Ueber Anmuth und Würde

Von Friedrich SchillerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedrich Schiller

Die griechische Fabel legt der Göttinn der Schönheit einen Gürtel bey, der die Kraft besitzt, dem, der ihn trägt, Anmuth zu verleyhen, und Liebe zu erwerben. Eben diese Gottheit wird von den Huldgöttinnen oder den Grazien begleitet.

Die Griechen unterschieden also die Anmuth und die Grazien noch von der Schönheit, da sie solche durch Attribute ausdrückten, die von der Schönheitsgöttinn zu trennen waren. Alle Anmuth ist schön, denn der Gürtel des Liebreizes ist ein Eigenthum der Göttinn von Gnidus; aber nicht alles Schöne ist Anmuth, denn auch ohne diesen Gürtel bleibt Venus, was sie ist.

[116] Nach eben dieser Allegorie ist es die Schönheitsgöttinn allein, die den Gürtel des Reizes trägt und verleyht. Juno, die herrliche Königinn des Himmels, muß jenen Gürtel erst von der Venus entlehnen, wenn sie den Jupiter auf dem Ida bezaubern will. Hoheit also, selbst wenn ein gewisser Grad von Schönheit sie schmückt, (den man der Gattinn Jupiters keineswegs abspricht) ist ohne Anmuth nicht sicher, zu gefallen; denn nicht von ihren eignen Reizen, sondern von dem Gürtel der Venus erwartet die hohe Götterköniginn den Sieg über Jupiters Herz.

Die Schönheitsgöttinn kann aber doch ihren Gürtel entäußern und seine Kraft auf das Minder Schöne übertragen. Anmuth ist also kein ausschließendes Prärogativ des Schönen, sondern kann auch, obgleich immer nur aus der Hand des Schönen, auf das Minder-Schöne, ja selbst auf das Nicht-Schöne, übergehen.

Die nehmlichen Griechen empfahlen demjenigen, dem bey allen übrigen Geistesvorzügen die Anmuth, das Gefällige, fehlte, den Grazien zu opfern. Diese Göttinnen wurden also von ihnen zwar als Begleiterinnen des schönen Geschlechts [117] vorgestellt, aber doch als solche, die auch dem Mann gewogen werden können, und die ihm, wenn er gefallen will, unentbehrlich sind.

Was ist aber nun die Anmuth, wenn sie sich mit dem Schönen zwar am liebsten, aber doch nicht ausschließend, verbindet? wenn sie zwar von dem Schönen herstammt, aber die Wirkungen desselben auch an dem Nicht-Schönen offenbart? wenn die Schönheit zwar ohne sie bestehen, aber durch sie allein ein Objekt der Neigung werden kann?

Das zarte Gefühl der Griechen unterschied frühe schon, was die Vernunft noch nicht zu verdeutlichen fähig war, und, nach einem Ausdruck strebend, erborgte es von der Einbildungskraft Bilder, da ihm der Verstand noch keine Begriffe darbieten konnte. Jener Mythus ist daher der Achtung des Philosophen werth, der sich ohnehin damit begnügen muß, zu den Anschauungen, in welchen der reine Natursinn seine Entdeckungen niederlegt, die Begriffe aufzusuchen, oder mit andern Worten, die Bilderschrift der Empfindungen zu erklären.

Entkleidet man die Vorstellung der Griechen von ihrer allegorischen Hülle, so scheint sie keinen andern, als folgenden Sinn einzuschließen.

[118] Anmuth ist eine bewegliche Schönheit, eine Schönheit nehmlich, die an ihrem Subjekte zufällig entstehen und eben so aufhören kann. Dadurch unterscheidet sie sich von der fixen Schönheit, die mit dem Subjekte selbst nothwendig gegeben ist. Ihren Gürtel kann Venus abnehmen und der Juno augenblicklich überlassen: ihre Schönheit würde sie nur mit ihrer Person weggeben können. Ohne ihren Gürtel ist sie nicht mehr die reizende Venus, ohne Schönheit ist sie nicht Venus mehr.

Dieser Gürtel, als das Symbol der beweglichen Schönheit, hat aber das ganz besondre, daß er der Person, die damit geschmückt wird, die objektive Eigenschaft der Anmuth verleyht: und unterscheidet sich dadurch von jedem andern Schmuck, der nicht die Person selbst, sondern bloß den Eindruck derselben, subjektiv, in der Vorstellung eines Andern, verändert. Es ist der ausdrückliche Sinn des griechischen Mythus, daß sich die Anmuth in eine Eigenschaft der Person verwandle, und daß die Trägerinn des Gürtels wirklich liebenswürdig sey, nicht bloß so scheine.

Ein Gürtel, der nicht mehr ist als ein zufälliger äußerlicher Schmuck, scheint allerdings kein [119] ganz passendes Bild zu seyn, die persönliche Eigenschaft der Anmuth zu bezeichnen; aber eine persönliche Eigenschaft, die zugleich als zertrennbar von dem Subjekte gedacht wird, konnte nicht wohl anders, als durch eine zufällige Zierde versinnlicht werden, die sich unbeschadet der Person von ihr trennen läßt.

Der Gürtel des Reizes wirkt also nicht natürlich, weil er in diesem Fall an der Person selbst nichts verändern könnte, sondern er wirkt magisch, das ist, seine Kraft wird über alle Naturbedingungen erweitert. Durch diese Auskunft (die freylich nicht mehr ist als ein Behelf) sollte der Widerspruch gehoben werden, in den das Darstellungsvermögen sich jederzeit unvermeidlich verwickelt, wenn es für das, was außerhalb der Natur im Reiche der Freyheit liegt, in der Natur einen Ausdruck sucht.

Wenn nun der Gürtel des Reizes eine objektive Eigenschaft ausdrückt, die sich von ihrem Subjekte absondern läßt, ohne deswegen etwas an der Natur desselben zu verändern, so kann er nichts anders als Schönheit der Bewegung bezeichnen; denn Bewegung ist die einzige Veränderung, die mit einem Gegenstand vorgehen kann, ohne seine Identität aufzuheben.

[120] Schönheit der Bewegung ist ein Begriff, der beyden Foderungen Genüge leistet, die in dem angeführten Mythus enthalten sind. Sie ist erstlich objektiv und kommt dem Gegenstande selbst zu, nicht bloß der Art, wie wir ihn aufnehmen. Sie ist zweytens etwas zufälliges an demselben, und der Gegenstand bleibt übrig, auch wenn wir diese Eigenschaft von ihm wegdenken.

Der Gürtel des Reizes verliert auch bey dem Minder-Schönen, und selbst bey dem Nicht-Schönen seine magische Kraft nicht; das heißt, auch das Minder-Schöne, auch das Nicht-Schöne kann sich schön bewegen.

Die Anmuth, sagt der Mythus, ist etwas zufälliges an ihrem Subjekt; daher können nur zufällige Bewegungen diese Eigenschaft haben. An einem Ideal der Schönheit müssen alle nothwendigen Bewegungen schön seyn, weil sie, als nothwendig, zu seiner Natur gehören; die Schönheit dieser Bewegungen ist also schon mit dem Begriff der Venus gegeben, die Schönheit der zufälligen ist hingegen eine Erweiterung dieses Begriffs. Es giebt eine Anmuth der Stimme, aber keine Anmuth des Athemholens.

[121] Ist aber jede Schönheit der zufälligen Bewegungen Anmuth?

Daß der griechische Mythus Anmuth und Grazien nur auf die Menschheit einschränke, wird kaum einer Erinnerung bedürfen; er geht sogar noch weiter, und schließt selbst die Schönheit der Gestalt in die Grenzen der Menschengattung ein, unter welcher der Grieche bekanntlich auch seine Götter begreift. Ist aber die Anmuth nur ein Vorrecht der Menschenbildung, so kann keine derjenigen Bewegungen darauf Anspruch machen, die der Mensch auch mit dem, was bloß Natur ist, gemein hat. Könnten also die Locken an einem schönen Haupte sich mit Anmuth bewegen, so wäre kein Grund mehr vorhanden, warum nicht auch die Aeste eines Baumes, die Wellen eines Stroms, die Saaten eines Kornfelds, die Gliedmaaßen der Thiere sich mit Anmuth bewegen sollten. Aber die Göttinn von Gnidus repräsentiert nur die menschliche Gattung, und da wo der Mensch weiter nichts als ein Naturding und Sinnenwesen ist, da hört sie auf, für ihn Bedeutung zu haben.

Willkührlichen Bewegungen allein kann also Anmuth zukommen, aber auch unter diesen nur denjenigen, die ein Ausdruck moralischer [122] Empfindungen sind. Bewegungen, welche keine andere Quelle als die Sinnlichkeit haben, gehören bey aller Willkührlichkeit doch nur der Natur an, die für sich allein sich nie bis zur Anmuth erhebet. Könnte sich die Begierde mit Anmuth, der Instinkt mit Grazie äußern, so würden Anmuth und Grazie nicht mehr fähig und würdig seyn, der Menschheit zu einem Ausdruck zu dienen.

