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Über die Lust und Unlust am Text

Zu Elfriede Jelineks "Lust"

Thomas Anz

Gegen Ende seiner "Einführung in die Literaturtheorie", die man heute jedem angehenden oder fortgeschrittenen Literaturwissenschaftler empfehlen kann, schreibt der in Oxford lehrende Terry Eagleton: "Die Freudsche Theorie betrachtet, ob zu Recht oder zu Unrecht, die grundlegenden Motive allen menschlichen Verhaltens als Schmerzvermeidung und Lustgewinn: sie stellt eine Form dessen dar, was in der Philosophie als Hedonismus bekannt ist. Der Grund, warum die große Mehrheit aller Leute Gedichte, Romane und Stücke lesen, liegt darin, daß sie sie vergnüglich finden. Diese Tatsache ist so offensichtlich, daß sie an Universitäten kaum jemals erwähnt wird."1 Eagleton, der sich so nachdrücklich wie kaum ein anderer für eine psychoanalytisch inspirierte "Theorie des Vergnügens" einsetzt, vermutet mit guten Gründen, "daß eine Aussage darüber, warum jemand an bestimmten Wort-Arrangements Freude hat, sehr viel eher möglich ist, als die konventionelle Literaturtheorie glaubt." Und er schließt daran die Erwartung an: "möglicher Weise kann durch ein umfassenderes Verständnis der Lust und Unlust, die Leser aus der Literatur beziehen, ein bescheidenes, aber bedeutsames Licht auf einige drückendere Probleme des Glücks und Unglücks geworfen werden."2

Mit Eagleton und gegen eine weithin lustlose Literaturwissenschaft, die über die Lust an Literatur kaum Aussagen zu machen bereit oder fähig ist, plädiere ich für die Ausarbeitung einer literaturwissenschaftlichen Hedonistik, einer Forschung über Arten, Gründe und Bedingungen der Lust und Unlust, des Vergnügens und Mißvergnügens an Literatur.3

Elfriede Jelineks "Lust" in einer solchen Forschungspespektive zu lesen und zu analysieren, legt schon der Titel nahe. Doch zugleich scheint dieser Text, indem er die mit dem Titel evozierten Erwartungen programmatisch enttäuscht, ein denkbar ungeeignetes Beispiel für Aussagen über Lust an Literatur zu sein. Denn das Buch ist, so zumindest hat die Autorin berichtet, aus dem gescheiterten Projekt hervorgegangen, als Gegenstück zu George Batailles "Geschichte des Auges" ein Stück weibliche Pornographie zu schreiben, also einen Text, mit und in dem die Frau (als Autorin, literarische Figur oder auch Leserin) Subjekt statt Objekt sexueller Lust ist. Die Übermacht einer männlichen Sprache der Pornographie hat zum Scheitern des ursprünglichen Projekts geführt und es zu einem anderen verschoben: zum Projekt der Destruktion pornographischer Sprach- und Bildmuster und der sie begleitenden Ideologeme durch deren verfremdende Imitation und Zitation. Sowohl mit dem alten als auch mit dem gewandelten Projekt steht Jelineks "Lust" im Kontext der neueren Debatten über männliche und weibliche Pornographie. Sie tragen der schon von Freud formulierten, für eine literaturwissenschaftliche Hedonistik grundlegenden Einsicht Rechnung, daß die Wünsche, die die literarische Phantasietätigkeit in Bewegung setzen, "verschieden je nach Geschlecht, Charakter und Lebensverhältnissen"4 sind. Was beispielsweise Luce Irigaray über die Geschlechterdifferenz sexueller und damit auch pornographischer Lust ausgeführt hat, liest sich wie ein Kommentar zu Jelineks Text: "In der Pornographie kommen frauenspezifische Sehnsüchte nicht vor." Oder: "Pornographie wirkt oft als Gottesdienst für den Phallus."5 Schon vor diesen Äußerungen in einem erhellenden Interview für den 1978 erschienenen Band "Les femmes, la pornographie, l'erotisme" schrieb sie in "Das Geschlecht, das nicht eins ist" (1976): "Die in der Pornographie eingesetzten Lusttechniken sind - zumindest bisher? - der Lust der Frauen kaum zweckdienlich. Der Erektions- und Ergußzwang, die übermäßige Bedeutung, die der Größe des Glieds beigemessen wird, die genormte Dürftigkeit der Gesten, der auf eine nach Löchern unterteilte Fläche reduzierte Körper sowie Gewalt und Vergewaltigung zwingen die Lust eventuell herbei - Frauen sind da begabt - nur was für eine Lust?"6

Die pornographische Stimulation sexueller Lust schlägt bei Jelineks antipornographischem Roman in die Stimulation sexueller Unlust um. Jenseits geschlechterspezifischer Lektüren dieses Buches besteht darin weitgehende Übereinstimmung: Jelineks "Lust" ist, so der Kritiker Volker Hage, "ein Buch, das jedenfalls eines provoziert und provozieren will: Unlust".7 Das Buch "will ungenießbar sein!" So die Kritikerin Hannelore Schlaffer.8 Und die Literaturwissenschaftlerin Marlies Janz konstatiert darüber hinaus, daß Jelineks Erzählform "die Lektüre von Lust fast so 'ungenießbar' macht wie die Art von 'Lust', von der die Prosa handelt."9 Daß der ironische Titel sich nicht nur auf sexuelle Lust, sondern auch auf die Lust der Lektüre beziehen läßt, legt nicht nur manche Rezension, sondern der Roman selbst nahe. Denn unter den vielfältigen Verwendungen des Wortes "Lust" findet sich auch folgende, die die Leselust infrage stellt: "Haben Sie noch immer Lust zu lesen und zu leben?"(S. 170)10

