des Landes, in dem er aufwuchs und bis zum November 1985 lebte.

Auf eine einzige eigenständige Publikation, den auf Betreiben Franz Fühmanns 1983 im Leipziger Reclam Verlag erschienenen Band Stimme Stimme, brachte er es bis zum Ende des „Arbeiter- und Bauernstaats“. Da lagen im S. Fischer Verlag aber bereits zwei Gedichtbändchen, drei Bände mit Erzählungen und der Roman Eine Übertragung (1989) vor. Hilbig also kurzerhand dem Komplex „DDR-Literatur“ zuzuordnen, lässt sich deshalb nur dann rechtfertigen, wenn man bedenkt, dass das Schreiben dieses Autors immer an die Landschaft seines Herkommens und an Selbsterlebtes gebunden blieb und sich die Schauplätze seiner Texte – vorwiegend Meuselwitz, Leipzig und Berlin – deshalb vor allem im Osten Deutschlands finden.

Von den sechs Teilen, in die Opitz sein Buch untergliedert hat – jeder einzelne von ihnen zerfällt noch einmal in fünf Unterkapitel, sämtliche Abschnitte sind mit Zitaten aus Hilbigs Werken überschrieben –, sind die ersten drei insofern am interessantesten, da in ihnen die Genese des Dichters Hilbig nachvollzogen wird. Dessen „eigentliche Werkphase“, stellt der Biograf fest, beginnt im Jahr 1965, in dem Moment also, in dem verstärkt Gegenwartsthemen in Hilbigs Texte Einzug halten und er sich auf radikale Weise von einem Großteil des früher Geschriebenen trennt.

Zu schreiben angefangen hatte Hilbig, als er die Volksschule „Erich Mäder“ in Meuselwitz bis zur 8. Klasse (1948–1956) besuchte. Mit Westerngeschichten, inspiriert durch die bei Jugendlichen beliebten Reihen Buffalo Bill oder Tom Brack, der Grenzreiter, versuchte der durch seine schulischen Leistungen nicht besonders auffallende 13-/14-Jährige sein Renommee bei den Mitschülern aufzubessern. Diesen Fantasieprodukten freilich den Rang einer eigenständige Phase in der Genese von Hilbigs Werk zuzugestehen, wie Opitz das tut, scheint doch etwas übertrieben. In den späten 1950er-/ frühen 1960er Jahren entstanden dann unter dem Einfluss von Novalis und E.T.A. Hoffmann Erzählungen in romantischer Manier. Erhalten ist von all dem nur noch Weniges, da Hilbig den überwiegenden Teil des vor der Zäsur Mitte der 60er Jahre zu Papier Gebrachten später vernichtet hat – manches davon wohl nicht ganz zu Unrecht, wie Opitz nebenbei vermerkt.

Daran, dass das seit 1979 veröffentlichte Werk des Dichters samt den noch ungehobenen Schätzen des umfangreichen Hilbig-Nachlasses – darunter auch Tagebücher, die allerdings nicht durchgängig geführt wurden – von weltliterarischer Bedeutsamkeit ist, lässt der 1953 in Berlin geborene und als Literaturwissenschaftler und -kritiker, Herausgeber und Gastdozent arbeitende Autor der Biografie keinen Zweifel. Wie gut er das vorliegende Werk des von ihm Porträtierten kennt, machen (manchmal vielleicht etwas zu) umfangreiche Passagen deutlich, in denen er einzelnen Motiven, Themen, Bildern und Figuren nachgeht, die in Wolfgang Hilbigs Texten immer wieder auftauchen, dessen Sprachgebrauch genauen Analysen unterzieht und seinen poetischen Ansatz, der Literatur als in Sprache übersetzte, erlebte Realität begriff, in seiner Genese nachverfolgt.