Und doch ist es die Menschheit allein, in die der Grieche alle Schönheit und Vollkommenheit einschließt. Nie darf sich ihm die Sinnlichkeit ohne Seele zeigen, und seinem humanen Gefühle ist es gleich unmöglich, die rohe Thierheit und die Intelligenz zu vereinzeln. Wie er jeder Idee sogleich einen Leib anbildet und auch das Geistigste zu verkörpern strebt, so fodert er von jeder Handlung des Instinkts an dem Menschen zugleich einem Ausdruck seiner sittlichen Bestimmung. Dem Griechen ist die Natur nie bloß Natur, darum darf er auch nicht erröthen, sie zu ehren; ihm ist die Vernunft niemals bloß Vernunft, darum darf er auch nicht zittern, unter ihren Maßstab zu treten. Natur und Sittlichkeit, Materie und Geist, Erde und Himmel fließen wunderbar schön in seinen Dichtungen zusammen. Er führte die Freyheit, die [123] nur im Olympus zu Hause ist, auch in die Geschäfte der Sinnlichkeit ein, und dafür wird man es ihm hingehen laßen, daß er die Sinnlichkeit in den Olympus versetzte.

Dieser zärtliche Sinn der Griechen nun, der das Materielle immer nur unter der Begleitung des Geistigen duldet, weiß von keiner willkührlichen Bewegung am Menschen, die nur der Sinnlichkeit allein angehörte, ohne zugleich ein Ausdruck des moralischempfindenden Geistes zu seyn. Daher ist ihm auch die Anmuth nichts anders als ein solcher schöner Ausdruck der Seele in den willkührlichen Bewegungen. Wo also Anmuth statt findet, da ist die Seele das bewegende Princip, und in ihr ist der Grund von der Schönheit der Bewegung enthalten. Und so löst sich denn jene mythische Vorstellung in folgenden Gedanken auf: „Anmuth ist eine Schönheit, die nicht von der Natur gegeben, sondern von dem Subjekte selbst hervorgebracht wird.“

Ich habe mich bis jetzt darauf eingeschränkt, den Begriff der Anmuth aus der griechischen Fabel exegetisch herauszuziehen, und, wie ich hoffe, ohne ihr Gewalt anzuthun. Jetzt sey mir erlaubt zu versuchen, was sich auf dem Weg der philosophischen Untersuchung darüber ausmachen läßt, und [124] ob es auch hier, wie in soviel andern Fällen wahr ist, daß sich die philosophirende Vernunft weniger Entdeckungen rühmen kann, die der Sinn nicht schon dunkel geahndet, und die Poesie nicht geoffenbart hätte.

Venus, ohne ihren Gürtel und ohne die Grazien, repräsentiert uns das Ideal der Schönheit, so wie letztere aus den Händen der bloßen Natur kommen kann, und, ohne die Einwirkung eines empfindenden Geistes, durch die plastischen Kräfte erzeugt wird. Mit Recht stellt die Fabel für diese Schönheit eine eigene Göttergestalt zur Repräsentantin auf, denn schon das natürliche Gefühl unterscheidet sie auf das strengste von derjenigen, die dem Einfluß eines empfindenden Geistes ihren Ursprung verdankt.

Es sey mir erlaubt diese von der bloßen Natur, nach dem Gesetz der Nothwendigkeit gebildete Schönheit, zum Unterschied von der, welche sich nach Freyheitsbedingungen richtet, die Schönheit des Baues (architektonische Schönheit) zu benennen. Mit diesem Nahmen will ich also denjenigen Theil der menschlichen Schönheit bezeichnet haben, der nicht bloß durch Naturkräfte ausgeführt worden (was von jeder Erscheinung gilt) sondern der auch nur [125] allein durch Naturkräfte bestimmt ist.

Ein glückliches Verhältniß der Glieder, fließende Umrisse, ein lieblicher Teint, eine zarte Haut, ein feiner und freier Wuchs, eine wohlklingende Stimme u. s. f. sind Vorzüge, die man bloß der Natur und dem Glück zu verdanken hat; der Natur welche die Anlage dazu hergab und selbst entwickelte; dem Glück – welches das Bildungsgeschäft der Natur von jeder Einwirkung feindlicher Kräfte beschützte.

Diese Venus steigt schon ganz vollendet aus dem Schaume des Meers empor: vollendet, denn sie ist ein beschloßenes, streng abgewogenes Werk der Nothwendigkeit, und als solches, keiner Varietät, keiner Erweiterung fähig. Da sie nehmlich nichts anders ist, als ein schöner Vortrag der Zwecke, welche die Natur mit dem Menschen beabsichtet, und daher jede ihrer Eigenschaften durch den Begriff, der ihr zum Grund liegt, vollkommen entschieden ist, so kann sie – der Anlage nach – als ganz gegeben beurtheilt werden, obgleich diese erst unter Zeitbedingungen zur Entwicklung kommt.

Die architektonische Schönheit der menschlichen Bildung muß von der technischen Vollkommenheit [126] derselben wohl unterschieden werden. Unter der leztern hat man das System der Zwecke selbst zu verstehen, so wie sie sich unter einander zu einem obersten Endzweck vereinigen; unter der erstern hingegen bloß eine Eigenschaft der Darstellung dieser Zwecke, so wie sie sich dem anschauenden Vermögen in der Erscheinung offenbaren. Wenn man also von der Schönheit spricht, so wird weder der materielle Werth dieser Zwecke noch die formale Kunstmäßigkeit ihrer Verbindung dabey in Betrachtung gezogen. Das anschauende Vermögen hält sich einzig nur an die Art des Erscheinens, ohne auf die logische Beschaffenheit seines Objekts die geringste Rücksicht zu nehmen. Ob also gleich die architektonische Schönheit des menschlichen Baues durch den Begriff der demselben zum Grund liegt, und durch die Zwecke bedingt ist, welche die Natur mit ihm beabsichtet, so isolirt doch das ästhetische Urtheil sie völlig von diesen Zwecken, und nichts als was der Erscheinung unmittelbar und eigenthümlich angehört, wird in die Vorstellung der Schönheit aufgenommen.

Man kann daher auch nicht sagen, daß die Würde der Menschheit die Schönheit des menschlichen Baues erhöhe. In unser Urtheil über [127] die letztere kann die Vorstellung der erstern zwar einfließen, aber alsdann hört es zugleich auf, ein reinästhetisches Urtheil zu seyn. Die Technik der menschlichen Gestalt ist allerdings ein Ausdruck seiner Bestimmung, und als ein solcher darf und soll sie uns mit Achtung erfüllen. Aber diese Technik wird nicht dem Sinn sondern dem Verstande vorgestellt; sie kann nur gedacht werden, nicht erscheinen. Die architektonische Schönheit hingegen kann wie ein Ausdruck seiner Bestimmung seyn, da sie sich an ein ganz andres Vermögen wendet, als dasjenige ist, welches über jene Bestimmung zu entscheiden hat.

Wenn daher dem Menschen, vorzugsweise vor allen übrigen technischen Bildungen der Natur, Schönheit beygelegt wird, so ist dieß nur insofern wahr, als er schon in der bloßen Erscheinung diesen Vorzug behauptet, ohne daß man sich dabey seiner Menschheit zu erinnern braucht. Denn da dieses letzte nicht anders als vermittelst eines Begriffs geschehen könnte, so würde nicht der Sinn, sondern der Verstand über die Schönheit Richter seyn, welches einen Widerspruch einschließt. Die Würde seiner sittlichen Bestimmung kann also der Mensch nicht in Anschlag bringen, seinen Vorzug als [128] Intelligenz kann er nicht geltend machen, wenn er den Preiß der Schönheit behaupten will; hier ist er nichts als ein Ding im Raume, nichts als Erscheinung unter Erscheinungen. Auf seinen Rang in der Ideenwelt wird in der Sinnenwelt nicht geachtet, und wenn er in dieser die erste Stelle behaupten soll, so kann er sie nur dem, was in ihm Natur ist, zu verdanken haben.

Aber eben diese seine Natur ist, wie wir wissen, durch die Idee seiner Menschheit bestimmt worden, und so ist es denn mittelbar auch seine architektonische Schönheit. Wenn er sich also vor allen Sinnenwesen um ihn her durch höhere Schönheit unterscheidet, so ist er dafür unstreitig seiner menschlichen Bestimmung verpflichtet, welche den Grund enthält, warum er sich von den übrigen Sinnenwesen überhaupt nur unterscheidet. Aber nicht darum ist die menschliche Bildung schön, weil sie ein Ausdruck dieser höheren Bestimmung ist, denn wäre dieses, so würde die nehmliche Bildung aufhören schön zu seyn, sobald sie eine niedrigere Bestimmung ausdrückte, so würde auch das Gegentheil dieser Bildung schön seyn, sobald man nur annehmen könnte, daß es jene höhere Bestimmung ausdrückte. Gesetzt aber, man könnte bey einer [129] schönen Menschengestalt ganz und gar vergessen, was sie ausdrückt, man könnte ihr, ohne sie in der Erscheinung zu verändern, den rohen Instinkt eines Tigers unterschieben, so würde das Urtheil der Augen vollkommen dasselbe bleiben, und der Sinn würde den Tiger für das schönste Werk des Schöpfers erklären.