Daß der Titel diesen unaufhörlich mit der Vieldeutigkeit von Wörtern spielenden Roman auch in die Kontexte ästhetischer Theorien rückt, ist bislang jedoch kaum gesehen worden. Wie schon Kants Kritik der Urteilskraft, die das "Gefühl der Lust und der Unlust" zur Basis aller ästhetischen Urteile erklärt, beginnt Adornos Ästhetische Theorie, in der Auseinandersetzung mit Kant und Freud, mit Reflexionen über Lust. Und Roland Barthes, dessen ideologiekritisches Programm der Mythendestruktion Jelineks literarische Verfahrensweisen nachweislich geprägt hat11 , rückte diese schon mit dem Titel der Fragmente über Die Lust am Text12 ins Zentrum seiner Ästhetik. Vor dem Hintergrund dieser ästhetischen Schriften gelesen, radikalisiert Jelineks Weigerung einzulösen, was der Titel ihres Romans an Lustversprechungen enthält, die Abwertung profaner Lüste, die von Kant, Adorno und auch Barthes zugunsten sublimerer Formen der Lust vorgenommen wurden.

Kants Abwertung des bloß sinnlichen Vergnügens, das dem "interesselosen Wohlgefallen" entgegengesetzt ist, kehrt bei Adorno in Sätzen wieder, die typisch für die Vorbehalte der ästhetischen Moderne gegenüber populären Arten des Kunstgenusses sind: "Wer Kunstwerke konkretistisch genießt, ist ein Banause; Worte wie Ohrenschmaus überführen ihn."13 Lust wird bei Adorno zu einem pejorativen Begriff, wenn er mit dem Konsum von Genußmitteln assoziiert ist. Der ästhetische Hedonismus diskreditiert sich nach Adorno insofern, als er hineinpaßt in eine genußfixierte Gesellschaft: "Ist schon die Kunst für den Betrieb der Selbsterhaltung unnütz - ganz verzeiht ihr das die bürgerliche Gesellschaft niemals - soll sie sich wenigstens durch eine Art Gebrauchswert bewähren, der der sensuellen Lust nachgebildet ward."14 In der Aversion und im Verweigerungsgestus gegenüber einer durch und durch sexualisierten und genußfixierten Konsumgesellschaft und Kulturindustrie steht die Autorin von "Lust" den antihedonistischen Tendenzen von Adornos Kulturkritik nahe.

Es gibt jedoch in der Perspektive Adornos (und wohl auch Jelineks) andere, höher bewertete Lüste, die sich von den Konsumgewohnheiten der Masse abheben: zum Beispiel die Lust am gesellschaftlich verdrängten Leid, am Negativen, am Dissonanten, die von hochwertigen Kunstwerken insofern ermöglicht wird, als sie die Erfahrung vermitteln, schlechten gesellschaftlichen Verhältnissen Widerstand entgegensetzen zu können. "Glück an den Kunstwerken" ist in diesem Fall "das Gefühl des Standhaltens, das sie vermitteln."15 Adorno beruft sich hier auf Kants "Lehre vom Erhabenen" und damit auf jene Theorie, die wie keine andere das paradoxe Zusammenspiel von Erfahrungen der Unlust und der Lust in der Konfrontation mit dem Schrecklichen zu erklären bemüht war. An der erhabenen Lust des Subjekts, sich gegenüber dem, was es zu überwältigen droht, behaupten zu können, scheint mir auch noch Jelineks Versuch zu partizipieren, der männlichen Übermacht des pornographischen Diskurses, wenn sie schon keinen Gegendiskurs zuläßt, wenigsten in literarischen Akten der Demontage standzuhalten.

Der provozierenden und strapaziösen Unlust, die dieser Text stimuliert, stehen durchaus etliche entschädigende Lustangebote gegenüber, ohne die ihn wohl keiner zuende lesen würde. Daß der Wechsel und die Mischung von Unlust und Lust überhaupt für die Lektüre literarischer Texte konstitutiv sind, entspricht einer Tradition anthropologischen Wissen, an die auch Freud anknüpfte. Lust ist ohne vorangehende oder gleichzeitige Unlust nicht zu haben. Nach Freud ist die Lust der Phantasietätigkeit aus unlustvollen Mangelerfahrungen des Phantasierenden geboren. Auch wenn nach Freuds "Lustprinzip" alle psychischen Aktivitäten, so auch die des Lesens, das Ziel haben, Unlust zu vermeiden und Lust zu verschaffen, ist die literarische Stimulation von Lust auf die von Unlust angewiesen. Das Phänomen der Spannung, die "unerträglich" werden, doch geradezu süchtig genossen werden kann, ist dafür nur ein Beispiel.16 Es ist jedoch aufschlußreich für die Ökonomie menschlicher Lust- und Glücksgefühle, wie sie Freud in Das Unbehagen in der Kultur beschrieben hat: Glück ist "seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, daß wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig. Somit sind unsere Glücksmöglichkeiten schon durch unsere Konstitution beschränkt."17 Künstlich und kalkuliert stimulieren literarische Texte Unlust und damit zugleich das Begehren nach Lust. Bei Jelinek ist freilich die Stimulation von Unlust so weit getrieben, daß viele Leser und Leserinnen sich davon überfordert zeigen. "Niemand lernt schließlich zu lesen ohne zu leiden." (S. 150) Dieser Satz im Roman kann auch auf dessen Lektüre übertragen werden. Durch welche Lustangebote der Text das von ihm stimulierte Maß an Unlust dennoch potentiell oder faktisch auszugleichen vermag, scheint mir eine sinnvolle Fragestellung zu sein, ohne deren Beantwortung im Dunkeln bleibt, warum eine als unlustvoll erfahrene Lektüre nicht abgebrochen wird.18 Zu ihrer Beantwortung könnten empirische Rezeptionsanalysen durchaus beitragen, doch auch Antwortversuche jenseits empirisch (etwa durch Befragungen) gewonnener Daten über faktische Rezeptionsprozesse bewegen sich nicht schon im Bereich purer Spekulation. Der geübte Rekurs auf eigene Lektüreerfahrungen oder auf einige grundlegende, erfahrungsgesättigte, von anderen geteilte Annahmen über bestimmte Lustpotentiale von Texten und deren Übertragung auf einen bestimmten Text, sind durchaus legitime wissenschaftliche Verfahrensweisen. In jedem Fall jedoch kann eine literaturwissenschaftliche Lusttheorie und -forschung nicht von den realen Subjekten absehen, die Literatur hervorbringen oder rezipieren, in diesem Fall also von Elfriede Jelinek sowie ihren potentiellen oder realen Leserinnen und Lesern.19

