II.2.7 Lyrikanalyse

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Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

2.7 Lyrikanalyse

Lyrikbegriffe

Dass es eigene Regeln für die Analyse und Interpretation lyrischer Gedichte und nur für sie gibt, darf bezweifelt werden; auch für sie gelten vielmehr zunächst die allgemeinen Prinzipien der Hermeneutik. Gleichwohl sind bei der Lyrikanalyse bestimmte gattungsspezifische Aspekte zu berücksichtigen. Welche als solche angesehen werden können, etwa Eigenarten der Sprache oder der Form, hängt in der Regel von dem vorausgesetzten Lyrikbegriff ab: Die Frage, wie man ein lyrisches Gedicht interpretiert, ist eng mit der Frage verbunden, was Lyrik ist.

Allerdings besteht gegenwärtig in der Forschung keine allgemeine Übereinkunft darüber, was ein lyrisches Gedicht ausmacht. Das ist angesichts der Komplexität und der großen, schier unüberschaubaren Geschichte der Gattung auch kaum zu erwarten, zumal an deren Theorie nicht nur Literaturwissenschaftler, sondern auch z. B. Ästhetiker, Philosophen, Soziologen, Linguisten und nicht zuletzt Lyriker selbst gearbeitet haben. Deshalb ist auch die Behauptung: »Es gibt keine Theorie der Lyrik oder des Lyrischen so wie es eine Theorie des Dramatischen oder des Erzählerischen gibt« nicht recht nachzuvollziehen. Tatsächlich hat die Literaturwissenschaft seit der Mitte des 20. Jh.s eine ganze Reihe von einschlägigen theoretischen Versuchen vorgelegt.

Im Wesentlichen lassen sich dabei fünf verschiedene Positionen ausmachen: die Subjektivitätstheorie, die additive Theorie, die Sprachtheorie, die Formtheorie und eine Kombination aus Sprachund Formtheorie (vgl. Lamping 2000a, 55 ff.). Zumeist sind diese Theorien noch einmal in sich differenziert, der Übersichtlichkeit halber sollen sie im Folgenden jedoch nur knapp, exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit anhand der jeweils wichtigsten Arbeiten dargestellt und dabei kritisch diskutiert werden.

Die Subjektivitätstheorie der Lyrik

Die Subjektivitätstheorie ist bis heute das wirkungsmächtigste Paradigma der Lyrikforschung. Sie ist zugleich das traditionsreichste. Die Subjektivitätstheorie geht auf Georg Friedrich Wilhelm Hegel zurück, der die Lyrik in seinen Vorlesungen zur Ästhetik durch »das betrachtende, empfindende Ge- müt« bestimmt hat, »das, statt zu Handlungen fortzugehen, bei sich als Innerlichkeit stehen bleibt und sich deshalb auch das Sichaussprechen des Subjekts zur einzigen Form und zum letzten Ziel nehmen kann«. In der Nachfolge Hegels hat Friedrich Theodor Vischer in seiner Ästhetik die Subjektivitätstheorie der Lyrik systematisch ausformuliert. Auf ihn vor allem hat sich dann auch Emil Staiger bezogen, der allerdings den bei Vischer (und Hegel) noch einigermaßen großzügigen Lyrikbegriff erheblich eingeengt hat: auf das, was bei Vischer »die wahre lyrische Mitte« heißt. Gleichwohl ist Staigers Lyriktheorie in der Zeit nach 1945 maßgeblich geworden. [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.