Die Bestimmung des Menschen, als einer Intelligenz, hat also an der Schönheit seines Baues nur in so fern einen Antheil, als ihre Darstellung, d. i. ihr Ausdruck in der Erscheinung zugleich mit den Bedingungen zusammentrift, unter welchen das Schöne sich in der Sinnenwelt erzeugt. Die Schönheit selbst nehmlich muß jederzeit ein freyer Natureffekt bleiben, und die Vernunftidee, welche die Technik des menschlichen Baues bestimmte, kann ihm nie Schönheit ertheilen, sondern bloß gestatten.

Man könnte mir zwar einwenden, daß überhaupt alles was in der Erscheinung sich darstellt, durch Naturkräfte ausgeführt werde, und daß dieses also kein ausschließendes Merkmal des Schönen seyn könne. Es ist wahr, alle technische Bildungen sind hervorgebracht durch Natur, aber durch Natur sind sie nicht technisch, wenigstens werden sie nicht so beurtheilt. Technisch [130] sind sie nur durch den Verstand, und ihre technische Vollkommenheit hat also schon Existenz im Verstande, ehe sie in die Sinnenwelt hinübertritt, und zur Erscheinung wird. Schönheit hingegen hat das ganz eigenthümliche, daß sie in der Sinnenwelt nicht bloß dargestellt wird, sondern auch in derselben zuerst entspringt; daß die Natur sie nicht bloß ausdrückt, sondern auch erschafft. Sie ist durchaus nur eine Eigenschaft des Sinnlichen, und auch der Künstler, der sie beabsichtet, kann sie nur in so weit erreichen, als er den Schein unterhält, daß die Natur gebildet habe.

Die Technik des menschlichen Baues zu beurtheilen, muß man die Vorstellung der Zwecke, denen sie gemäß ist, zu Hülfe nehmen; dieß hat man gar nicht nöthig, um die Schönheit dieses Baues zu beurtheilen. Der Sinn allein ist hier ein völlig kompetenter Richter, und dieß könnte er nicht seyn, wenn nicht die Sinnenwelt (die sein einziges Objekt ist) alle Bedingungen der Schönheit enthielte, und also zu Erzeugung derselben vollkommen hinreichend wäre. Mittelbar freylich ist die Schönheit des Menschen in dem Begriff seiner Menschheit gegründet, weil seine ganze sinnliche Natur in diesem Begriffe gegründet ist, aber der Sinn, weiß man, [131] hält sich nur an das Unmittelbare, und für ihn ist es also gerade soviel, als wenn sie ein ganz unabhängiger Natureffekt wäre.

Nach dem bisherigen sollte es nun scheinen, als wenn die Schönheit für die Vernunft durchaus kein Interesse haben könnte, da sie bloß in der Sinnenwelt entspringt, und sich auch nur an das sinnliche Erkenntnißvermögen wendet. Denn nachdem wir von dem Begriff derselben, als fremdartig, abgesondert haben, was die Vorstellung der Vollkommenheit in unser Urtheil über die Schönheit zu mischen kaum unterlassen kann, so scheint dieser nichts mehr übrig zu bleiben, wodurch sie der Gegenstand eines vernünftigen Wohlgefallens seyn könnte. Nichts desto weniger ist es eben so ausgemacht, daß das Schöne der Vernunft gefällt, als es entschieden ist, daß es auf keiner solchen Eigenschaft des Objektes beruht, die nur durch Vernunft zu entdecken wäre.

Um diesen anscheinenden Widerspruch aufzulösen, muß man sich erinnern, daß es zweyerley Arten giebt, wodurch Erscheinungen Objekte der Vernunft werden, und Ideen ausdrücken können. Es ist nicht immer nöthig, daß die Vernunft diese Ideen aus den Erscheinungen [132] herauszieht, sie kann sie auch in dieselben hineinlegen. In beyden Fällen wird die Erscheinung einem Vernunftbegriff adäquat seyn, nur mit dem Unterschied: daß in dem ersten Fall die Vernunft ihn schon objektiv darinn findet, und ihn gleichsam von dem Gegenstand nur empfängt, weil der Begriff gesetzt werden muß, um die Beschaffenheit und oft selbst um die Möglichkeit des Objekts zu erklären; daß sie hingegen in dem zweyten Fall das, was unabhängig von ihrem Begriff in der Erscheinung gegeben ist, selbstthätig zu einem Ausdruck desselben macht, und also etwas bloß sinnliches übersinnlich behandelt. Dort ist also die Idee mit dem Gegenstande objektiv nothwendig, hier hingegen höchstens subjektiv nothwendig verknüpft. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich jenes von der Vollkommenheit, dieses von der Schönheit verstehe.

Da es also in dem zweyten Fall, in Ansehung des sinnlichen Objektes ganz und gar zufällig ist, ob es eine Vernunft giebt, die mit der Vorstellung desselben eine ihrer Ideen verbindet, folglich die objektive Beschaffenheit des Gegenstandes von dieser Idee als völlig unabhängig muß betrachtet werden, so thut man ganz Recht, das Schöne, objektiv, auf lauter Naturbedingungen [133] einzuschränken, und es für einen bloßen Effekt der Sinnenwelt zu erklären. Weil aber doch – auf der andern Seite – die Vernunft von diesem Effekt der bloßen Sinnenwelt einen transcendenten Gebrauch macht, und ihm dadurch, daß sie ihm eine höhere Bedeutung leyht, gleichsam ihren Stempel aufdrückt, so hat man ebenfalls Recht, das Schöne subjektiv in die intelligible Welt zu versetzen. Die Schönheit ist daher als die Bürgerin zwoer Welten anzusehen, deren einer sie durch Geburt, der andern durch Adoption angehört; sie empfängt ihre Existenz in der sinnlichen Natur und erlangt in der Vernunftwelt das Bürgerrecht. Hieraus erklärt sich auch, wie es zugeht, daß der Geschmack, als ein Beurtheilungsvermögen des Schönen, zwischen Geist und Sinnlichkeit in die Mitte tritt, und diese beyden, einander verschmähende Naturen, zu einer glücklichen Eintracht verbindet – wie er dem Materiellen die Achtung der Vernunft, wie er dem Rationalen die Zuneigung der Sinne erwirbt – wie er Anschauungen zu Ideen adelt, und selbst die Sinnenwelt gewißermaßen in ein Reich der Freyheit verwandelt.

Wie wohl es aber – in Ansehung des Gegenstandes selbst – zufällig ist, ob die Vernunft [134] mit der Vorstellung desselben eine ihrer Ideen verbindet, so ist es doch – für das vorstellende Subjekt – nothwendig, mit einer solchen Vorstellung eine solche Idee zu verknüpfen. Diese Idee und das ihr korrespondirende sinnliche Merkmal an dem Objekte müssen mit einander in einem solchen Verhältniß stehen, daß die Vernunft durch ihre eignen unveränderlichen Gesetze zu dieser Handlung genöthigt wird. In der Vernunft selbst muß also der Grund liegen, warum sie ausschließend nur mit einer gewissen Erscheinungsart der Dinge eine bestimmte Idee verknüpft, und in dem Objekte muß wieder der Grund liegen, warum es ausschließend nur diese Idee und keine andre hervorruft. Was für eine Idee das nun sey, die die Vernunft in das Schöne hineinträgt, und durch welche objektive Eigenschaft der schöne Gegenstand fähig sey, dieser Idee zum Symbol zu dienen – dieß ist eine viel zu wichtige Frage, um hier bloß im Vorübergehen beantwortet zu werden, und deren Erörterung ich also auf eine Analytik des Schönen verspare.

Die architektonische Schönheit des Menschen ist also, auf die Art, wie ich eben erwähnte, der sinnliche Ausdruck eines Vernunftbegriffs; aber sie ist es in keinem andern [135] Sinne und mit keinem größern Rechte, als überhaupt jede schöne Bildung der Natur. Dem Grade nach übertrift sie zwar alle andere Schönheiten, aber der Art nach steht sie in der nehmlichen Reihe mit denselben, da auch sie von ihrem Subjekte nichts, als was sinnlich ist, offenbart, und erst in der Vorstellung eine übersinnliche Bedeutung empfängt [1] . Daß [136] die Darstellung der Zwecke am Menschen schöner ausgefallen ist, als bey andern organischen Bildungen, ist als eine Gunst anzusehen, welche die Vernunft, als Gesetzgeberinn des menschlichen Baues, der Natur als Ausrichterinn ihrer Gesetze erzeigte: Die Vernunft verfolgt zwar bey der Technik des Menschen ihre Zwecke mit strenger Nothwendigkeit, aber glücklicherweise treffen ihre Foderungen mit der Nothwendigkeit der Natur zusammen, so daß die letztere den Auftrag der erstern vollzieht, indem sie bloß nach ihrer eigenen Neigung handelt.