Wenn ich mich im folgenden auf Überlegungen zur Lust der Leser und nicht auf die Lust der Autorin konzentriere, entspricht das neueren Entwicklungen der psychoanalytischen Literaturwissenschaft, in der die "Ansätze zu einer psychoanalytischen Rezeptionstheorie"20 gegenüber einer autorbezogenen Psychoanalyse zunehmendes Gewicht erhalten. Die Lust im Schreibprozeß und die im Leseprozeß korrespondieren nur zum Teil. Was jedenfalls Jelinek (im Rückgriff wohl auch auf psychoanalytisches Wissen) selbst über die eigene, narzißtische Lust beim Schreiben ausgeführt hat, ist auf den Leser kaum zu übertragen. Und es betrifft nicht speziell diesen Text, sondern ihren Schreibprozeß generell: "Ich habe immer wieder, nicht nur bei diesem Text, während des Schreibens fast orgasmusähnliche Gefühle - nicht koitale, aber fast onanistische Visionen. Nicht so sehr die Beschreibung bestimmter Szenen war mit Lustgefühlen verbunden, sondern allein die Macht, die man im Schreibvorgang ausübt, ist bei mir immer schon sehr stark mit Lust besetzt, einhergehend mit Wirklichkeitsverlust. Auf eine starke, mystische, transzendentale Art erlebe ich gleichzeitig eine Ich-Vergrößerung und einen Ich-Verlust."21 Die Lusterfahrungen, die ihr Text bei der Lektüre evozieren kann, dürften andersgeartet sein. Um sie näher zu beschreiben, scheint es mir wichtig, ein weiteres Postulat einer literaturwissenschaftlichen Hedonistik zu formulieren: Der Begriff "Lust" ist nicht auf libidinöse Lust einzuengen. Es gibt auch Lüste des Ich und solche des Über-Ich. Aus den Reflexionen Kants, Schillers oder Adornos, gerade aber auch Freuds ist zu lernen, daß es ganz unterschiedliche Arten der Lust an Literatur gibt. Eine Theorie der Lust an Literatur sollte sie in ihrer Pluralität wahrnehmen und beschreiben; sie sollte zeigen, wie sie sich ergänzen, sich gegenseitig verstärken oder auch unterlaufen. Wenn, so sagte Freud 1907 in seinem immer noch höchst anregenden, von psychoanalytischer Orthodoxie denkbar fernen Vortrag Der Dichter und das Phantasieren, wenn "der Dichter uns seine Spiele vorspielt [...], so empfinden wir hohe, wahrscheinlich aus vielen Quellen zusammenfließende Lust."22 In seiner Schrift über den Witz zitiert er aus der Vorschule der Ästhetik Gustav Theodor Fechners, in der die Begriffe "Lust" und "Unlust" von zentraler Bedeutung sind: "Aus dem widerspruchsvollen Zusammentreffen von Lustbedingungen, die für sich wenig leisten, geht ein größeres, oft viel größeres Lustresultat hervor, als dem Lustwerte der einzelnen Bedingungen für sich entspricht, ein größeres, als daß es als Summe der Einzelwirkungen erklärt werden könnte; ja es kann selbst durch ein Zusammentreffen dieser Art ein positives Lustergebnis erzielt, die Schwelle der Lust überstiegen werden, wo die einzelnen Faktoren zu schwach dazu sind; nur daß sie vergleichungsweise mit anderen einen Vorteil der Wohlgefälligkeit spürbar werden lassen müssen."23

Welche Bedingungen sind es, die zwar nur vereint bei der Lektüre von Jelineks "Lust" ein "positives Lustergebnis" hervorzubringen vermögen, die jedoch in analytischer Absicht durchaus getrennt voneinander beschrieben werden können?

Jelineks Karikatur des pornographischen Erzählens mag zwar bei einigen Lesern sadomasochistische Lüste stimulieren oder bei anderen jene moralische Abwehr evozieren, die auch die nicht karikierte Pornographie vielfach auslöst, vor allem aber kommt diese wie jede andere Form von Pornographiekritik moralischen Bedürfnissen entgegen. Daß es auch eine "moralische Lust" gibt, eine Art lustvollen Triumpf des Über-Ichs, das sich in der Lektüre bestätigt findet, hatte schon Schiller in seiner die Literaturwissenschaft mit ihren Fragestellungen noch heute herausfordernden Schrift Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen gesehen. Lustvoll ist jedenfalls die Befriedigung, eigene normative und kognitive Einstellungen in der Lektüre eines Textes bestätigt oder bestärkt zu sehen, in diesem Fall eine Kombination von patriarchats-, kapitalismus- und allgemeinen kulturkritischenkritischen Positionen.

