Warnruf. Eine Kundgebung deutscher Dichter

Neue Hamburger Zeitung. Jg. 23, 23. Dezember 1918

Von Richard DehmelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Richard Dehmel

Der Waffenstillstand geht bald zu Ende; die Friedensvorbereitung ist schon im Gange, über den Kopf des deutschen Michels hinweg, der von nun endlich sich erfüllender Weltverbrüderung träumt. Unsre Revolutionspolitiker streiten sich um ein bißchen Augenblicksmacht, wie blind und taub gegen die Todesgefahr, mit der die ausländische Beutegier nicht blos unsere Freiheit bedroht, sondern ebenso die ihrer eigenen Volksmassen und daher der ganzen Menschheit. Die Welt des sozialen Geistes geht unter, wenn der Triumph der fremden Plutokratie uns zur Verelendung verdammt; der geplante Völkerbund wird zur Räuber-Innung, der Friedenskongreß zum Sklavenmarkt.

In dieser schicksalsschweren Stunde, die vielen Edelsten aller Völker vor Trauer und Scham den Mund verschliesst, dürfen wir deutschen Dichter nicht schweigen. Aufblickend zu dem Stern der Verheißung, der Deutschlands dunkelstes Weihnachtsfest mit heiligem Hoffnungsschimmer beglänzt, erheben wir feierlichen Einspruch gegen die Vergewaltigung, die der Völkerhaß unserm Vaterland antun will. Was unsre jetzt gestürzten Gewalthaber am menschlichen Geist gesündigt haben, wenn auch unter dem Zwang der feindlichen Einkreisung, das Gottesurteil des Krieges hat es enthüllt, und unser Volk ist bereit es zu sühnen. Nicht aber ist unser Volk dazu da, eine Züchtigung zu erdulden, die unmenschlicher ist als seine Schuld und nur der Rachsucht, Machtsucht und Habsucht fremder Gewalthaber Vorschub leistet.

Ein Frevel ist es, daß das demokratische Frankreich, die Waffenstillstandsbedingungen mißachtend, den deutschen Bezirken Elsaß-Lothringen schon jetzt die fremde Amtssprache aufpreßt, dasselbe Frankreich, das Jahrzehntelang den deutschen Sprachzwang in den welschen Bezirken als brutalen Imperialismus brandmarkte. Eine Schandtat ist es, wenn Italiäner, Slowaken, Tschechen und Polen sich wie die Schakale unter dem Schutz des britischen Löwen auf Grenzgebiete stürzen dürfen, die Jahrhundertelang als Bollwerk der deutschen Kultur in Ansehen standen. Ein Verbrechen ist es, wenn sich England an unseren Kolonien bereichert.

Wir nehmen keinen Landstrich als deutsch in Anspruch, auf dem überwiegend fremdes Volk wohnt; wir ehren das Selbstbestimmungsrecht auch des kleinsten Nachbarvolkes, das eigene Sprache und Gesittung hegt. Aber Straßburg ist eine deutsche Stadt! Danzig und Breslau sind deutsche Städte! Das Rheinland ist deutsch, Tirol ist deutsch! Es gibt Deutsch-Böhmen, Deutsch-Kärnthen, Deutsch-Krain! Und auf die wilden Länder und Völker, deren Kultivierung Deutschland angebahnt hat, behält es solange rechtmäßigen Anspruch, bis der gesamte Kolonialbesitz sämtlicher Kulturnationen in die gemeinschaftliche Verwaltung des Völkerbundes übergeht.