Dieses kann aber nur von der architektonischen Schönheit des Menschen gelten, wo die Naturnothwendigkeit durch die Nothwendigkeit des sie bestimmenden teleologischen Grundes unterstützt wird. Hier allein konnte die Schönheit gegen die Technik des Baues berechnet werden, welches aber nicht mehr statt findet, sobald die Nothwendigkeit nur einseitig ist und die übersinnliche Ursache, welche die Erscheinung [137] bestimmt, sich zufällig verändert. Für die architektonische Schönheit des Menschen sorgt also die Natur allein, weil ihr hier, gleich in der ersten Anlage, die Vollziehung alles dessen, was der Mensch zu Erfüllung seiner Zwecke bedarf, einmal für immer von dem schaffenden Verstand übergeben wurde, und sie also in diesem ihrem organischen Geschäfte keine Neuerung zu befürchten hat.

Der Mensch aber ist zugleich eine Person, ein Wesen also, welches selbst Ursache, und zwar absolut letzte Ursache seiner Zustände seyn, welches sich nach Gründen, die es aus sich selbst nimmt, verändern kann. Die Art seines Erscheinens ist abhängig von der Art seines Empfindens und Wollens, also von Zuständen, die er selbst in seiner Freyheit, und nicht die Natur nach ihrer Nothwendigkeit bestimmt.

Wäre der Mensch bloß ein Sinnenwesen, so würde die Natur zugleich die Gesetze geben und die Fälle der Anwendung bestimmen; jetzt theilt sie das Regiment mit der Freyheit, und obgleich ihre Gesetze Bestand haben, so ist es nunmehr doch der Geist, der über die Fälle entscheidet.

[138] Das Gebiet des Geistes erstreckt sich so weit, als die Natur technisch ist, und endigt nicht eher, als wo das organische Leben sich in die formlose Maße verliert, und die animalischen Kräfte aufhören. Es ist bekannt, daß alle bewegenden Kräfte im Menschen unter einander zusammenhängen, und so läßt sich einsehen, wie der Geist – auch nur als Princip der willkührlichen Bewegung betrachtet – seine Wirkungen durch das ganze System derselben fortpflanzen kann. Nicht bloß die Werkzeuge des Willens, auch diejenigen, über welche der Wille nicht unmittelbar zu gebieten hat, erfahren wenigstens mittelbar seinen Einfluß. Der Geist bestimmt sie nicht bloß absichtlich, wenn er handelt, sondern auch unabsichtlich, wenn er empfindet.

Die Natur für sich allein kann, wie aus dem obigen klar ist, nur für die Schönheit derjenigen Erscheinungen sorgen, die sie selbst, uneingeschränkt, nach dem Gesetz der Nothwendigkeit zu bestimmen hat. Aber mit der Willkühr‘ tritt der Zufall in ihre Schöpfung ein, und ob gleich die Veränderungen, welche sie unter dem Regiment der Freyheit erleidet, nach keinen andern als ihren eignen Gesetzen erfolgen, so erfolgen sie doch nicht mehr aus diesen Gesetzen. Da es jetzt auf den Geist ankommt, [139] welchen Gebrauch er von seinen Werkzeugen machen will, so kann die Natur über denjenigen Theil der Schönheit, welcher von diesem Gebrauche abhängt, nichts mehr zu gebieten, und also auch nichts mehr zu verantworten haben.

Und so würde denn der Mensch in Gefahr schweben, gerade da, wo er sich durch den Gebrauch seiner Freyheit zu den reinen Intelligenzen erhebt, als Erscheinung zu sinken, und in dem Urtheile des Geschmacks zu verlieren, was er vor dem Richterstuhl der Vernunft gewinnt. Die durch sein Handeln erfüllte Bestimmung würde ihm einen Vorzug kosten, den die in seinem Bau bloß angekündigte Bestimmung begünstigte; und wenn gleich dieser Vorzug nur sinnlich ist, so haben wir doch gefunden, daß ihm die Vernunft eine höhere Bedeutung ertheilt. Eines so groben Widerspruchs macht sich die Uebereinstimmungliebende Natur nicht schuldig, und was in dem Reiche der Vernunft harmonisch ist, wird sich durch keinen Mißklang in der Sinnenwelt offenbaren.

Indem also die Person oder das freye Prinzipium im Menschen es auf sich nimmt, das Spiel der Erscheinungen zu bestimmen, und durch seine Dazwischenkunft der Natur die Macht entzieht, [140] die Schönheit ihres Werks zu beschützen, so tritt es selbst an die Stelle der Natur, und übernimmt, (wenn mir dieser Ausdruck erlaubt ist) mit den Rechten derselben einen Theil ihrer Verpflichtungen. Indem der Geist die ihm untergeordnete Sinnlichkeit in sein Schicksal verwickelt, und von seinen Zuständen abhängen läßt, macht er sich gewißermaßen selbst zur Erscheinung, und bekennt sich als einen Unterthan des Gesetzes, welches an alle Erscheinungen ergehet. Um seiner selbst willen macht er sich verbindlich, die von ihm abhängende Natur auch noch in seinem Dienste Natur bleiben zu lassen, und sie ihrer früheren Pflicht nie entgegen zu behandeln. Ich nenne die Schönheit eine Pflicht der Erscheinungen, weil das ihr entsprechende Bedürfniß im Subjekte in der Vernunft selbst gegründet, und daher allgemein und nothwendig ist. Ich nenne sie eine frühere Pflicht, weil der Sinn schon geurtheilt hat, ehe der Verstand sein Geschäft beginnt.

Die Freyheit regiert also jetzt die Schönheit. Die Natur gab die Schönheit des Baues, die Seele giebt die Schönheit des Spiels. Und nun wissen wir auch, was wir unter Anmuth und Grazie zu verstehen haben. Anmuth ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freyheit; die Schönheit derjenigen [141] Erscheinungen, die die Person bestimmt. Die architektonische Schönheit macht dem Urheber der Natur, Anmuth und Grazie machen ihrem Besitzer Ehre. Jene ist ein Talent, diese ein persönliches Verdienst.

Anmuth kann nur der Bewegung zukommen, denn eine Veränderung im Gemüth kann sich nur als Bewegung in der Sinnenwelt offenbaren. Dieß hindert aber nicht, daß nicht auch feste und ruhende Züge Anmuth zeigen könnten. Diese festen Züge waren ursprünglich nichts als Bewegungen, die endlich bey oftmaliger Erneurung habituell wurden, und bleibende Spuren eindrückten. [2]

[142] Aber nicht alle Bewegungen am Menschen sind der Grazie fähig. Grazie ist immer nur die Schönheit der durch Freyheit bewegten Gestalt, [143] und Bewegungen, die bloß der Natur angehören, können nie diesen Nahmen verdienen. Es ist zwar an dem, daß ein lebhafter Geist sich zuletzt beynahe aller Bewegungen seines Körpers bemächtigt, aber wenn die Kette sehr lang wird, wodurch sich ein schöner Zug an moralische Empfindungen anschließt, so wird er eine Eigenschaft des Baues, und läßt sich kaum mehr zur Grazie zählen. Endlich bildet sich der Geist sogar seinen Körper, und der Bau selbst muß dem Spiele folgen, so daß sich die Anmuth zuletzt nicht selten in architektonische Schönheit verwandelt.

So, wie ein feindseliger, mit sich uneiniger Geist selbst die erhabenste Schönheit des Baues zu Grund richtet, daß man unter den unwürdigen Händen der Freyheit das herrliche Meisterstück der Natur zuletzt nicht mehr erkennen kann, so sieht man auch zuweilen das heitre und in sich harmonische Gemüth der durch Hindernisse gefesselten Technik zu Hülfe kommen, die Natur in Freyheit setzen, und die noch eingewickelte, gedrückte Gestalt mit göttlicher Glorie auseinander breiten. Die plastische Natur des Menschen hat unendlich viele Hülfsmittel in sich selbst, ihr Versäumniß herein zu bringen, und ihre Fehler zu verbessern, so bald nur der sittliche [144] Geist sie in ihrem Bildungswerk unterstützen, oder auch manchmal nur nicht beunruhigen will.

Da auch die verfesteten Bewegungen (in Züge übergegangene Gebärden) von der Anmuth nicht ausgeschlossen sind, so könnte es das Ansehen haben, als ob überhaupt auch die Schönheit der anscheinenden oder nachgeahmten Bewegungen (die flammigten oder geschlängelten Linien) gleichfalls mit dazu gerechnet werden müßte, wie Mendelsohn auch wirklich behauptet. [3]. Aber dadurch würde der Begriff der Anmuth zu dem Begriff der Schönheit überhaupt erweitert; denn alle Schönheit ist zuletzt bloß eine Eigenschaft der wahren oder anscheinenden (objektiven oder subjektiven) Bewegung, wie ich in einer Zergliederung des Schönen zu beweisen hoffe. Anmuth aber können nur solche Bewegungen zeigen, die zugleich einer Empfindung entsprechen.