Wer wie etliche Kritiker und Interpreten mit offensichtlicher Genugtuung in diesem Text die gegenwärtige Realität von Macht- und Geschlechterbeziehungen adäquat widergespiegelt findet, wird freilich dem Text nur sehr begrenzt gerecht und schöpft die von ihm angebotenen Lustquellen nur unzureichend aus. Denn Jelineks Lust ist keine mimetischer Text in dem Sinne, daß hier ökonomische und soziale Realität abgebildet wird. Lust bezieht sich weniger auf Realitäten als auf andere Texte und deren Realitätskonstruktionen. Mit ihnen wird auf unterschiedliche Weise gespielt, und es ist dieses intertextuelle Spiel, mit dem die Autorin potentiellen Mitspielern, den Leserinnen und Lesern, diverse Lustangebote macht.

Jelineks Lust ist ein Konglomerat von Anspielungen und kryptischen Zitaten, das den detektivischen Spürsinn geeigneter Mitspieler herausfordert. Die damit angebotenen Lustquellen erschließen sich freilich zum großen Teil nur besonders kompetenten Lesern, die ihre literarische Kompetenz im Erkennen der zahlreichen intertextuellen Bezüge denn auch beweisen und genießen können. Es ist dies eine Lust ihres Ich am Funktionieren des angeeigneten Wissens und des Gedächtnisses. Schon der Einband, so wurde erkannt, enthält mit Anleihen an die Umschlaggestaltung, wie sie in den sechziger Jahren für Arno Schmidt gemacht wurden, eine literarische Anspielung.24 Der Titel spielt wohl auf d'Annunzios 1889, also wohl kaum zufällig hundert Jahre vor Jelineks Text erschienen Roman Lust an, "der schon in Clara S. verwendet und in den Zusammenhang eines faschistoiden Sexismus gestellt ist."25 Wer das nicht erfaßt und wer gleich im ersten Absatz des Romans die Anspielungen auf Hölderlins Gedicht Das nächste Beste nicht erkennt26 , hat als lesender Mitspieler schon fast verloren, insofern für ihn die betreffenden Passagen nahezu unverständlich bleiben und er dadurch bereits um die Lustangebote des Textes gebracht wird. Leichter zu erkennen sind die zahllosen Anspielungen auf geläufige Redewendungen. Zum Beispiel auf die, 'das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden'. Diese Forderung hatte Horaz in einer berühmten Formulierung an die Dichtkunst gestellt. Jelinek zitiert sie in entstellter Form, wenn es heißt, der von Männern geheiligte Sport verbinde "das Unnütze mit dem Unangenehmen" (S. 92). Oft fordern die Anspielungen in ihrer Häufung und Dichte einen hohen Grad an Aufmerksamkeit: "Seine Verbindung ist nicht schlagend ein Beweis für sich selbst, aber was sich nicht schlägt, das neckt sich." (S. 90) Die "schlagende Verbindung" und der "schlagende Beweis" werden hier kombiniert, und "schlägt" ersetzt dann auch noch das "liebt" in der hier entstellten Redensart "Was sich liebt, das neckt sich."

"Modifikation bekannter Redensarten, Anspielung auf Zitate" rechnet Freud in seiner Schrift Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten zu jenen Techniken des Witzes, denen gemeinsam ist, "daß jedesmal etwas Bekanntes wiedergefunden wird [...]. Dieses Wiederfinden des Bekannten ist lustvoll, und es kann uns wiederum nicht schwer fallen, solche Lust als Ersparungslust zu erkennen, auf die Ersparung an psychischem Aufwand zu beziehen." (S. 114)27 "Ersparungslust" oder mit Lust verbundene "Aufwandsersparnis" sind zentrale, jedoch von der psychoanalytischen Literaturwissenschaft und wohl überhaupt von der Freud-Forschung weithin ignorierte Begriffe in Freuds Witz-Schrift, die ein fundamentales Erklärungsmuster, einen geradezu universalen Beschreibungsschlüssel für die Entstehung von Unlust- und Lustgefühlen anbieten. Hinter ihnen steht die Vorstellung, daß Lust dann empfunden wird, wenn ein anstrengender, dauerhaft geleisteter Aufwand an psychische Energie mehr oder weniger plötzlich "überflüssig" bzw. "gespart" wird, z.B. der Aufwand an logischer Denk- und sprachlich korrekter Formulierungsarbeit, der Aufwand zur Unterdrückung verbotener Wünsche oder der belastende "Affektaufwand" etwa des Mitleids, der Angst und der Scham. Welche Art von Aufwand beim "Wiederfinden des Bekannten" lustvoll erspart wird, hat Freud nicht genauer ausgeführt, doch hat er wohl den kognitiven Aufwand, den jede strukturierende Wahrnehmung von etwas Neuem und Unbekanntem erfordert, im Blick.