Überraschend für zwar mit Hilbigs Texten, nicht aber mit dessen Leben vertraute Leser dürfte sein, mit welchem Mut sich dieser zum Dichter berufen fühlende Mann allen Hindernissen entgegenstellte, die ihn von seinem einmal gewählten Weg abzubringen versuchten. Dazu gehört auch der in der literarischen Landschaft der DDR einmalige Schritt des mit seinen Manuskripten immer wieder abgelehnten Autors, die Literaturzeitschrift NDL (Neue deutsche Literatur) in einem Leserbrief um die Veröffentlichung einer Annonce zu bitten, in der er um „nur ernstgemeinte Zuschriften“ von Verlagshäusern, die bereit wären, seine Texte zu veröffentlichen, bat. Der Brief erschien zu einem Zeitpunkt (Juli 1968), zu dem Hilbig längst ins Visier der Staatssicherheit geraten war – zuerst als widerspenstiger Soldat im Grundwehrdienst der Nationalen Volksarmee (NVA), später als Ausnahmeerscheinung in sogenannten „Zirkeln schreibender Arbeiter“, wo sein Talent zwar erkannt, aber aufgrund dessen, wie er sich über die Welt der Klasse, der er entstammte und der er sich nach wie vor zugehörig fühlte, schrieb, nicht gefördert wurde. Die „Aufmerksamkeit“ der Stasi begleitete ihn von da an bis zu seiner Ausreise aus der DDR im Jahr 1985 und darüber hinaus, was ihn freilich nicht daran hinderte, in außerordentlich offenen und seine Art zu schreiben verteidigenden  Briefen an die politische Führung und an Kulturverantwortliche in Verlagen, Parteigremien und der Regierung heranzutreten sowie aktiv den Kontakt zu Verlagen im westlichen Teil Deutschlands zu suchen.

Auch wenn es mit der öffentlichen Anerkennung Hilbigs nach der deutschen Wiedervereinigung steil bergauf ging – was sich allein an den Ehrungen ermessen lässt, die dem immer öffentlichkeitsscheuen Dichter seit dem Ingeborg-Bachmann-Preis von 1989 zuteil wurden, auch wenn die sich in den Verkaufszahlen seiner Bücher kaum widerspiegelten –, blieb Hilbig in den 17 Jahren, die er im wiedervereinigten Deutschland noch zu leben hatte, weiterhin ein Unbequemer. Ablesen lässt sich das am besten an seinem wohl autobiografischsten Roman Das Provisorium (2000). Obwohl die Welt dem Dichter nach dem Fall der Mauer offenstand, war das Geschichtenreservoir, das die Landschaften seiner frühen Jahre in ihm hinterlassen hatten, offensichtlich so groß, dass er an den Themen, die sich durch sein Werk ziehen wie ein roter Faden, bis zum Schluss festhielt. Das macht die eigentliche Geschlossenheit seines poetischen Universums aus, in dem immer auch das Unsichtbare, Verschüttete, Unterirdische, von der Gegenwart überdeckte Tragische der deutschen Geschichte eine wichtige Rolle spielte.

Wenige Irrtümer (Ingo Schulze ist nicht, wie von Opitz behauptet, in Altenburg aufgewachsen, sondern in Dresden, und kam in die nahe Meuselwitz liegende ehemalige Residenzstadt erst in den 1980er Jahren), Vergleiche, die auf Hilbig nicht so recht passen wollen (etwa der des jungen Autors mit dem sich seine Bibliothek selbst erschreibenden Schulmeister Maria Wutz aus Auenthal von Jean Paul), gelegentliche Redundanzen und ein häufig zu ausgiebiges Zitieren aus Hilbigs Werken schmälern nicht die Leistung, die Michael Opitz mit seiner Biografie erbracht hat. Nach ihrer Lektüre weiß man jedenfalls nicht nur viel besser über das Leben dieses Mannes Bescheid, einer Kaspar-Hauser-Figur, die sich von nichts und niemandem vereinnahmen ließ, sondern schaut auch mit geschärften Blicken auf die Texte, die er hinterließ, und freut sich auf das, was da noch kommen könnte, wenn sich kundige Menschen nach der in diesem Jahr ihren Abschluss findenden siebenbändigen Werkausgabe im S. Fischer Verlag dem dichterischen Nachlass Wolfgang Hilbigs zuwenden würden.

Titelbild

Michael Opitz: Wolfgang Hilbig. Eine Biographie.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
663 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783100576071

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