[…]

Daraus ersieht man auch beyläufig, was man von der nachgeahmten oder gelernten Anmuth (die ich die theatralische und die Tanzmeistergrazie [151] nennen möchte,) zu halten habe. Sie ist ein würdiges Gegenstück zu derjenigen Schönheit, die am Putztisch aus Karmin und Bleyweiß, falschen Locken, Fausses Gorges, und Wallfischrippen hervorgeht, und verhält sich ohngefähr eben so zu der wahren Anmuth, wie die Toiletten-Schönheit sich zu der architektonischen verhält [5]. Auf einen ungeübten [152] Sinn können beyde völlig denselben Effekt machen, wie das Original, das sie nachahmen, [153] und ist die Kunst groß, so kann sie auch zuweilen den Kenner betrügen. Aber aus irgend einem Zuge blickt endlich doch der Zwang und die Absicht hervor, und dann ist Gleichgültigkeit, wo nicht gar Verachtung und Ekel, die unvermeidliche Folge. Sobald wir merken, daß [154] die architektonische Schönheit gemacht ist, so sehen wir gerade so viel von der Menschheit (als Erscheinung) verschwunden, als aus einem fremden Naturgebiet zu derselben geschlagen worden ist – und wie sollten wir, die wir nicht einmal Wegwerfung eines zufälligen Vorzugs verzeihen, mit Vergnügen, ja auch nur mit Gleichgültigkeit einen Tausch betrachten, wobey ein Theil der Menschheit für gemeine Natur ist hingegeben worden? Wie sollten wir, wenn wir auch die Wirkung verzeihen könnten, den Betrug nicht verachten? – Sobald wir merken, daß die Anmuth erkünstelt ist, so schließt sich plötzlich unser Herz, und zurücke flieht die ihr entgegenwallende Seele. Aus Geist sehen wir plötzlich Materie geworden, und ein Wolkenbild aus einer himmlischen Juno.

[…]

Dagegen zeigen uns jene zugestutzten Zöglinge der Regel, (die zwar die Sinnlichkeit zur [162] Ruhe bringen, aber die Menschheit nicht wecken kann) in ihrer flachen und ausdruckslosen Bildung überal nichts, als den Finger der Natur. Die geschäftlose Seele ist ein bescheidener Gast in ihrem Körper und ein friedlicher stiller Nachbar der sich selbst überlassenen Bildungskraft. Kein anstrengender Gedanke, keine Leidenschaft greift in den ruhigen Takt des physischen Lebens; nie wird der Bau durch das Spiel in Gefahr gesetzt, nie die Vegetation durch die Freyheit beunruhigt. Da die tiefe Ruhe des Geistes keine beträchtliche Konsumtion der Kräfte verursacht, so wird die Ausgabe nie die Einnahme übersteigen, vielmehr die thierische Oekonomie immer Ueberschuß haben. Für den schmalen Gehalt von Glückseligkeit, den sie ihm auswirft, macht der Geist den pünktlichen Hausverwalter der Natur, und sein ganzer Ruhm ist, ihr Buch in Ordnung zu halten. Geleistet wird also werden, was die Organisation immer leisten kann, und floriren wird das Geschäft der Ernährung und Zeugung. Ein so glückliches Einverständniß zwischen der Naturnothwendigkeit und der Freyheit kann der architektonischen Schönheit nicht anders als günstig seyn, und hier ist es auch, wo sie in ihrer ganzen Reinheit kann beobachtet werden. Aber die allgemeinen Naturkräfte führen, wie man weiß, einen ewigen [163] Krieg mit den besondern, oder den organischen, und die kunstreichste Technik wird endlich von der Kohäsion und Schwerkraft bezwungen. Daher hat auch die Schönheit des Baues, als bloßes Naturprodukt, ihre bestimmten Perioden der Blüthe, der Reife und des Verfalles, die das Spiel zwar beschleunigen, aber niemals verzögern kann; und ihr gewöhnliches Ende ist, daß die Maße allmählig über die Form Meister wird, und der lebendige Bildungstrieb in dem aufgespeicherten Stoff sich sein eigenes Grab bereitet. [6]

[…]

Der Mensch ist aber als Erscheinung zugleich Gegenstand des Sinnes. Wo das moralische Gefühl Befriedigung findet, da will das ästhetische nicht verkürzt seyn, und die Uebereinstimmung mit einer Idee darf in der Erscheinung kein Opfer kosten. So streng also auch immer die Vernunft einen Ausdruck der Sittlichkeit fodert, so unnachlaßlich fodert das Auge [168] Schönheit. Da diese beyden Foderungen an dasselbe Objekt, obgleich von verschiedenen Instanzen der Beurtheilung, ergehen, so muß auch durch eine und dieselbe Ursache für beider Befriedigung gesorgt seyn. Diejenige Gemüthsverfassung des Menschen, wodurch er am fähigsten wird, seine Bestimmung als moralische Person zu erfüllen, muß einen solchen Ausdruck gestatten, der ihm auch, als bloßer Erscheinung, am vortheilhaftesten ist.“ Mit andern Worten: seine sittliche Fertigkeit muß sich durch Grazie offenbaren.

Hier ist es nun, wo die große Schwierigkeit eintritt. Schon aus dem Begriff moralischsprechender Bewegungen ergiebt sich, daß sie eine moralische Ursache haben müssen, die über die Sinnenwelt hinaus liegt; eben so ergiebt sich aus dem Begriffe der Schönheit, daß sie keine andre als sinnliche Ursache habe, und ein völlig freyer Natureffekt seyn oder doch so erscheinen müsse. Wenn aber der letzte Grund moralischsprechender Bewegungen nothwendig ausserhalb, der letzte Grund der Schönheit eben so nothwendig innerhalb der Sinnenwelt liegt, so scheint die Grazie, welche beydes verbinden soll, einen offenbaren Widerspruch zu enthalten.

[169] Um ihn zu heben, wird man also annehmen müssen, „daß die moralische Ursache im Gemüthe, die der Grazie zum Grunde liegt, in der von ihr abhängenden Sinnlichkeit gerade denjenigen Zustand nothwendig hervorbringe, der die Naturbedingungen des Schönen in sich enthält.“ Das Schöne setzt nehmlich, wie sich von allem Sinnlichen versteht, gewisse Bedingungen, und, in sofern es das Schöne ist, auch bloß sinnliche Bedingungen voraus. Daß nun der Geist, (nach einem Gesetz, das wir nicht ergründen können) durch den Zustand, worinn er sich selbst befindet, der ihn begleitenden Natur den ihrigen vorschreibt, und daß der Zustand moralischer Fertigkeit in ihm gerade derjenige ist, durch den die sinnlichen Bedingungen des Schönen in Erfüllung gebracht werden, dadurch macht er das Schöne möglich, und das allein ist seine Handlung. Daß aber wirklich Schönheit daraus wird, das ist Folge jener sinnlichen Bedingungen, also freye Naturwirkung. Weil aber die Natur bey willkührlichen Bewegungen, wo sie als Mittel behandelt wird, um einen Zweck auszuführen, nicht wirklich frey heißen kann, und weil sie bey den unwillkührlichen Bewegungen, die das Moralische ausdrücken, wiederum nicht frey heißen kann, so ist die Freyheit, mit der sie sich in ihrer [170] Abhängigkeit von dem Willen demungeachtet äusert, eine Zulassung von Seiten des Geistes. Man kann also sagen, daß die Grazie eine Gunst sey, die das Sittliche dem Sinnlichen erzeigt, so wie die architektonische Schönheit als die Einwilligung der Natur zu ihrer technischen Form kann betrachtet werden.

Man erlaube mir dieß durch eine bildliche Vorstellung zu erläutern. Wenn ein monarchischer Staat auf eine solche Art verwaltet wird, daß, obgleich alles nach eines Einzigen Willen geht, der einzelne Bürger sich doch überreden kann, daß er nach seinem eigenen Sinne lebe, und bloß seiner Neigung gehorche, so nennt man dieß eine liberale Regierung. Man würde aber großes Bedenken tragen, ihr diesen Nahmen zu geben, wenn entweder der Regent seinen Willen gegen die Neigung des Bürgers, oder der Bürger seine Neigung gegen den Willen des Regenten behauptete; denn in dem ersten Fall wäre die Regierung nicht liberal, in dem zweyten wäre sie gar nicht Regierung.

Es ist nicht schwer, die Anwendung davon auf die menschliche Bildung unter dem Regiment des Geistes zu machen. Wenn sich der Geist in der von ihm abhängenden sinnlichen Natur auf [171] eine solche Art äußert, daß sie seinen Willen aufs treueste ausrichtet und seine Empfindungen auf das sprechendste ausdrückt, ohne doch gegen die Anfoderungen zu verstoßen, welche der Sinn an sie, als an Erscheinungen, macht, so wird dasjenige entstehen, was man Anmuth nennt. Man würde aber gleich weit entfernt seyn, es Anmuth zu nennen wenn entweder der Geist sich in der Sinnlichkeit durch Zwang offenbarte, oder wenn dem freyen Effekt der Sinnlichkeit der Ausdruck des Geistes fehlte. Denn in dem ersten Fall wäre keine Schönheit vorhanden, in dem zweyten wäre es keine Schönheit des Spiels.

