I.8.1 Theater

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Von Christopher BalmeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christopher Balme und Jörg von BrinckenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg von Brincken

8.1 Theater

8.1.1 Problemstellung: Theater als Institution der Literaturvermittlung

Fragt man nach dem Theater als einer Institution der Literaturvermittlung, kommt man nicht umhin, neben der zweifellos bestehenden Wechselwirkung auch ein grundlegendes Spannungsverhältnis zwischen der Bühnenkunst als einer eigenständigen künstlerischen Praxis und ihrer Funktion als Medium für textuell vorentworfene Gehalte zu veranschlagen. Gerade der doppelte Sinn des literaturund gattungstheoretischen Begriffes Drama (gr. drama, hergeleitet von drân: handeln, tun) spiegelt dieses Faktum: Er meint zum einen ein literarisches Genre, das charakterisiert ist durch die Selbstäußerungen der dramatis personae, denen im Text keine epische oder lyrische Instanz vorgeordnet ist. Zum anderen aber bezeichnet er die aufführungsbezogene Spielvorlage als Bestandteil der performativen Kultur.

Eine Auffassung von Theater als reinem Text- Vehikel geht mithin nicht nur an dem Umstand vorbei, dass im engeren Sinne ›literarisches‹ Theater über die Jahrhunderte hinweg keineswegs immer die dominierende Form der Bühnenpraxis war. Sie übersieht auch, dass es derjenigen Textsorte, die für die Umsetzung auf dem Theater verfasst wurde, ihrerseits an einer kohärenten Gestalt, einer einheitlichen Geschichte oder auch an einer qualitativen Konsistenz mangelt (vgl. Graf 1992, 2).

Ein ähnliches Defizit besteht dort, wo über formalästhetische Kriterien hinaus der intime Akt der Lektüre, also die besondere, an den zeitlich-linearen Textverlauf gebundene ästhetische Rezeptionsform zum Paradigma auch der Wahrnehmung von Theater bestimmt wird. Sowohl das Theater als auch die Literatur – zumal in ihrer experimentellen Form – haben sich immer wieder dem Primat der einheitlich-zentristischen ›Lesbarkeit‹ entpflichtet und für umfassendere Rezeptionsmodi geöffnet, die es ermöglichen, zwischen den einzelnen Elementen innerhalb des Aufführungs- und Textganzen dynamische Bezüge herzustellen.

Im Hinblick auf das Theater als Institution der Literaturvermittlung rückt angesichts dieser Komplexität neben der relativ einlinigen Frage nach der ästhetischen Auf- oder Abwertung der Bühnenkunst gegenüber der Literatur vor allem die Pragmatik und Problematik des Medienwechsels in den Fokus, also die Frage nach den umfassenden strukturellen Modalitäten des Austausches zwischen zwei verschiedenen Kunstformen, die neben den ästhetischen auch funktionale, ökonomische, soziale und anderweitige äußere Kriterien berücksichtigt. Eine derartige Perspektive kommt unter keinen Umständen an den spezifischen historischen Bedingungen der jeweiligen Theaterform und ihres Zusammenwirkens mit der Literatur vorbei, unabhängig von ihrem Werturteil über Literatur. Zielt der Begriff der Institution nämlich auf eine im öffentlichen Bewusstsein als solche präsente und identifizierbare Instanz mit normativer Geltung, der bestimmte, nach außen gerichtete Funktionen zukommen, so hat sein Gebrauch weitreichende Folgen für die Zuordnung von Drama und Theater: Neben den Überschneidungen und Differenzen zweier verschiedener künstlerischer Formate und der Frage nach ihrer Eigenständigkeit ist immer historischer Spielpraxis und Literatur et vice versa in Betracht zu ziehen. Das betrifft zentral das Kriterium eines engeren oder weiteren zeit-, funktionsund anlassgebundenen Zusammenwirkens von Text und Theateraufführung. Die alte Frage nach den historisch je anders gearteten Konvergenzen und Divergenzen zwischen literarisch-dramatischem Text und Theater, also nach dem Für und Wider von Literaturtheater, bedarf mithin dringend der Ergänzung um die Frage, wann zu welchem Zweck welche Art von Literatur für welches Theater und für welches Publikum geschrieben wurde, des Weiteren, wie die diesbezüglichen Orientierungen seitens der Autoren die Gestaltung des dramatischen Textes beeinflusst haben, und schließlich, ob und bis zu welchem Grade die verfassten Texte überhaupt als Teil der Schriftkultur konzipiert waren oder sie nicht doch vorrangig versuchten, den spezifischen Bedingungen einer Theater praxis Rechnung zu tragen, als deren integrales Element sie gewertet wurden.

Der alte Streit um das Bekenntnis der jeweiligen Theaterform zu den klassischen dramatischen Kategorien (Person, Handlung, Dialog etc.) wird damit erweitert um die pragmatische Frage nach der Tauglichkeit von bestimmter Literatur für ihre Umsetzung auf dem Theater bzw. nach ihrer vorhandenen oder auch vom jeweiligen Autor verweigerten Konzeptionalisierung dafür. Und schließlich geht es damit um die historische, regionale und theaterformabhängige Variabilität von Autorenbewusstsein überhaupt, d. h. um das (Selbst-)Verständnis, eine durch ihre Bühnenaffinität wesentlich von anderen literarischen Genres unterschiedene Textform zu nutzen. Insgesamt ist nach Maßgabe dieser Perspektive von einer hohen historischen Kontingenz der Institutionalisierung des Theaters als einer literaturvermittelnden Instanz auszugehen, die stets im Wechselspiel von theatraler und literarischer Praxis steht. [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.