Das alles ist so selbstverständlich, daß kein anständiger Mensch es anzweifeln kann. Wir rufen laut in die Welt: seid anständige Menschen! tretet ein für das einfachste Menschenrecht, für das Heiligtum der Blutsverwandtschaft! Wir rufen es nicht blos unsern Volksstämmen zu, nicht blos den Alemannen im Elsaß, den Schwaben in Mähren, den Friesen in Schleswig; wir sind die Stimme des deutschen Gewissens, die alle Völker anhören müssen vor dem ewigen Gerichtshof der Menschheit. Keine Untat bleibt ungesühnt; sie rächt sich noch an den Kindeskindern. Seht, ihr Völker, wie Deutschland jetzt leidet, weil es sich eine kurze Zeit von dem Größenwahn der Machtsüchtigen verblenden und betrügen ließ! Ladet nicht dasselbe Unheil auf euch, indem ihr die gerechte Genugtuung durch maßlose Gewinnsucht entweiht!

Wir läuten die göttlichste Friedensglocke, die über dem menschlichen Kampfgewühl schwebt. Wir bieten jeden gemarterten Kriegsmann in jedem Land der Erde auf, jeden verkrüppelten Soldaten, alle Seelen der Hingeschlachteten: läutet mit! Warnt eure Völker vor dem Fluch, der auf den Raubtiergelüsten lastet! Keines großen Volkes Gewissen läßt sich auf die Dauer erwürgen! Der Grimm der Mißhandelten wächst unvertilgbar! Laßt keinen Frieden über uns kommen, der die Saat neuer Rachekriege im Schooß trägt!

Julius Maria Becker. Emanuel von Bodman. Waldemar Bonsels, Karl Bröger. Hermann Burte. Hans Carossa. Paul Ernst. Herbert Eulenberg. Cäsar Flaischlen. Kurt Heynicke. Arno Holz. Bernd Isemann. Norbert Jacques. Hanns Johst. Jakob Kneip. Heinrich Lersch. Emil Ludwig. Thomas Mann. Alfred Mombert. Alphons Paquet. Richard von Schaukal. Werner Schendell. Johannes Schlaf. Hermann Stehr. Will Vesper. Jakob Wassermann. Wilhelm Weigand. Josef Winckler.

Editorische Hinweise von Michael Stark

Textgrundlage

Hugo von Hofmannsthal – Richard Dehmel, Briefwechsel 1893 – 1919. Mit einem Nachwort hg. von Martin Stern. In: Hofmannsthal-Blätter 21/22 (1979), S. 1 – 130, hier S. 68 – 70. – Zeitgenössisch nachgedruckt wurde das Manifest mit dem Titel Warnruf! in: Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands. 35. Jg., Nr. 353a, 24. Dezember 1918, Abend-Ausgabe, S. 5, dort allerdings mit dem kritischen redaktionellen Zusatz: „Dieser gutgemeinte Aufruf übersieht, daß, wenn irgend jemand imstande ist, Deutschland nach seiner von den alten Machthabern verschuldeten Niederlage einen noch erträglichen Frieden zu verschaffen, dies die angegriffenen ‚Revolutionspolitiker‘ sind.“

Kommentar

Richard Dehmel (geboren am 18. November 1863 in Hermsdorf bei Wendisch Buchholz, Provinz Brandenburg; gestorben am 8. Februar 1920 in Blankenese, Hamburg-Altona), der vor dem Ersten Weltkrieg als einer der bedeutendsten deutschen Lyriker galt und im Frühexpressionismus die jungen Autoren vor allem durch das in seinen Gedichten vermittelte ekstatisch-vitale Lebensgefühl inspiriert hat, gehörte nicht nur zu den literarischen Kriegspropagandisten und Mitunterzeichnern des im Oktober 1914 veröffentlichten ‚Manifests der 93‘, sondern meldete sich trotz seines Alters freiwillig zum Militärdienst und diente, am 7. Januar 1915 zum Leutnant befördert, bis 1916 im Infanterie-Regiment „Graf Bose“ (1. Thüringisches) Nr. 31. Radikaler als Gerhart Hauptmann (1862 – 1946), der zwar nicht weniger national-pathetisch den ‚Waffengang‘ als angeblich „aufgezwungen“ und friedenstiftenden „Verteidigungskrieg“ zu rechtfertigen versuchte, in dem alle „für deutsche Freiheit, deutsches Familienleben, für deutsche Kunst, deutsche Wissenschaft, deutschen Fortschritt […] für innere und auch äußere Güter [kämpfen], die alle dem allgemeinen Fortschritt und Aufstieg der Menschheit dienstbar sind.“ (Gegen Unwahrheit. In: Berliner Tageblatt. Jg. 43, Nr. 431, 26. August 1914, Morgen-Ausgabe, S. 2f.), positionierte sich Dehmel von Kriegsbeginn an aggressiv chauvinistisch (An meine Kinder. In: Berliner Tageblatt. Jg. 43, Nr. 514, 9. Oktober 1914, Abend-Ausgabe, S. 2):