Es ist also immer nur der übersinnliche Grund im Gemüthe, der die Grazie sprechend, und immer nur ein bloß sinnlicher Grund in der Natur, der sie schön macht. Es läßt sich eben so wenig sagen, daß der Geist die Schönheit erzeuge, als man, im angeführten Fall, von dem Herrscher sagen kann, daß er Freyheit hervorbringe; denn Freyheit kann man einem zwar lassen, aber nicht geben.

So wie aber doch der Grund, warum ein Volk unter dem Zwang eines fremden Willens [172] sich frey fühlt, größtentheils in der Gesinnung des Herrschers liegt, und eine entgegengesetzte Denkart des Letztern jener Freyheit nicht sehr günstig seyn würde, eben so müssen wir auch die Schönheit der freyen Bewegungen in der sittlichen Beschaffenheit des sie diktirenden Geistes aufsuchen. Und nun entsteht die Frage, was dieß wohl für eine persönliche Beschaffenheit seyn mag, die den sinnlichen Werkzeugen des Willens die größere Freyheit verstattet, und was für moralische Empfindungen sich am besten mit der Schönheit im Ausdruck vertragen?

Soviel leuchtet ein, daß sich weder der Wille bey der absichtlichen, noch der Affekt bey der sympathetischen Bewegung, gegen die von ihm abhängende Natur als eine Gewalt verhalten dürfe, wenn sie ihm mit Schönheit gehorchen soll. Schon das allgemeine Gefühl der Menschen macht die Leichtigkeit zum Hauptkarakter der Grazie, und was angestrengt wird, kann niemals Leichtigkeit zeigen. Eben so leuchtet ein, daß auf der andern Seite, die Natur sich gegen den Geist nicht als Gewalt verhalten dürfe, wenn ein schöner moralischer Ausdruck statt haben soll, denn wo die bloße Natur herrscht, da muß die Menschheit verschwinden.

[173] Es laßen sich in allem dreyerley Verhältnisse denken, in welchen der Mensch zu sich selbst d. i. sein sinnlicher Theil zu seinem vernünftigen, stehen kann. Unter diesen haben wir dasjenige aufzusuchen, welches ihn in der Erscheinung am besten kleidet, und dessen Darstellung Schönheit ist.

Der Mensch unterdrückt entweder die Foderungen seiner sinnlichen Natur, um sich den höhern Foderungen seiner vernünftigen gemäß zu verhalten; oder er kehrt es um, und ordnet den vernünftigen Theil seines Wesens dem sinnlichen unter, und folgt also bloß dem Stoße, womit ihn die Naturnothwendigkeit gleich den andern Erscheinungen forttreibt; oder die Triebe des letztern setzen sich mit den Gesetzen des erstern in Harmonie, und der Mensch ist einig mit sich selbst.

Wenn sich der Mensch seiner reinen Selbstständigkeit bewußt wird, so stößt er alles von sich, was sinnlich ist, und nur durch diese Absonderung von dem Stoffe gelangt er zum Gefühl seiner rationalen Freyheit. Dazu aber wird, weil die Sinnlichkeit hartnäckig und kraftvoll widersteht, von seiner Seite eine merkliche Gewalt und große Anstrengung erfodert, ohne [174] welche es ihm unmöglich wäre, die Begierde von sich zu halten, und den nachdrücklich sprechenden Instinkt zum Schweigen zu bringen. Der so gestimmte Geist läßt die von ihm abhängende Natur, sowohl da, wo sie im Dienst seines Willens handelt, als da, wo sie seinem Willen vorgreifen will, erfahren, daß er ihr Herr ist. Unter seiner strengen Zucht wird also die Sinnlichkeit unterdrückt erscheinen, und der innere Widerstand wird sich von aussen durch Zwang verrathen. Eine solche Verfassung des Gemüths kann also der Schönheit nicht günstig seyn, welche die Natur nicht anders als in ihrer Freyheit hervorbringt, und es wird daher auch nicht Grazie seyn können, wodurch die mit dem Stoffe kämpfende moralische Freyheit sich kenntlich macht.

Wenn hingegen der Mensch, unterjocht vom Bedürfniß, den Naturtrieb ungebunden über sich herrschen läßt, so verschwindet mit seiner innern Selbstständigkeit auch jede Spur derselben in seiner Gestalt. Nur die Thierheit redet aus dem schwimmenden ersterbenden Auge, aus dem lüstern geöfneten Munde, aus der erstickten bebenden Stimme, aus dem kurzen geschwinden Athem, aus dem Zittern der Glieder, aus dem ganzen erschlaffenden Bau. Nachgelassen hat aller [175] Widerstand der moralischen Kraft, und die Natur in ihm ist in volle Freyheit gesetzt. Aber eben dieser gänzliche Nachlaß der Selbstthätigkeit, der im Moment des sinnlichen Verlangens und noch mehr im Genuß zu erfolgen pflegt, setzt augenblicklich auch die rohe Materie in Freyheit, die durch das Gleichgewicht der thätigen und leidenden Kräfte bisher gebunden war. Die todten Naturkräfte fangen an, über die lebendigen der Organisation die Oberhand zu bekommen, die Form von der Masse, die Menschheit von gemeiner Natur unterdrückt zu werden. Das Seelestrahlende Auge wird matt, oder quillt auch gläsern und stier aus seiner Höhlung hervor, der feine Inkarnat der Wangen verdickt sich zu einer groben und gleichförmigen Tüncherfarbe, der Mund wird zur bloßen Oefnung, denn seine Form ist nicht mehr Folge der wirkenden sondern der nachlassenden Kräfte, die Stimme und der seufzende Athem sind nichts als Hauche, wodurch die beschwerte Brust sich erleichtern will, und die nun bloß ein mechanisches Bedürfniß, keine Seele verrathen. Mit einem Worte: bey der Freyheit, welche die Sinnlichkeit sich selbst nimmt, ist an keine Schönheit zu denken. Die Freyheit der Formen, die der sittliche Wille bloß eingeschränkt hatte, überwältigt der grobe Stoff, welcher stets [176] soviel Feld gewinnt, als dem Willen entrissen wird.

Ein Mensch in diesem Zustand empört nicht bloß den moralischen Sinn, der den Ausdruck der Menschheit unnachlaßlich fodert; auch der ästhetische Sinn, der sich nicht mit dem bloßen Stoffe befriedigt, sondern in der Form ein freyes Vergnügen sucht, wird sich mit Ekel von einem solchen Anblick abwenden, bey welchem nur die Begierde ihre Rechnung finden kann.

Das erste dieser Verhältnisse zwischen beiden Naturen im Menschen erinnert an eine Monarchie, wo die strenge Aufsicht des Herrschers jede freye Regung im Zaum hält; das zweyte an eine wilde Ochlokratie, wo der Bürger durch Aufkündigung des Gehorsams gegen den rechtmäßigen Oberherrn so wenig frey, als die menschliche Bildung, durch Unterdrückung der moralischen Selbstthätigkeit, schön wird; vielmehr nur dem brutaleren Despotismus der untersten Klassen, wie hier die Form der Masse, anheimfällt. So wie die Freyheit zwischen dem gesetzlichen Druck und der Anarchie mitten inne liegt, so werden wir jetzt auch die Schönheit zwischen der Würde als dem Ausdruck [177] des herrschenden Geistes, und der Wollust, als dem Ausdruck des herrschenden Triebes, in der Mitte finden.

Wenn nehmlich weder die über die Sinnlichkeit herrschende Vernunft, noch die über die Vernunft herrschende Sinnlichkeit sich mit Schönheit des Ausdrucks vertragen, so wird (denn es giebt keinen vierten Fall) so wird derjenige Zustand des Gemüths, wo Vernunft und Sinnlichkeit – Pflicht und Neigung – zusammenstimmen, die Bedingung seyn, unter der die Schönheit des Spiels erfolgt.

[…]

Es ist für moralische Wahrheiten gewiß nicht vortheilhaft, Empfindungen gegen sich zu haben, [185] die der Mensch ohne Erröthen sich gestehen darf. Wie sollen sich aber die Empfindungen der Schönheit und Freyheit mit dem austeren Geist eines Gesetzes vertragen, das ihn mehr durch Furcht als durch Zuversicht leitet, das ihn, den die Natur doch vereinigte, stets zu vereinzeln strebt, und nur dadurch, daß es ihm Mistrauen gegen den einen Theil seines Wesens erweckt, sich der Herrschaft über den andern versichert. Die menschliche Natur ist ein verbundeneres Ganze in der Wirklichkeit, als es dem Philosophen, der nur durch Trennen was vermag, erlaubt ist, sie erscheinen zu lassen. Nimmermehr kann die Vernunft Affekte als ihrer unwerth verwerfen, die das Herz mit Freudigkeit bekennt, und der Mensch da, wo er moralisch gesunken wäre, nicht wohl in seiner eigenen Achtung steigen. Wäre die sinnliche Natur im Sittlichen immer nur die unterdrückte und nie die mitwirkende Parthey, wie könnte sie das ganze Feuer ihrer Gefühle zu einem Triumph hergeben, der über sie selbst gefeyert wird? Wie könnte sie eine so lebhafte Theilnehmerin an dem Selbstbewußtseyn des reinen Geistes seyn, wenn sie sich nicht endlich so innig an ihn anschließen könnte, daß selbst der analytische Verstand sie nicht ohne Gewaltthätigkeit mehr von ihm trennen kann.

