Fast eine Heimat

Marcel Reich-Ranicki und die Gruppe 47 – Einleitung mit Literaturhinweisen

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Im Herbst 1958 wurde Marcel Reich-Ranicki, der wenige Monate vorher aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt war, von Hans Werner Richter zur Jahrestagung der Gruppe 47 in Großholzleute im Allgäu eingeladen. Am 15. November erschien in der Münchner Zeitschrift „Die Kultur“ sein Bericht dazu – der erste einer kontinuierlichen Serie, die bis hin zur vorläufig letzten Tagung im Oktober 1967 und zu einem zehn Jahre später inszenierten „Abschiedstreffen“ reichte. Die Zugehörigkeit zur Gruppe 47 wurde ein markanter Bestandteil von Reich-Ranickis Profil als Literaturkritiker. Und die in der Gruppe kultivierte Form der mündlichen Diskussion über Literatur mit ihren Spielregeln prägte ihn bei seinen frühen Auftritten im Rundfunk als Moderator der Sendung „Das literarische Kaffeehaus“, von 1977 bis 1986 noch deutlicher in seiner Rolle beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis und von 1988 bis 2001 seine Präsenz im Fernsehen als Protagonist im „Literarischen Quartett“.

Die Bedeutung der Gruppe für Reich-Ranicki lässt sich nicht zuletzt an seiner Autobiographie „Mein Leben“ ablesen, und hier nicht nur in dem Kapitel „Die ,Gruppe 47‘ und ihre First Lady“, das auf den letzten Seiten von Ingeborg Bachmann handelt. Einen entsprechend breiten Raum nimmt die Gruppe 47 in Uwe Wittstocks Biographie über ihn ein. Als Hans Werner Richter 1959 die Einladung an ihn zum nächsten Gruppen-Treffen wiederholte, sah Reich-Ranicki sich von der Gruppe akzeptiert und in sie integriert. Richters Brief mit der Einladung „überraschte“ ihn, er fühlte sich „beeindruckt, beinahe beglückt“. Bei der Tagung im Jahr davor „kümmerte sich niemand um mich. Die meisten Teilnehmer (…) waren miteinander beschäftigt. An einem Besucher aus Warschau war also kaum jemand interessiert.“ Nun stand in dem Brief vom 4. September 1959: „Sie müssen auf jeden Fall kommen, denn ich kann sie als Kritiker nicht mehr entbehren. Es wird Ihnen wahrscheinlich nicht entgangen sein, dass Sie einen neuen Ton in die Diskussion getragen haben, bei aller Schärfe ein Ton echter und nicht angenommener Toleranz, und genau dieser Ton ist es, den die Gruppe braucht. Darf ich deshalb mit Ihrer baldigen Zusage rechnen?“ Die Erinnerungen Reich-Ranickis in „Mein Leben“ schildern die beglückte Reaktion des Flüchtlings aus Polen auf der Suche nach Integration in der Bundesrepublik Deutschland: „Ich fühlte mich in dieser deutschen Schriftsteller-Gruppe alles in allem ganz gut und jedenfalls nicht fremd. Und nun hatte ich noch von Richter erfahren, daß mich die ,Gruppe 47‘ akzeptiert hatte. So verstand ich seinen Brief. Kaum mehr als ein Jahr wieder in Deutschland ansässig, war ich nach wie vor einsam, aber immerhin wußte ich schon, wo ich hingehörte. Ich glaubte eine Art Zuflucht gefunden zu haben.“ Dass er „seit der Tagung im Herbst 1959“ die Gruppe 47 „fast schon als eine Art Heimat empfand“, hatte auch mit „einem Teilnehmer zu tun“, den er „damals zum ersten Mal sah“. Gemeint ist sein dann über viele Jahre hinweg enger Freund Walter Jens.

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Aus: Marcel Reich-Ranicki: Die Gruppe 47, nur für Online-Abonnenten oder erweitert als Buch