Nein, wir führen diesen uns aufgenötigten Krieg keineswegs bloß als Verteidigungskampf; wir kämpfen um den Platz in der Welt, der uns von Gottes Gnaden gebührt, kraft unserer menschlichen Vorzüge. Die Begleitumstände sind allerdings scheußlich, aber das Hauptziel des Kampfes ist herrlich und heilig; denn wir wollen den Frieden auf Erden schaffen,  a l l e n  Menschen zum Wohlgefallen. Wir  s i n d  humaner als die anderen Nationen, selbst die Art unserer Kriegsführung beweist es; wir  h a b e n  mehr Zucht und Sitte im Leibe, mehr Geist und Gemüt und Phantasie, daher auch mehr Mitgefühl mit fremder Art. Also haben wir auch ein adliges Recht auf die Weltherrschaft unseres Geistes […].

Noch in der Endphase des Ersten Weltkriegs forderte er, die unvermeidliche Niederlage vor Augen, in einem öffentlichen Appell an die Oberste Heeresleitung die Rekrutierung eines letzten Aufgebots aller,  „d i e  i n  d e r   T a t   l i e b e r  s t e r b e n  w o l l e n  a l s  e i n e n  s c h m a c h v o l l e n   F r i e d e n  e r l e b e n “, und meldete sich, obwohl als „Kriegsbeschädigter dauernd zum Garnisonsdienst zurückgestellt“,  erneut an die Front. (Einzige Rettung. In: Vorwärts. Jg. 35, Nr. 291, 22. Oktober 1918, S. 7.) „Es ist genug gestorben! Keiner darf mehr fallen!“, entgegnete Käthe Kollwitz (1867 – 1945) damals in ihrem Offenen Brief lapidar, einen Tag, bevor die Meuterei der Matrosen in Kiel begann. (An Richard Dehmel! In: Vorwärts. 35. Jg., Nr. 297, 28. Oktober 1918, S. 3.)

