Erfrischende Miniaturen

Martin Thomas Pesl unternimmt im „Buch der Tiere“ „100 animalische Streifzüge durch die Weltliteratur“

Von Anja BeisiegelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Beisiegel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was hat das Buch Genesis mit Heimito von Doderers Strudlhofstiege gemeinsam? Richtig, sowohl im biblischen Schöpfungsmythos als auch in der Strudlhofstiege spielt eine Schlange eine mehr (oder weniger) tragende Rolle. Ob es sich bei der Kreatur in von Doderers Buch um eine Ringelnatter oder eine Blindschleiche (und somit eine beinlose Eidechse) handelt, sei dahingestellt.

Martin Thomas Pesl nimmt es in seinem Buch der Tiere nicht allzu genau mit der zoologischen Systematik. So findet sich Melvilles Moby Dick (der ja bekannterweise ein Wal und somit der Klasse der Säugetiere zugehörig ist) in einer Reihe mit Günther Grassʼ Butt im Kapitel „Die Schwimmenden und Tauchenden“ wieder – übrigens neben dem Krokodil aus James Matthew Barries Peter Pan und Peter Benchleys Weißem Hai.

Die Sortierung, die Pesl vornimmt, ist so erfrischend anarchistisch, dass man ihm und seinem Buch gerne alle faunistische Unordnung verzeiht. Bereits mit seinem Buch der Schurken (2016) bürstete der Autor die Weltliteratur gegen den Strich, um eine recht subjektive Sicht auf die antiheldischen Protagonisten der Literaturgeschichte freizulegen. Im Buch der Tiere geht er ähnlich vor: Er unternimmt 100 animalische Streifzüge durch die Weltliteratur, was einem unterhaltsamen (und gleichzeitig lehrreichen) Spaziergang durch einen artenreichen Tierpark sehr nahekommt. Nach eigenen Angaben beginnt Pesl seine Recherche im eigenen Bücherregal und setzt sie fort mit einem umfassenden „Crowdsourcing“ im Freundeskreis (Wer kennt – außer Black Beauty – noch weitere tierische Helden?). Pesls Fazit zum Thema literarische Tiere: „Es. Gibt. So. Viele!“

Tatsächlich sah sich der Autor angesichts der großen Anzahl animalischer Helden und Antihelden gezwungen, für sein Buch eine strenge Auswahl zu treffen und das Überangebot an literarischen Helden auf ganze 100 zusammenzustreichen. Keine einfache Aufgabe, doch Pesl löst sie mit seiner so individuellen wie bunten Auswahl scheinbar mühelos.

Dabei geht er nicht literaturwissenschaftlich an die Sache heran, sondern eher wie ein moderner Zoodirektor: Anstelle von Gehegen entwirft er zwölf Kapitel, in denen er Tiere mit gewissen Gemeinsamkeiten unterbringt. „Die Grunzenden und Säugenden“ zum Beispiel, oder auch „Die Wiehernden und Schreienden“. Etwaige literaturwissenschaftliche Gliederungskriterien – historische oder auch gattungsspezifische – werden in dieser kuriosen zoologischen Systematik außen vor gelassen, was dem ganzen Projekt jedoch keinerlei Abbruch tut.

Im Gegenteil: Es ist erfrischend zu lesen, wie Pesl – hier im Kapitel „Pferd und Esel“ – die große Weltliteratur (Homer, Apuleius, Cervantes, Kleist und Orwell) mit Kleinem Onkel konfrontiert, dem Apfelschimmel von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf.

Bei aller scheinbaren Leichtigkeit was die Auswahl der zu untersuchenden literarischen Spezies betrifft, sollte man Pesls animalische Streifzüge nicht unterschätzen. Er schreibt zu jedem der 100 Tiere eine kleine, kluge und gut recherchierte Miniatur. Man erfährt etwas über das Werk, den Autor, das jeweilige Tier. Die kleinen Artikel machen Lust darauf, die besprochenen Tiere in ihrem angestammten Lebensraum (das heißt in den jeweiligen literarischen Werken) zu besuchen (oder längst bekannte Tiere in längst bekannten Büchern einmal wieder aufzusuchen). Pesls charmante und humorvolle Verführung zum Lesen (und Wiederlesen) wird durch 100 Illustrationen von Kristof Kepler auch zu einem optischen Vergnügen.

Einen ganz persönlichen Kritikpunkt zum Schluss: Bei der Belegung des Kapitels für „Die Kläffenden und Winselnden und Knurrenden“ hat der Autor eine empfindliche Lücke gelassen: Bauschan, der rührende Jagdhund-Mischling des Mann’schen Idylls Herr und Hund fehlt. Ein schwer verzeihliches Manko.

Titelbild

Martin Thomas Pesl: Das Buch der Tiere. 100 animalische Streifzüge durch die Weltliteratur.
Mit Illustrationen von Kristof Kepler.
Edition Atelier, Wien 2017.
244 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783903005327

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