[…]

Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bey einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es. Man kann ihr auch keine einzige darunter zum Verdienst [187] anrechnen, weil eine Befriedigung des Triebes nie verdienstlich heißen kann. Die schöne Seele hat kein andres Verdienst, als daß sie ist. Mit einer Leichtigkeit, als wenn bloß der Instinkt aus ihr handelte, übt sie der Menschheit peinlichste Pflichten aus, und das heldenmüthigste Opfer, das sie dem Naturtriebe abgewinnt, fällt, wie eine freywillige Wirkung eben dieses Triebs, in die Augen. Daher weiß sie selbst auch niemals um die Schönheit ihres Handelns, und es fällt ihr nicht mehr ein, daß man anders handeln und empfinden könnte; dagegen ein schulgerechter Zögling der Sittenregel, so wie das Wort des Meisters ihn fodert, jeden Augenblick bereit seyn wird, vom Verhältniß seiner Handlungen zum Gesetz die strengste Rechnung abzulegen. Das Leben des Letztern wird einer Zeichnung gleichen, worinn man die Regel durch harte Striche angedeutet sieht, und an der allenfalls ein Lehrling die Prinzipien der Kunst lernen könnte. Aber in einem schönen Leben sind, wie in einem Titianischen Gemählde, alle jene schneidenden Grenzlinien verschwunden, und doch tritt die ganze Gestalt nur desto wahrer, lebendiger, harmonischer hervor.

In einer schönen Seele ist es also, wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmoniren, [188] und Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung. Nur im Dienst einer schönen Seele kann die Natur zugleich Freyheit besitzen und ihre Form bewahren, da sie erstere unter der Herrschaft eines strengen Gemüths, letztere unter der Anarchie der Sinnlichkeit einbüßt. Eine schöne Seele gießt auch über eine Bildung, der es an architektonischer Schönheit mangelt, eine unwiderstehliche Grazie aus, und oft sieht man sie selbst über Gebrechen der Natur triumphiren. Alle Bewegungen, die von ihr ausgehen, werden leicht, sanft und dennoch belebt seyn. Heiter und frey wird das Auge strahlen, und Empfindung wird in demselben glänzen. Von der Sanftmuth des Herzens wird der Mund eine Grazie erhalten, die keine Verstellung erkünsteln kann. Keine Spannung wird in den Minen, kein Zwang in den willkührlichen Bewegungen zu bemerken seyn, denn die Seele weiß von keinem. Musik wird die Stimme seyn, und mit dem reinen Strom ihrer Modulationen das Herz bewegen. Die architektonische Schönheit kann Wohlgefallen, kann Bewunderung, kann Erstaunen erregen, aber nur die Anmuth wird hinreissen. Die Schönheit hat Anbeter, Liebhaber hat nur die Grazie: denn wir huldigen dem Schöpfer, und lieben den Menschen.

[189] Man wird, im Ganzen genommen, die Anmuth mehr bey dem weiblichen Geschlecht (die Schönheit vielleicht mehr bey dem männlichen,) finden, wovon die Ursache nicht weit zu suchen ist. Zur Anmuth muß sowohl der körperliche Bau, als der Charakter beytragen; jener durch seine Biegsamkeit Eindrücke anzunehmen und ins Spiel gesetzt zu werden, dieser durch die sittliche Harmonie der Gefühle. In beydem war die Natur dem Weibe günstiger als dem Manne.

[…]

[1] Denn – um es noch einmal zu wiederholen – in der bloßen Anschauung wird alles, was an der Schönheit objektiv ist, gegeben. Da aber das, was dem Menschen den Vorzug vor allen übrigen Sinnenwesen giebt, in der bloßen Anschauung nicht vorkommt, so kann eine Eigenschaft, die sich schon in der bloßen Anschauung offenbart, diesen Vorzug nicht sichtbar machen. Seine höhere Bestimmung, die allein diesen Vorzug begründet, wird also durch seine Schönheit nicht ausgedrückt, und die Vorstellung von jener kann daher nie ein Ingredienz von dieser abgeben, nie in das ästhetische Urtheil mit aufgenommen werden. Nicht der Gedanke selbst, dessen Ausdruck die menschliche Bildung ist, bloß die Wirkungen desselben in der Erscheinung offenbaren sich dem Sinn. Zu dem übersinnlichen Grund dieser Wirkungen [136] erhebt der bloße Sinn sich eben so wenig, als (wenn man mir dieß Beyspiel verstatten will) als der bloß sinnliche Mensch zu der Idee der obersten Weltursache hinaufsteigt, wenn er seine Triebe befriedigt.

[2] Daher nimmt Home den Begriff der Anmuth viel zu eng an, wenn er (Grundsätze d. Kritik. II. [39]. Neueste Ausgabe) sagt: „daß, wenn die anmuthigste Person in Ruhe sey, und sich weder bewege noch spreche, wir die Eigenschaft der Anmuth, wie die Farbe im Finstern, aus den Augen verlieren“ Nein, wir verlieren sie nicht aus den Augen, solange wir an der schlafenden Person die Züge wahrnehmen, die ein wohlwollender sanfter Geist gebildet hat; und gerade der schätzbarste Theil der Grazie bleibt übrig, derjenige [142] nehmlich, der sich aus Gebärden zu Zügen verfestete, und also die Fertigkeit des Gemüths in schönen Empfindungen an den Tag legt. Wenn aber der Herr Berichtiger des Homischen Werks seinen Autor durch die Bemerkung zurecht zu weisen glaubte, (Siehe in demselben Band S. 459.) „daß sich die Anmuth nicht bloß auf willkührliche Bewegungen einschränke, daß eine schlafende Person nicht aufhöre reizend zu seyn“ – und warum? „weil während dieses Zustandes die unwillkührlichen, sanften und eben deswegen desto anmuthigern Bewegungen erst recht sichtbar werden“, so hebt er den Begriff der Grazie ganz auf, den Home bloß zu sehr einschränkte. Unwillkührliche Bewegungen im Schlafe, wenn es nicht mechanische Wiederholungen von willkührlichen sind, können nie anmuthig seyn, weit entfernt daß sie es vorzugsweise seyn könnten, und wenn eine schlafende Person reizend ist, so ist sie es keineswegs durch die Bewegungen die sie macht, sondern durch ihre Züge, die von vorhergegangenen Bewegungen zeugen.

[3] Philos. Schriften. I. 90.

[5] Ich bin eben so weit entfernt, bey dieser Zusammenstellung dem Tanzmeister sein Verdienst um die wahre Grazie, als dem Schauspieler seinen Anspruch darauf abzustreiten. Der Tanzmeister kommt der wahren Anmuth unstreitig zu Hülfe, indem er dem Willen die Herrschaft über seine Werkzeuge verschaft, und die Hindernisse hinwegräumt, welche die Masse und Schwerkraft dem Spiel der lebendigen Kräfte entgegen setzen. Er kann dieß nicht anders als nach Regeln verrichten, welche den Körper in einer heilsamen Zucht erhalten, und, so lange die Trägheit widerstrebt, steif, d. i. zwingend seyn und auch so aussehen dürfen. Entläßt er aber den Lehrling aus seiner Schule, so muß die Regel bey diesem ihren Dienst schon geleistet haben, daß sie ihn nicht in die Welt zu begleiten braucht: kurz das Werk der Regel muß in Natur übergehen.
[152] Die Geringschätzung mit der ich von der theatralischen Grazie rede, gilt nur der nachgeahmten, und diese, nehme ich keinen Anstand, auf der Schaubühne wie im Leben zu verwerfen. Ich bekenne, daß mir der Schauspieler nicht gefällt, der seine Grazie, gesetzt daß ihm die Nachahmung auch noch so sehr gelungen sey, an der Toilette studirt hat. Die Foderungen die wir an den Schauspieler machen, sind: 1) Wahrheit der Darstellung und 2) Schönheit der Darstellung. Nun behaupte ich, daß der Schauspieler, was die Wahrheit der Darstellung betrift, alles durch Kunst und nichts durch Natur hervorbringen müsse, weil er sonst gar nicht Künstler ist; und ich werde ihn bewundern, wenn ich höre oder sehe, daß er, der einen wüthenden Guelfo meisterhaft spielte ein Mensch von sanftem Karakter ist; auf der andern Seite hingegen behaupte ich, daß er, was die Schönheit der Darstellung betrift der Kunst gar nichts zu danken haben dürfe, und daß hier alles an ihm freiwilliges Werk der Natur seyn müsse. Wenn es mir bey der Wahrheit seines Spiels beyfällt, daß ihm dieser [153] Karakter nicht natürlich ist, so werde ich ihn nur um so höher schätzen; wenn es mir bey der Schönheit seines Spiels beyfällt, daß ihm diese anmuthigen Bewegungen nicht natürlich sind, so werde ich mich nicht enthalten können, über den Menschen zu zürnen, der hier den Künstler zu Hülfe nehmen mußte. Die Ursache ist, weil das Wesen der Grazie mit ihrer Natürlichkeit verschwindet, und weil die Grazie doch eine Foderung ist, die wir uns an den bloßen Menschen zu machen berechtigt glauben. Was werde ich aber nun dem mimischen Künstler antworten, der gern wissen möchte, wie er, da er sie nicht erlernen darf, zu der Grazie kommen soll? Er soll, ist meine Meinung, zuerst dafür sorgen, daß die Menschheit in ihm selbst zur Zeitigung komme, und dann soll er hingehen und (wenn es sonst sein Beruf ist) sie auf der Schaubühne repräsentiren.