Wie das herausfordernd als ‚Warnruf‘ überschriebene, Anfang Dezember 1918 zunächst in noch schärferer Version zur Mitunterzeichnung vorgelegte Manifest Dehmels belegt, setzte er sich auch nach Kriegsende und Ausrufung der Republik keineswegs vorbehaltlos für Versöhnung und europäische Verständigung ein, sondern verlangte von den Siegermächten u.a., den territorialen ‚Status quo ante‘ zuzugestehen. Obwohl der Text nicht explizit androht, andernfalls den Krieg fortsetzen zu wollen, dokumentiert die Liste der Unterzeichner, dass namhafte Schriftsteller – Kriegsteilnehmer und Kriegsberichterstatter darunter – der latente Revanchismus offenbar wenig störte. In einem kurzen Begleitschreiben Dehmels zur Kollekte der Gleichgesinnten hieß es: „Den beiliegenden Aufruf versende ich an alle die Dichter, jüngere wie ältere, die für die verschiedenen Bezirke der deutschen Sprache kunstförderlichen Wert haben […].“ (Vgl. die Anmerkung zu Brief Nr. 142. In: Hans Carossa: Briefe I, 1886 – 1918, hg. von Eva Kampmann-Carossa. Frankfurt am Main 1978, S. 315f.) Der angeschriebene Hans Carossa (1878 – 1956) scheint ihn tatsächlich nur als „eine flammende Verwahrung gegen die Vergewaltigung“ missverstanden zu haben, welche die deutsche Sprache zur Zeit in allen Grenzgebieten erleidet, besonders im Elsaß, wo sie jetzt völlig ausgerottet werden soll.“ (Brief an die Schwester [Vor Weihnachten, 1918]. Ebd. S. 175) Mit Julius Maria Becker (1887 – 1949), Kurt Heynicke (1891 – 1985) und Hanns Johst (1890 – 1978) waren unter den Jüngeren übrigens drei Autoren der expressionistischen Generation und unter den Älteren mit Johannes Schlaf (1862 – 1941) ein Veteran des Naturalismus vertreten. Hauptmanns Name findet sich unter dem Warnruf  hingegen nicht. Einem Tagebuch-Eintrag von Harry Graf Kessler (1868 – 1937) zufolge, stellte jener den Grund seiner Absage später so dar: „Am Ende des Krieges sei Dehmel einmal zu ihm gekommen und habe ihn um seine Unterschrift unter ein Manifest gebeten, in dem aufgerufen wurde zum Weiterkämpfen nach dem Waffenstillstand. Er, Hauptmann, habe abgelehnt zu unterschreiben, da er die völlige Aussichtslosigkeit eines solchen Unternehmens einsah.“ (Tagebücher 1918 – 1937, hg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli. Frankfurt am Main 1982, S. 540f; Eintrag vom 2. Juni 1927.)

Aus dem Kontext dem Manifest zugehöriger Korrespondenzen erschließt sich ferner, dass der sozialdemokratische Gemeinderat und Schriftsteller Alfons Petzold (1882 – 1923) wegen verspäteter Zusage ungenannt blieb, Hermann Bahr (1863 – 1934) nicht angeschrieben war, vor allem aber, dass außer Hauptmann weitere prominente Autoren die Zustimmung zu dem Manifest und ihre Unterschrift versagten, nämlich Peter Altenberg (1859 – 1919), Alfred Döblin (1878 – 1957), Hugo von Hofmannsthal (1874 – 1929), Rainer Maria Rilke (1875 – 1926), Emil Strauß (1866 – 1960), Arthur Schnitzler (1862 – 1931) und Franz Werfel (1890 – 1945). Döblin erläuterte Dehmel am 15. Dezember (Briefe, hg. von Heinz Graber. Olten / Freiburg i. Br. 1970, S. 103f.) die Motive seiner Absage folgendermaßen:

Es könnte vielleicht taktisch gut und wirksam sein, wenn sich von Seiten deutscher Autoren eine Stimme erhebt für die bedrohten Reichsteile, zu einem Appell an die jenseitige gute Gesinnung, zu einer Aufrüttelung und als Gegengewicht gegen materialistische Excesse. Solch Appell müßte aber von vornherein frei, absolut frei sein von jeglichem Anklang oder Nachklang an solchen Nationalismus. […] Sie werden verstehen, daß ich ganz und garnicht im Stande bin, mißachtend von „der Katzbalgerei“ unserer „Revolutionsmänner“ zu sprechen, oder von „Räubergesinnung“ des Völkerbundes etc.; das bläst m.E. alles aus dem falschen Loch […]. Ich zweifle aber nicht, wohin ich mich bei dem eben beginnenden Endspurt zwischen Sozialismus und Imperialismus zu stellen habe, – und das ist der Kernpunkt unserer Differenz, die ich lebhaft bedaure.

