Der entfesselte Prometheus

Günter Peters‘ umfassende Arbeit am Mythos

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Prometheus ist der Gott der Künstler. Und der Philosophen. Sagt der Chemnitzer Literaturwissenschaftler Günter Peters. Er muss es wissen. Sein Buch Prometheus. Modelle eines Mythos zieht die Summe aus jahrelangen Forschungen. Es ist ein Grundlagen- und Standardwerk über einen Mythos mit einer wahrlich sagenhaften Wirkungsgeschichte.

Rezeption mit Haken

Die „Arbeit am Mythos“ (Hans Blumenberg) bringt es mit sich, dass die Rezeption der Quellen immer neue Quellen der Rezeption erschafft. In den vier Portaltexten des Mythos kommt es zu unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Auslegungen. Der Titanensohn ist ein Trickster (bei Hesiod), ein tragischer Held (bei Aischylos), ein Protosophist wider Willen und ein selbstkritischer Vordenker des guten Lebens (bei Platon) oder eine lächerliche Figur (bei Aristophanes). Erst Lukian versöhnt dann wieder philosophischen Diskurs und Komödie in einem satirischen Lese-Dialog. Prometheus wird vor ein Gericht zitiert, was ihm die Gelegenheit gibt, seine eigene Verhandlung zu inszenieren.

Dann wird es still um den Helden, er verschwindet fast 2.000 Jahre aus der Prosa, taucht in der Frühneuzeit auf (Calderón) und in der Aufklärung (Voltaire), bis er dann bei Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang Goethe, vorbereitet durch Shaftesbury, eine grandiose Wiederauferstehung als Demiurg erlebt. 1816 wird das Adjektiv „prometheically“ geboren, 1838/40 eröffnet Gustav Schwab seine Schönsten Sagen des klassischen Altertums mit der Prometheusgeschichte. Die europäische Romantik (Mary Shelley, Lord Byron und andere) und die letzte Jahrhundertmitte (André Gide übersetzt 1949 Goethes Prometheus-Drama) sind die letzten Höhepunkte der Mythosrezeption.

Feuerraub und Menschenbildung

Peters macht klar, dass es kein einheitliches Masternarrativ gibt. Im antiken Mythos ist die wichtigste Tat des Prometheus der Feuerraub. Er bringt den Menschen aber auch Schrift, Heilkunst, Baukunst, Schifffahrt und andere Kulturkünste. Aufgrund eines Betruges (oder weil er Athene nachgestellt hat, die Quellen sind sich da nicht einig) wird er an den Kaukasus geschmiedet, wo ihm ein Adler täglich seine Leber wegfrisst, die ihm nachts wieder anwächst. Von Herakles gerettet, entkommt Prometheus, behält aber (das ist der Triumph der Götter) einen eisernen Ring mit einem Stein an der Hand. Ovid hingegen betont das demiurgische Moment des Menschenbildners, das auch für Goethe wichtig war. Prometheus erfindet also die Menschen – und er erfindet ihnen die Künste. So wird er zu einer ambivalenten Figur: unfromm und gerecht, klug und frevelhaft, „nach oben aufsässig und standfest, nach unten leutselig und strapazierfähig“ (Blumenberg).

Verlorene „Herdanziehungskraft“

In der modernen Deutung der Geschichte hat der Feuerraub seine Bedeutung verloren. Der Aufstand gegen den Olymp ist entfrevelt, das titanische Patent bekommt eine soziale Dimension, deren humorvolle Seite schon Aristophanes benannt hat, der in seiner Komödie Die Vögel über die "Herdanziehungskraft" (M. Kindling) des Feuers spottet: „O ja, sie backen Fisch an deinem Feuer“. Kein Wunder, dass in der Mediengeschichte (Peters illustriert das an der Produktwerbung) das prometheische Element elektrifiziert wird: das Feuer fließt als Strom durch Kabel, die Moderne will nicht mehr hoch hinaus, sondern in die Weite des globalen Dorfs. Doch der Mythos behält seinen Stachel. Was aus dem entfesselten Prometheus wird, wenn er befreit wird, ist eine der pfiffigsten Fragen. Franz Kafka lässt den Titanensohn mit dem Felsen verschmelzen, seine Taten werden vergessen, Götter und Adler werden müde. Sarah Kirsch macht aus dem Rebellenmythos eine Dulder- und Liebesgeschichte: Der an den Felsen Gekettete „[l]iebte den Folterer dichtete Tugend ihm an“ und hält „in alle Ewigkeit“ mittags „Ausschau nach seinem Beschatter“. Prometheus ist hier (das Gedicht erschien 1984 in dem Band Katzenleben und trägt den Titel „Die Verdammung“) auch eine Spiegelfigur jener Künstler unter den Fittichen der Stasi, die Erfinder, Opfer und Komplizen der Kriegslisten waren wie ihr Vorfahr bei Aristophanes.

Und der Film?

Auf nur drei Seiten geht Günter Peters auf die vielfachen Verfilmungen des Frankenstein-Stoffes ein. Der mad scientist Dr. Victor Frankenstein ist wohl die berühmteste Prometheusfigur in Literatur und Film. Mary Shelleys Schauerroman von 1818 mit dem Untertitel Der moderne Prometheus erzählt seine Geschichte: das Schicksal des Schöpfers, der von seinem eigenen monströsen Geschöpf überwältigt wird – einer der Gründe, warum Frankenstein manchmal mit seiner Figur, dem Monster, verwechselt wird. In James Whales Film aus dem Jahr 1931 ist der künstliche Körper – effektvoll präpariert von dem Darsteller, Boris Karloff, mit Flachschädel und schwarzumrandeten Augen – wichtiger als sein prometheischer Schöpfer, dessen Triumph zu wissen, was es heiße, wie Gott zu sein, bald in blankes Entsetzen umschlägt.

Ridley Scotts Film Prometheus (2012) – der von Peters nicht erwähnt wird – erzählt von der Suche der Menschen nach ihrem Ursprung. Scotts Prometheus ist ein Android, der die Frage, warum ein Schöpfer die Menschen geschaffen hat, ganz lapidar bescheidet: „Weil er es kann.“ Diese Denkfabel handelt von der Zukunft von Moral und Religion. Bezeichnenderweise ist die einzige Überlebende aus der „Prometheus“-Crew die Wissenschaftlerin Elizabeth Shaw, die sich bei der Suche nach ihrem Schöpfer nicht davon abhalten lässt, ein Kreuz um ihren Hals zu tragen.

Günter Petersʼ Studie ist ein weitblickendes und umsichtiges, ein brillantes Resümee der Rezeptionsgeschichte.

Titelbild

Günter Peters: Prometheus. Modelle eines Mythos in der europäischen Literatur.
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2016.
580 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783958321038

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