Das intertextuelle Verweisspiel, das bei Jelinek extrem ausgeprägt ist, evoziert beim Leser potentiell etwas von jener Freude am Wiedererkennen, die schon Aristoteles zur Grundlage des Kunstgenusses erklärt hatte. Auch auf ihn beruft sich Freud, wenn er schreibt: "Daß das Wiederfinden des Bekannten, das 'Wiedererkennen' lustvoll ist, scheint allgemein zugestanden zu werden." (S. 115) Und er zitiert in diesem Zusammenhang mehrfach eine Schrift von C. Groos mit dem Titel Die Spiele der Menschen, in der es heißt: "Das Wiedererkennen ist nun überall, wo es nicht allzu sehr mechanisiert ist [...], mit Lustgefühlen verbunden. [...] wenn so der Akt des Wiedererkennens lusterregend ist, so werden wir erwarten dürfen, daß der Mensch darauf verfällt, diese Fähigkeit um ihrer selbst willen zu üben, also spielend mit ihr zu experimentieren."28 Jelineks sprachexperimentelles Spiel mit Wiedererkennungseffekten im Leser macht es diesem allerdings nicht gerade leicht, zumal die intertextuellen Bezüge nicht nur einzeln, sondern auch in ihrer Vernetzung und gemeinsamen Funktion erkannt werden wollen. Dieses Spiel ist so dicht, komplex und zu weiten Teilen auch kryptisch, daß der Konzentrations-, Gedächtnis- oder sogar Forschungsaufwand, den es vom mitspielenden Leser fordert, den Rekurs auf Freuds These von der lustvollen Aufwandsersparnis nicht recht angemessen erscheinen läßt. Zum konstitutiven Merkmal vieler Spiele gehört es indes, daß dem mit ihm verbundenen Lustgewinn künstliche Schwierigkeiten entgegengestellt werden.29 Nach Groos gibt es, wie Freud referiert, "Spiele, deren Charakter darin besteht, die Freude am Wiedererkennen dadurch steigern, daß man demselben Hindernisse in den Weg legt, also eine 'psychische Stauung' herbeiführt, die mit dem Akt des Erkennens beseitigt ist." (S. 115) Ob man wie Groos die mit dem Akt des Erkennens verbundene Lust als Lust an der Macht, Schwierigkeiten überwinden zu können, oder wie Freud als "Erleichterung des psychischen Aufwands" ansieht, der vom Spiel in Gang gesetzte "Stauungsmechanismus" dient jedenfalls dazu, den Lustbetrag nach dessen Überwindung in die Höhe zu treiben.

Die Lust am Wiedererkennen ist freilich nur ein Teilaspekt eines weit umfassenderen Lust-Spiels, das Jelineks poetische Verfahrensweisen inszenieren. Viele davon lassen sich mit Begriffen von Freuds Schrift über den Witz angemessen beschreiben. Daß Freud zudem die Beschreibung dieser Techniken stets mit Reflexionen über deren lustvermittelnde Funktionen verbindet, macht seine Schrift für das von mir hier in Ansätzen exemplarisch auf Jelineks "Lust" bezogene Projekt einer literaturwisenschaftlichen Hedonistik so attraktiv.

Freud analysiert beispielsweise sehr ausführlich, welche Technik und welche Art von Lust einer witzigen Formulierung Heines mit folgendem Wortlaut zugrunde liegt: "er [Rothschild] behandelte mich ganz wie seinesgleichen, ganz famillionär".30 Die Analyse läßt sich ohne weiteres übertragen auf manche der vielen Wortspiele in Jelineks Text. Eines davon steht in dem Nebensatz: "[...] ohne das getobt oder lärmentiert würde."(S. 74) Wie bei "famillionär" liegt bei "lärmentiert" ein, so Freud, "sprachlicher Verdichtungsvorgang mit Ersatzbildung durch ein Mischwort" (S. 23) vor. "Gelärmt" und "lamentiert" werden zu "lärmentiert" verdichtet. Ein anderer Satz verdichtet den "Betrieb", in dem gearbeit wird, und den "Geschlechtstrieb" zu dem Mischwort "Geschlechtsbetrieb": "Wie die in ihren Geschlechtsbetrieben nach Arbeitsschluß noch herumfuhrwerken!" (S. 243) Der lustvolle Effekt basiert in beiden Fällen nach Freuds Erklärungsmuster auf der überraschenden Ersparung von Formulierungsaufwand.

Viele Sätze und Passagen in Jelineks "Lust" haben den Charakter von Witzen, die freilich nicht abrupt enden, sondern weitergeführt und in neue überführt werden. "Die meisten Männer kennen die Biographie ihres Autos besser als die Autobiographie ihrer Frauen. Was, bei Ihnen ist das umgekehrt? Sie kennen sich selbst so gut wie die einfache Person, die Sie täglich runderneuert? Als Lebensabdecker Ihre alten Gummis wegräumt? Dann können Sie sich glücklich setzen!" (S. 88) Alle literarischen Verfahrensweisen, die Jelinek hier verwendet, hat Freud als Techniken des Witzes beschrieben: die Umordnung des gleichen sprachlichen Materials ("Auto" und "Biographie"), die doppelsinnige Verwendung von Wörtern (u.a. "Gummi" als Material von Autoreifen und als Kondom; "runderneuert" in reifentechnischem und in sexuellem Sinn) oder die Verdichtung durch lautliche Modifikation ("glücklich setzen" modifiziert "glücklich schätzen").

Bei den Witzen mit Wortspielen besteht nach Freud "die Technik darin, unsere psychische Einstellung auf den Wortklang anstatt auf den Sinn des Wortes zu richten". Das entspricht der Neigung des Kindes, "hinter gleichem oder ähnlichem Wortlaut gleichen Sinn zu suchen, die zur Quelle vieler von den Erwachsenen belachter Irrtümer wird. Wenn es uns dann im Witz ein unverkennbares Vergnügen bereitet, durch den Gebrauch des nämlichen Wortes oder eines ihm ähnlichen aus dem einen Vorstellungskreis in einen anderen, entfernten zu gelangen [...], so ist dies Vergnügen wohl mit Recht auf die Ersparung an psychischem Aufwand zurückzuführen. Die Witzeslust aus solchem `Kurzschluß' scheint auch umso größer zu sein, je fremder die beiden durch das gleiche Wort in Verbindung gebrachten Vorstellungskreise einander sind, je weiter ab sie von einander liegen, je größer also die Ersparung an Gedankenweg durch das technische Mittel des Witzes ausfällt. Merken wir übrigens an, daß sich der Witz hier eines Mittels der Verknüpfung bedient, welches vom ernsthaften Denken verworfen und sorgfältig vermieden wird." (S. 113f.)