[6] Daher man auch mehrentheils finden wird, daß solche Schönheiten des Baues sich schon im mittlern Alter durch Obesität sehr merklich vergröbern, daß, anstatt jener kaum angedeuteten zarten Lineamente der Haut, sich Gruben einsenken und wurstförmige Falten aufwerfen, daß das Gewicht unvermerkt auf die Form Einfluß bekömmt, und das reizende mannichfache Spiel schöner Linien auf der Oberfläche sich in einem gleichförmig schwellenden Polster von Fette verliert. Die Natur nimmt wieder, was sie gegeben hat.
Ich bemerke beyläufig, daß etwas ähnliches zuweilen mit dem Genie vorgeht, welches überhaupt in [164] seinem Ursprunge, wie in seinen Wirkungen mit der architektonischen Schönheit vieles gemein hat. Wie diese, so ist auch jenes ein bloßes Naturerzeugniß, und nach der verkehrten Denkart der Menschen, die, was nach keiner Vorschrift nachzuahmen, und durch kein Verdienst zu erringen ist, gerade am höchsten schätzen, wird die Schönheit mehr als der Reiz, das Genie mehr als erworbene Kraft des Geistes bewundert. Beyde Günstlinge der Natur werden bey allen ihren Unarten (wodurch sie nicht selten ein Gegenstand verdienter Verachtung sind) als ein gewißer Geburtsadel, als eine höhere Kaste betrachtet, weil ihre Vorzüge von Naturbedingungen abhängig sind, und daher über alle Wahl hinaus liegen.
Aber wie es der architektonischen Schönheit ergeht, wenn sie nicht zeitig dafür Sorge trägt, sich an der Grazie eine Stütze und eine Stellvertreterin heranzuziehen, eben so ergeht es auch dem Genie, wenn es sich durch Grundsätze, Geschmack und Wissenschaft zu stärken verabsäumt. War seine ganze Ausstattung eine lebhafte und blühende Einbildungskraft (und die Natur [165] kann nicht wohl andre als sinnliche Vorzüge ertheilen) so mag es bey Zeiten darauf denken, sich dieses zweydeutigen Geschenks durch den einzigen Gebrauch zu versichern, wodurch Naturgaben Besitzungen des Geistes werden können; dadurch, meyne ich, daß es der Materie Form ertheilt; denn der Geist kann nichts, als was Form ist, sein eigen nennen. Durch keine verhältnißmäßige Kraft der Vernunft beherrscht, wird die wildaufgeschoßene üppige Naturkraft über die Freyheit des Verstandes hinauswachsen, und sie eben so ersticken, wie bey der architektonischen Schönheit die Masse endlich die Form unterdrückt.
Die Erfahrung, denke ich, liefert hievon reichlich Belege, besonders an denjenigen Dichter-Genien, die früher berühmt werden als sie mündig sind, und wo, wie bey mancher Schönheit, das ganze Talent oft die Jugend ist. Ist aber der kurze Frühling vorbey, und fragt man nach den Früchten, die er hoffen ließ, so sind es schwammigte und oft verkrüppelte Geburten, die ein mißgeleiteter blinder Bildungstrieb erzeugte. Gerade da, wo man erwarten [166] kann, daß der Stoff sich zur Form veredelt und der bildende Geist in der Anschauung Ideen niedergelegt habe, sind sie, wie jedes andre Naturprodukt, der Materie anheim gefallen, und die vielversprechenden Meteore erscheinen als ganz gewöhnliche Lichter – wo nicht gar als noch etwas weniger. Denn die poetisirende Einbildungskraft sinkt zuweilen auch ganz zu dem Stoff zurück, aus dem sie sich losgewickelt hatte, und verschmäht es nicht, der Natur bey einem andern solidern Bildungswerk zu dienen, wenn es ihr mit der poetischen Zeugung nicht recht mehr gelingen will.

Editorische Notiz

Publikationsvorlage: Friedrich Schiller: Ueber Anmuth und Würde. In: Neue Thalia (1792-1793), Dritter Band 1793, G. J. Göschen´sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, S.115-230. Die nummerierten Fußnoten wurden aus der Publikationsvorlage übernommen. Die Nummerierung 1-3, 5 und 6 in eckigen Klammern sind verlinkt und verweisen auf die angegebenen Fußnoten, die auf den Textauszug folgen. Alle weiteren Nummern in eckigen Klammern benennen die Seitenzahlen in der faksimilierten Druckvorlage. Die hier in Ausschnitten gezeigte Textfassung wurde der folgenden Seite entnommen:

http://de.wikisource.org/wiki/Ueber_Anmuth_und_W%C3%BCrde (Stand: 10.07.2011)

Faksimiliert findet sich die Textfassung über folgenden Link:

http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/neuethalia/neuethalia.htm (Stand: 10.07.2011)

Kommentar

Die philosophische Schrift erschien 1793 in Friedrich Schillers (1759-1805) Zeitschrift „Neue Thalia“. Veranlasst durch den stagnierenden Beitragsfluss schrieb er im Mai und Juni desselben Jahres diese Abhandlung, die bereits in wesentlichen Punkten im Briefwechsel mit Christian Gottfried Körner („Kallias oder Über die Schönheit“) zu Beginn des Jahres 1793 konzipiert worden war. „Ueber Anmuth und Würde“ gilt als erstes größeres Schriftstück seiner Auseinandersetzung mit Kants Ästhetik. Anmut wird von Schiller als eine Schönheit definiert, die an einem Subjekt unvorhergesehen entstehen, jedoch ebenso wieder enden kann. Dies impliziert, dass die Schönheit nicht an das Subjekt gebunden ist. Erst wenn eine Bewegung Ausdruck moralischer Empfindungen ist, erreicht ein Subjekt Anmut. Somit handelt es sich hierbei nicht um eine naturgegebene Schönheit, sondern um eine vom Subjekt hervorgebrachte. Die Leistung von Schillers Schrift besteht in dem Versuch, einen Schönheitsbegriff zu etablieren, welcher den Zusammenhang zwischen Natur und Vernunft sowie von Sinnwelt und moralischer Welt vermittelt. Dadurch festigte er seine Stellung als Kunstphilosoph. Die hier behandelte Thematik betreffen die Gebiete der Ethik und Ästhetik gleichermaßen. Schiller grenzte sich auf beiden Feldern von Kant mit dem Ziel ab, die Spaltung des Menschen in Körper und Geist, Natur und Freiheit vermittelnd zu überwinden. Schiller schaffte mit seiner Definition der Schönheit als Freiheit in der Erscheinung ein Kriterium für die Wahrnehmung der Schönheit und war damit über die bisher geltende Begriffsbestimmung von Kant hinausgekommen.

Literaturhinweise

Baumecker, Gottfried: Schillers Schönheitslehre. Heidelberg 1937. S. 23-48. [Kapitel bezieht sich auf „Ueber Anmuth und Würde“]

Berghahn, K. L.: Schillers philosophischer Stil. In: Schiller-Handbuch. Hg. von Helmut Koopmann. 2. durchgesehene und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2011. S. 304-319. [Allgemeine Erläuterungen zu Schillers philosophischem Stil]

Muelbeck-Müller, Cathleen: Schönheit und Freiheit. Die Vollendung der Moderne in der Kunst. Schiller-Kant. Epistemata Reihe Literaturwissenschaft 36. Würzburg 1989. S. 105-124. [Kapitel zur ethischen Thematik von „Ueber Anmuth und Würde“]

Schiller, Friedrich: Ueber Anmuth und Würde. In: Schiller Werke und Briefe. Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz. Band 8. Frankfurt 1992. S. 1321-1345. [Beschreibt die Textgestalt, Quellen, Aspekte der Deutung und äußert sich über eine Anzahl von Stellen in „Ueber Anmuth und Würde“]


Bearbeitet von: Tina Braun