Aus heutiger Nachbetrachtung traf das Monitum der ganz und gar falschen Töne sozusagen den ‚Nagel auf den Kopf‘. Dass Dehmel konterrevolutionär eingestellt war und die Annahme des Versailler Vertrags für falsch halten würde, verwundert kaum.  Nicht zuletzt seine damaligen Briefe an Thomas Mann (1875 – 1955), Richard von Schaukal (1874 – 1942) und Hugo von Hofmannsthal, in denen er seine Enttäuschung über verweigerten Zuspruch anderer abarbeitete, zeugen aber von der persönlichen Unwilligkeit und vielleicht auch emotionalen Unfähigkeit, sich selbstkritisch mit dem eigenen Anteil am Versagen der intellektuellen Elite im Kaiserreich zu befassen. Dehmels Brief an Thomas Mann vom 22. Dezember 1918 beispielsweise, der nebenbei dessen redaktionellen Einfluss auf die Formulierung des Warnrufs belegt, kehrt den reaktionären ‚Furor Teutonicus‘ nunmehr auch verächtlich gegen das eigene, wegen angeblichen Mangels an kriegerischem Enthusiasmus und seinem materialistischen Opportunismus  für das Debakel selbst verantwortlich scheinende Volk:      

Zwar begreife ich, daß Ihnen – wie noch einigen anderen gewissenhaften Deutschen (Emil Strauß z.B. hat deswegen seine Unterschrift verweigert) – das Wort „Gottesurteil“ bitter schmeckt. […] Grade wenn Sie unsere Niederlage als egoistische Drückebergerei betrachten, und das ist auch meine Ansicht, dann hat die Hamsterherde eben ihr Schicksal  v e r d i e n t […]. Aber zustimmen muß ich Ihnen, daß der Ausdruck „gerechte Rache“ (im Sinn von Schicksalsrache) in diesem Aufruf unangebracht ist […]. Ich habe daher „Rache“ in Genugtuung abgeändert, auch den Appell an das Volksgewissen (im ersten und letzten Absatz) so umgewandelt, daß er internationales Verständnis finden  k a n n . Wenn man uns kein Verständnis gewähren  w i l l , dann mögen die verbiesterten Völker, die jetzt die Menschheit gepachtet zu haben glauben, die Folgen ihrer Unmenschlichkeit tragen. (Brief Nr. 880, S. 445f.)

Ein Vierteljahrhundert später wird der zum Diktator aufgestiegene Gefreite Hitler ganz ähnlich den Untergang des deutsche Volkes für verdient erklären, wenn es nicht mehr stark und opferbereit genug ist, sein Blut für seine Existenz einzusetzen. In Dehmels Schreiben an Richard von Schaukal vom 23. Dezember 1918 ist zudem der antisemitische Affekt unverkennbar:

Wenn Sie die Unterschriften des Aufrufs lesen werden, wird es Sie wohl ebenso betrüben wie mich, daß sie der einzige österreichische Dichter von Bedeutung sind, der deutsches Ehrgefühl genug hatte, seinen Namen für diese Auflehnung gegen die „philantropische“ Halsabschneiderei herzugeben. Daß weder Hofmannsthal noch Werfel, weder Altenberg noch Schnitzler sich dazu entschließen konnten, mag ihr jüdisches Blut entschuldigen, obgleich sie soviel Dankbarkeit für die deutsche Sprache doch aufbringen mußten; aber auch Rilke hat sich gedrückt! (Brief Nr. 881, S. 446f.)

Zum Weihnachtsfest 1918 schließlich gestand Dehmel in seinem Brief an Hugo von Hofmannsthal, der Zweifel an Wirkung und Funktion solcher Aufrufe überhaupt angemeldet hatte, daß ihm gerade dessen und Hauptmanns Absage, die jedoch „recht oberflächlich, ja eitel“ begründet gewesen sei, am meisten geschmerzt habe. Weiter liest man:

Ihren Standpunkt, lieber Hofmannsthal, kann ich auch species aeterni viel eher verstehen. Auch ich habe während des Krieges oft gedacht: Was hast du Dichter, dessen Werk in die Zukunft wirken soll, denn an der Gegenwart mitzuschaffen? Aber dieses ideale Verhältnis zur Weltgeschichte ist doch nur die eine Seite der Menschennatur […]. Sollen wir Deutsche denn ewig den Anschluß versäumen und wie die begossenen Pudel abwarten, was für Unrat man uns noch aufs Fell schütten wird? Das ist es ja, was wir Wolkenkuckucksheimer am biedern Michel gesündigt haben, daß wir uns immerfort „still verhielten“, blos den lieben Gott walten ließen, d.h. seine Stellvertreter auf Erden, erst unsre eignen Allerhöchsten, dann auch gar noch die fremden Weltverwalter. Kein Wunder, daß man im Ausland denkt: dies Volk läßt sich ja alles gefallen, wozu sollen wir uns genieren! – Zum Teufel, das muß endlich anders werden […]. (Brief Nr. 882, S. 447f.)

Dehmels wenig friedvolle Weihnachtsbotschaft von 1918 warf also lange Schatten voraus: Der Versailler Vertrag erwies sich als schwere Hypothek für die Weimarer Republik nicht nur wegen seiner Härten, denn der rezidivierende nationalistische Populismus vermochte ihn gegen die demokratische Staatsform zu instrumentalisieren. Wie viele Kriegsbegeisterte wollte Dehmel nach wie vor nicht wahrhaben, dass die kollektive Phantasie, im Unheil des Krieges verhieße sich nationales Heil, grauenvoll widerlegt war. Zur notwendigen Neuformatierung der schriftstellerischen Intellektuellenrolle in der Demokratie wusste Dehmels Warnruf nichts beizutragen.

Erläuterungen

Der erste Waffenstillstand am 11. November 1918 zwischen dem Deutschen Reich und den beiden Westmächten Frankreich und Großbritannien beendete die Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg. Er galt zunächst für 36 Tage, also bis zum 17. Dezember 1918, und wurde dreimal verlängert: am 13. Dezember 1918 bis zum 17. Januar 1919; am 16. Januar 1919 bis zum 17. Februar 1919 und am 16. Februar 1919 für einen kurzen Zeitraum ohne konkretes Ablaufdatum. Fast alle schweren Waffen mussten in kürzester Zeit abgegeben, die Truppen aus Belgien und Lothringen zurückgezogen werden. Das Rheinland wurde von den Alliierten besetzt. Das Waffenstillstandsabkommen nahm in vieler Hinsicht den rigorosen Friedensvertrag von Versailles vorweg, der am 28. Juni 1919 unterzeichnet wurde und am 10. Januar 1920 in Kraft trat. Unter anderem  sah er Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen, die Auslieferung von Kriegsverbrechern und die Reduzierung der Truppen vor. – Der Völkerbund war eine zwischenstaatliche Organisation mit Sitz in Genf. Er entstand als Ergebnis der Pariser Friedenskonferenz und nahm am 10. Januar 1920 seine Arbeit auf. – Die Pariser Friedenskonferenz fand vom 18. Januar 1919 bis zum 21. Januar 1920 statt. Sie hatte das Ziel, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Friedensbedingungen festzulegen. –  Ein Gottesurteil, Gottesgericht oder Ordal ist eine vermeintlich durch ein übernatürliches Zeichen herbeigeführte Entscheidung in einem Rechtsstreit. Dabei liegt die mythologische Vorstellung zugrunde, ein Gott greife ein, um den Sieg der Gerechtigkeit zu garantieren. – Die deutschen Kolonien wurden zu „Mandatsgebieten“ des Völkerbundes erklärt, die dessen Mitgliedern zur vorläufigen Verwaltung unterstellt wurden. – Mögliche militärische Auseinandersetzungen waren z.B. durch den sog. Oststaat-Plan akut. So forderte August Winnig (1878 – 1956) noch am 10. April 1919 in Erwartung der harten Friedensbedingungen deren Ablehnung und die Fortsetzung des Krieges gegen die Entente mit Anschluss an den Osten, eventuell sogar im Verbund mit sowjetrussischen Truppen. Der Plan wurde von der Reichsregierung abgelehnt.