I.9.3 Musik

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Von Christine LubkollRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Lubkoll

9.3 Musik

Das Feld, in dem Musik als Kontext von Literatur eine Rolle spielt, ist nahezu unüberschaubar. In zahlreichen literarischen Texten finden sich – auf verschiedenste Art – musikalische Anspielungen: Musikwerke werden (als Titel oder in Notenschrift) ›zitiert‹; Hörerlebnisse und die Wirkungen der Tonkunst werden beschrieben; Komponisten als Prototypen des Künstlers erscheinen als Protagonisten in Texten; musikalische Strukturen oder Ausdrucksformen gelten als Ideal und dienen als Orientierungsmodell der poetischen Gestaltung. Hinzu kommt, dass in mehreren künstlerischen Gattungen Musik und Sprache (mehr oder weniger gleichberechtigt) zusammenwirken. Um in diese Vielfalt eine systematische Ordnung zu bringen, ist es zunächst hilfreich, zwischen zwei Arten von Kontextbeziehungen zu unterscheiden, nämlich zwischen ›intratextuellen‹ und ›extratextuellen‹ Kontexten.

Vom intratextuellen Kontext oder auch Ko-Text spricht man, wenn der zitierte Kontext selbst als Bestandteil im Text präsent ist: Im Falle von musi- kalischen Kontexten geht es hier um das intermediale Zusammenwirken von Text und Musik in einem Kunstwerk, z. B. in Gesangskompositionen (Lied, Oper), im Hörspiel, in Theater und Film, nicht zuletzt auch in literarischen Texten, in die ein Musikstück über ein konkretes Notenzitat eingefügt ist. Außerdem kann man poetische Verfahrensweisen einbeziehen, die musikalische Ausdrucksformen (Kompositionsstrukturen, Rhythmus etc.) als Gestaltungsprinzipien verwenden.

Extratextuelle Kontexte dagegen bezeichnen all jene Anspielungshorizonte sprachlicher und nichtsprachlicher Art, die im Text angedeutet, aufgerufen oder impliziert werden und die für das Verständnis konstitutiv sind. Als ein extratextueller Kontext in diesem Sinne ist Musik im literarischen Text häufig präsent: Es finden sich Hinweise auf existierende musikalische Werke oder Komponisten, es werden fiktive Kompositionen (oder auch Musikerfiguren) beschrieben, schließlich wirken sich musikästhetische Ansätze und Debatten auf poetologische Reflexionen bzw. auf die Thematisierung und Gestaltung des Musikalischen in literarischen Texten aus.

Fungiert die Musik in diesen vielfältigen Konstellationen als Kontext von Literatur, so bilden umgekehrt auch literarische Texte den Kontext musikalischer Kompositionen. Dieser Bereich ist aber im engeren Sinn Gegenstand der Musikwissenschaft (vgl. II.6.7).

Für das komparatistische Grenzgebiet ›Literatur und Musik‹ unterscheidet man generell zwischen drei Hauptbereichen (vgl. Scher 1984b):

1. Musik und Literatur: Hier geht es um alle möglichen Varianten eines Zusammenwirkens von Musik und Sprache, namentlich im Bereich der Vokalmusik (Lied, Oper und andere mit der Literatur in Verbindung stehende Arten von Textvertonungen).

2. Literatur in der Musik: Dieser Bereich betrifft Instrumentalwerke wie etwa symphonische Dichtungen, die sich auf konkrete literarische Werke bzw. literarische Stoffe oder Motive beziehen, aber auch alle Arten von ›Programmmusik‹, die literarische Muster, z. B. narrative Strukturen, zum kompositorischen Prinzip erheben.

3. Musik in der Literatur: Dieser Schwerpunkt, der im Wesentlichen Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung ist, wird in vier systematische Teilaspekte untergliedert:

3a. Dichterische Nachahmung von musikalischen Ausdrucksformen (Klangmalerei, rhythmische Strukturen etc.)

3b. Form- und Strukturparallelen zwischen musikalischen und literarischen Kompositionen (Sonate, Fuge, Leitmotivtechnik etc.)

3c. Beschreibung existierender oder fingierter Musikwerke in der Literatur (verbal music)

3d. Der Topos des Musikalischen in der Literatur, Musikerfiguren als Protagonisten, Wechselwirkungen zwischen literarischen und musikalischen Epochen, Dichter als Musiker und Musikkritiker (vgl. ebd.). [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.