Permanent stimuliert Jelinek durch Verwendung lautlich gleicher oder äquivalente Wörter zur Assoziation semantisch heterogener Bereiche. So ist wird z.B. die Einengung der Frau durch den Haushalt (Abwaschen des Geschirrs) und der Zwang, der ihrer Natur (gleich einem an den Wagen angespannten Pferd ) durch den Mann angetan wird, durch die doppelsinnige Verwendung des Wortes "Geschirr" verbunden: "Sie läuft frei, ohne Leine. Das ungewaschene Geschirr ist ihr vom Kopf abgestreift. Jetzt hört sie es nicht mehr, das vertrauliche Klirren und Klingen der Schellen an ihrem Zaumzeug." (S. 83) Auf ähnliche Weise werden im gesamten Text die "Vorstellungskreise" der Sexualität, der Technik, der Wirtschaft, der Kultur, des Essens, des Sports, der Religion oder der Kunst miteinander kurzgeschlossen.

Auf die sowohl ökonomische als auch sexuelle Vormacht des Ehemanns verweist etwa das Wortspiel: "Der Direktor sorgt für den Warenkorb und ist Hahn im Korb." (S. 92) Erotische und zugleich technische Energie sind in der Formulierung angesprochen: In der Frau sind "kernlose Werke in Kraft getreten worden." (S. 116) Durch den Doppelsinn von des Verbs "kosten" und dessen lautliche Nähe zu "kosen" werden die Vorstellungskreise von Erotik, Kulinarik und Ökonomie assoziiert, wenn von "Wesen" die Rede ist, die "miteinander gekost und einiges gekostet haben." (S. 113) Die von Jelinek immer wieder hergestellte Verbindung von männlichen Objektbeziehungen zur Frau und zum Auto mit sprachlich minimalen Aufwand, wenn die sexuellen Aktivitäten des Mannes als "heftige Kolbenstöße" (S. 110) bezeichnet werden oder wenn die Autorin ihn wünschen läßt: "Sie soll ihn einmal in aller Ruhe vollzapfen lassen! Super!" (S. 156) Daß viele Wortspiele Jelineks einer populärpsychoanalytischen Gewitztheit entsprechen, insofern sie einzelnen Wörtern oder Vorstellungskomplexen eine sexuelle Zweitbedeutung zuschreiben und diese dadurch mit witzigen Effekten doppeldeutig machen bzw. ihre Mehrdeutigkeit bewußtmachen (wenn z.B. dem Autotank vaginale, dem Einfüllstutzen phallische Bedeutung zugewiesen wird), sei hier nur angemerkt. Die Psychoanalyse hat den wortspielerischen Witz, den die untersucht, zum Teil selbst gefördert, und Autoren wie Arno Schmidt oder eben auch Elfriede Jelinek haben sich davon anregen lassen.

Die Gründe des Vergnügens an witzigen Gegenständen sind freilich mit Freuds Hinweis auf die lustvolle Ersparung von Formulierungsaufwand durch überraschende sprachliche Verdichtungen noch unzureichend erfaßt. Die Lust am Witz oder an Witzelementen ist aus mehreren, unterschiedlichen Lustkomponenten zusammengesetzt. Eine davon ist nach Freud die spielerische "Lust am Unsinn", die sich dem "dem Drucke der kritischen Vernunft" widersetze. Sie profitiert vom "Reiz des von der Vernunft verbotenen". (S. 119) Unsinnige Wortspiele, die sich den Aufwand sinnvollen Denkens und Formulierens sparen und dadurch Lust freisetzen, nennt Freud eine "erste Vorstufe des Witzes" (S. 121). Diese Lust ist freilich erkauft mit der Unlust des rationalen Ich, das sein Verlangen nach Sinnkohärenz nicht befriedigt findet. Der "Scherz", den Freud als zweite Vorstufe des Witzes einschätzt, und der "harmlose Witz" bieten da eine Art Kompromißlösung: "es gilt nun den Lustgewinn des Spieles durchzusetzen und dabei doch den Einspruch der Kritik, der das Lustgefühl nicht aufkommen ließe, zum Schweigen zu bringen. Zu diesem Ziele führt nur ein einziger Weg. Die sinnlose Zusammenstellung von Worten oder die widersinnige Anreihung von Gedanken muß doch einen Sinn haben. Die ganze Kunst der Witzarbeit wird aufgeboten, um solche Worte und solche Gedankenkonstellationen aufzufinden, bei denen diese Bedingung erfüllt ist." (S. 122) Die so beschriebene Witzarbeit läßt sich als "dekonstruktiv" in dem Sinne bezeichnen, daß einerseits gewöhnliche, von einem Teil des Subjekts als zwanghaft empfundene Formen der Sinnkonstruktion lustvoll destruiert, andererseits Sinn auf überraschend neue, den Bedürfnissen des Ich entsprechende Weise konstruiert wird. Versieht der Scherz den spielerischen Unsinn lediglich mit einem nicht besonders gehaltvollen, aber zumindest für das Ich akzeptablen Sinn, so befriedigt der harmlose Witz die Bedürnisse des Ich mit der Neuschöpfung eines substantielleren Sinns mehr.

Zwischen scherzhaften und harmlosem Witzelementen sind viele Wortspiele in Jelineks "Lust" angesiedelt. Die für das Ich nicht mehr akzeptable Grenze zum puren Unsinn überschreiten sie selten, ihr Sinn im Unsinn geht freilich in seiner Substanz über den von bloßen Kalauern oft kaum hinaus, wenn etwa die lautlich fast identischen, doch semantisch unzusammenhängenden Wörter "Sekte" und "Sekt" zu der Aussage verbunden werden, daß ein "Herr von der Sekte der Genießer mit Sekt gegen Ihre Tür klopft" (S. 157), oder wenn in der Wiederholung des Wortstammes "heim" und der Suffixkombination "lichkeit" auf folgende Weise gespielt wird: "die Frau kann es einem schon heimelig machen, bevor sie es einem durch Heimlichkeiten oder Anhänglichkeit heimzahlt." (S. 106)

"Die Psychogenese des Witzes hat uns belehrt", so Freud, "daß die Lust des Witzes aus dem Spiel mit Worten oder aus der Entfesselung des Unsinns stammt und daß der Sinn des Witzes nur dazu bestimmt ist, diese Lust gegen die Aufhebung durch die Kritik zu schützen." (S. 124) Man mag gegen Freud einwenden, daß die Neuschöpfung von Sinn aus dem spielerischen Unsinn nicht bloß die lustvolle Befreiung aus den Fesseln der symbolischen Ordnung gegen die Einsprüche des Ich absichert, sondern daß sie dem Ich selbst einen ihm gemäßen Lustgewinn verschafft. Der Einwand tangiert jedoch nicht die weitergehende These Freuds, daß die durch die Witztechniken freigesetzte Lust wie generell der "ästhetische Lustgewinn" vielfach nur eine Art "Vorlust" ist, die, wie er wenige Jahre später in dem Vortrag "Der Dichter und das Phantasieren" formulierte, "die Entbindung größerer Lust aus tiefer reichenden psychischen Quellen" ermöglicht.

Die Witztechniken und die durch sie vermittelte Vorlust schaffen nach Freuds lusttheoretischer Konstruktion die Bedingung zur Überwindung von Hemmungen, die der Entbindung größerer Lüste entgegenstehen. Insbesondere sexuelle und aggressive "Tendenzen" im Seelenleben sind es, deren Unterdrückung durch die Witztechniken aufgehoben werden kann und deren Freisetzung mit Lust verbunden ist. Freud nennt diejenigen Witze "tendenziös", die im Dienste unterdrückter Wünsche stehen, underunterscheidetdabei zwischen dem obszönen, dem aggressiven und dem zynischen Witz. Wenn die Witzelemente in Jelineks "Lust" nicht bloß scherzhaft oder harmlos sind, sondern eine "Tendenz" haben, dann dominiert in ihnen nicht etwa die obszöne, sondern die aggressive. Sie richtet sich gegen den Mann, den Herren in Familie, Wirtschaft und Gesellschaft (der witzig sprechende Vorname des Fabrikdirektors und Ehemanns verdichtet diese Tendenz noch einmal; er heißt Hermann), gegen die Macht des Patriarchats, gegen die symbolische Ordnung, gegen die trivialen und hochliterarischen Mythen, die diese Macht stabil halten, und gegen den obszönen Diskurs, in dem sich sexuelle Gewalt artikuliert.

Die Figuren in Jelineks "Lust" haben nichts zu lachen; die Leser des Textes durchaus. Daß die Lachlust, die Jelineks "Lust" bei den Lesern auszulösen intendiert, kaum erkannt wurde31 , mag Gründe haben, die zum einen an Qualitäten des Textes liegen, zum anderen an Bedingungen seiner Rezeption. In vielen Passagen des Textes ist die witzige Intention zwar deutlich erkennbar, ihre literarische Umsetzung jedoch kaum geglückt. Die Techniken des Witzes, der auf Kürze angelegt ist, erschöpfen sich in der permanenten Wiederholung. Und manches, was da als witzig offeriert wird, überschreitet nicht das Niveau harmloser Kalauer oder, nur mit umgekehrter Tendenz und Stereotypenbildung, das von Männerwitzen über Frauen. Was die literaturkritische und literaturwissenschaftliche Jelinek-Rezeption angeht, so war sie in ihrer die Autorin hochschätzenden Ernsthaftigkeit vielleicht noch zu stark von jener Art Feminismus geprägt, die Marianne Schuller unlängst aus einer anderen feministischen Perspektive so beschrieben hat: "In weiten Kreisen des Feminismus hierzulande herrrscht ein spezifischer Ernst. Er bestimmt die tonangebenden feministischen Diskurse ebenso wie den feministischen Habitus. Vorwurfsvoll heruntergezogene Mundwinkel, in denen eine Spur von Selbstgerechtigkeit nistet, sind seine Erkennungszeichen. Man könnte in vieler Hinsicht geradezu von einem Lachverbot im Feminismus reden."32 Mit dem im Anschluß an Bachtin artikulierten "Wunsch nach Karnevalisierung des feministischen Habitus und der feministischen Diskurse" wendet sich Schuller gegen Traditionen einer "bürgerlich-patriarchalen Kultur", in der "den Frauen das Lachen verboten" war, ablesbar etwa an Benimm-Büchern des 19. Jahrhunderts, nach denen Frauen lächeln, aber nicht lachen durften, oder an der Mode des Korsetts, das die heftige Körperreaktion des Lachens unterband. Die andere, unbotmäßige, der Körperlichkeit lustvoll nachgebende, die symbolische Ordnung unterlaufende, die Machtspiele durchkreuzende Sprache des Lachens, die Schuller den Tendenzen des "'feministischen' Leidenstyps zu Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit"33 engegensetzt, das ist die Sprache, die Jelinek in "Lust" zu sprechen und mit der sie das Versprechen des Titels doch auch einzulösen versucht.

Der Aufsatz erschien zuerst in: In: Methoden in der Diskussion. Freiburger literaturpsychologische Gespräche Bd. 15. Hg. von J. Cremerius u.a. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996. S. 195-210.

1 Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart 1988. S. 183f.

2 Ebd., S. 185.

3 Thomas Anz: Über die Lust an Literatur und die Lustlosigkeit der Literaturwissenschaft. In: Neue Rundschau 106 (1995), H. 2, S.133-148.

4 Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren

5 Marie-Francoise Hans/ Gilles Lapouge (Hg.): Die Frauen. Pornographie und Erotik. Frankfurt a.M. 1990; Zitate hier S. 31, 33

6 Zitiert ebd., S. 20.

7 Die Zeit, 7.4.89.

8 Stuttgarter Zeitung, 16.6.89.

9 Marlies Janz: Elfriede Jelinek. Stuttgart 1995, S. 122.

10 Seitenangaben in Klammern beziehen sich hier und im folgenden auf Elfriede Jelinek: Lust. Reinbek bei Hamburg 1989.

11 Vgl. Janz, a.a.O., S. 9ff.

12 Roland Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt a.M. 1974.

13 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1970, S. 26f.

14 Ebd., S. 28.

15 Ebd., S. 31.

16 Vgl. schon Thomas Anz: Spannung durch Trennung. Über die literarische Stimulation von Unlust und Lust. In: Freiburger literaturpsychologische Gespräche Bd. 13. Trennungen. Hg. v. Johannes Cremerius u.a. Würzburg 1994, S. 17-33.

17 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Studienausgabe Bd. 9: Fragen der Gesellschaft/ Ursprünge der Religion. Frankfurt a.M. 1975, S. 208.

18 Von "Berufslesern", die gelegentlich Texte zu lesen gezwungen sind, die sie sonst nicht lesen würden, sehe ich einmal ab.

19 In seinem Vergleich zwischen Kant und Freud benennt Adorno eine beiden gemeinsame Voraussetzung, die heute jener Literaturwissenschaft fehlt, die sich ausdrücklich nur mit Texten und nicht mit denen, die sie schreiben oder lesen, befaßt und schon deshalb keine Aussagen über die Lust an Literatur machen kann: "Für beide [Kant wie Freud] ist das Kunstwerk eigentlich nur in Beziehung auf den, der es betrachtet oder der es hervorbringt. [...] Kein Wohlgefallen ohne Lebendige, denen das Objekt gefiele". ( Adorno, a.a.O., S. 24.)

20 So eine Kapitelüberschrift in Walter Schönau: Einführung in die psychonalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart 1991, S. 37ff.

21 Jelinek im Gespräch mit Sigrid Löffler in: Profil, 28.3.1989.

22 Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren. In: Studienausgabe Bd. 10: Bildende Kunst und Literatur. Frankfurt a.M. 1969, S. 179.

23 Zitiert nach Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. In: Studienausgabe Bd. 4: Psychologische Schriften. Frankfurt a.M. 1970, S. 127f. Vgl. Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Ästhetik. 3. Aufl. Leipzig 1925 (Nachdruck Hildesheim, New York 1978), S. 51.

24 Vgl. Anna Weber: Sandmann und Olimpia. Annäherungen an "Lust". In: taz, 8.4.1989. Nachdruck in Kurt Bartsch, Günther A. Höfler (Hg.): Elfriede Jelinek. Graz, Wien 1991, S.228-234.

25 Janz, a.a.O., S. 111f.

26 Vgl. die gründliche Analyse des Erzählanfangs in Jutta Schlich: Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur. Am Beispiel von Elfriede Jelineks "Lust" (1989). Tübingen 1994, S. 226ff.; zu den Anspielungen auf Hölderlin S. 253ff.

27 Seitenangaben nach Freud-Zitaten beziehen sich hier und im folgenden auf Freud: Der Witz, a.a.O.

28 Zitiert in Freud: Der Witz, a.a.O., S. 115, aus C. Groos: Die Spiele der Menschen. Jena 1899, S. 153.

29 Vgl. etwa Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Frankfurt a.M. u.a. 1982, S. 36ff.

30 Zitiert in Freud: Der Witz, a.a.O., S. 20. Zur Analyse s. S. 20ff.

31 Vgl. jedoch u.a. Günther A. Höfler: Sexualität und Macht in Elfriede Jelineks Prosa. In: Modern Austrian Literature 23 (1990), S. 99-110; hier S. 100f.- Yasmin Hoffmann: "Hier lacht sich die Sprache selbst aus".In: Bartsch, Höfler (Hg.), a.a.O., S.41-55.- Zum Teil angelehnt an beide Beiträge Annette Doll: Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek. Eine Untersuchung ihrer literarischen Intentionen. Stuttgart 1994. S. 152ff. Hier steht der Satz: "Als Gegenstände dieses Spiels, das Jelinek für Ihre ästhetischen Dekonstruktionen nutzt, haben Ihre Figuren nichts zu lachen; umsomehr dafür die den Prozeß erkennenden Leser und Leserinnen". (S. 153)

32 Marianne Schuller: Wenn's im Feminismus lachte ... in: M.Sch.: Im Unterschied. Lesen/Korrespondieren/ Adressieren. Frankfurt/Main 1990. S. 199-209; Zitat S. 199.

33 ebd., S. 208.

 

 

Ins Netz gestellt am 8. Oktober 2004

 



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