II.2.8.1 Sachbücher und -texte

Leseprobe

Von Stephan PorombkaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Porombka

2.8.1 Sachbücher und -texte

Die erste Forschungsphase

Mit Sachliteratur tut sich die Literaturwissenschaft traditionell schwer. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Sachtexte eben keine literarischen Texte sind und sich stattdessen in einem schwer kartografierbaren Gebiet zwischen Fachbuch, Literatur, Publizistik, Lehrmittel, Gebrauchs- und Unterhaltungsliteratur bewegen, ohne sich eindeutig festlegen zu lassen. Die Literaturwissenschaft hat dieses Gebiet lange Zeit ignoriert. Das hat dazu geführt, dass sich keine genuin literaturwissenschaftliche Sachtextforschung entwickelt hat (vgl. Oels 2005). So ist bis heute unklar, wann die Geschichte des Sachbuchs beginnt. Darüber hinaus sind die Biografien, Schreibstrategien und Poetologien der Autoren ebenso wenig erforscht wie die Rezeptionshaltungen der Sachbuchleser oder die Produktionsstrategien jener Verlage, die Sachliteratur auf den Markt bringen. Überhaupt sind die meisten Texte nicht mehr greifbar, weil sie bis in die Gegenwart nur in Ausnahmefällen als sammlungswürdig eingestuft worden sind.

Die erste Phase der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Sachtexten beginnt in den 1960er Jahren als direkte Reaktion auf die Hochkonjunktur der Sachbücher, die der Belletristik auf dem Buchmarkt den Rang ablaufen. Das wird durchaus positiv als Zeichen für die Durchsetzung der Informations- und Wissensgesellschaft interpretiert, in der sich auch die ›breite Masse‹ zunehmend für wissenschaftliche und technische Entwicklungen interessiert bzw. interessieren muss, um up to date zu bleiben. Gleichwohl sieht man in den Literaturwissenschaften Handlungsbedarf. Weil ausgerechnet jene populären Sachbücher am erfolgreichsten sind, die auf die Gesetze des Buchmarkts zugeschnitten sind und mit zweifelhaften Thesen und reißerischen Erzählweisen operieren, geht es darum, die konkrete gesellschaftliche Aufgabe von Sachtexten neu zu klären. Das Ergebnis lautet: Sie sollen Aufklärungsarbeit leisten, indem sie die Sprache der Fachleute in die der Laien übersetzen. Damit sollen sie den Leser weiterbilden und ihm ermöglichen, sich kritisch mit den Entdeckungen und Entwicklungen auseinanderzusetzen, die seine Lebenswelt mittel- bis langfristig verändern werden.

Für die literaturwissenschaftliche Analyse, die von diesen Voraussetzungen ausgeht, steht die Frage im Vordergrund, welche didaktischen und literarischen Mittel zum Einsatz kommen, durch die der jeweilige Stoff aufbereitet wird. Dabei werden komplizierte Sachverhalte – unter Vermeidung von Fachterminologie und komplexen Satzstrukturen – vereinfacht dargestellt und in die konkrete Erfahrungswelt des Lesers übersetzt. Abstrakte Zusammenhänge werden durch Analogiebeispiele leichter verständlich gemacht oder komplexe Forschungsprozesse in Erzählungen übersetzt, in deren Mittelpunkt die Auseinandersetzung der Wissenschaftler mit ihrem jeweiligen Gegenstand steht. Dabei kann ein Erzähler zum Einsatz kommen, der wie ein Reporter oder Abenteurer von der Erforschung eines fremden (Themen-)Gebietes berichtet und den Leser an seinen Entdeckungen teilhaben lässt. Auf diesem Weg können sich sachliche Darstellungen in exemplarische Lehrerzählungen verwandeln, die sich auch als Abenteuergeschichte lesen lassen. Auch kann die Schilderung historischer oder aktueller Ereignisse szenisch derart ausgeschmückt oder mit viel Vorstellungskraft komplettiert werden, dass etwa eine Biografie als erlebte Lebensgeschichte vorgestellt oder nacherlebt wird. Nicht zuletzt kann die Erzählung so offensiv den Regeln des Krimis, des Thrillers oder der Abenteuergeschichte folgen, dass das Sachbuch dann selbst als ›Wissenschafts- Story‹, ›Sachbuch-Thriller‹ oder Ähnliches angeboten wird.

Wo dann immer noch mit ›wahren‹ Begebenheiten, ›wirklichen‹ Biografien oder ›echten‹ Dokumenten gearbeitet wird, aber die Erzählung selbst so eigenständig ist, dass sie sich von der Wirklichkeit und Wahrheit entfernt, entsteht das, was ›Doku-Fiktion‹, ›Reality-Fiction‹ oder ›Faction‹ genannt wird. Dieser Fiktionalisierung kann im Sachtext durch eine wissenschaftliche Versachlichung entgegengearbeitet werden: etwa durch den Einsatz von Grafiken und Fotografien, erläuternden Anmerkungen, Glossaren, Zeittafeln, Personen- und Sachregistern und Bibliografien. Zudem übernehmen die Titel, Untertitel, Klappentexte, Vorworte und Nachworte eine wichtige Funktion. Hier wird implizit und explizit die Glaubwürdigkeit von Autor und Text behauptet, dazu werden Leseanweisungen gegeben und Nutzungsvorschläge formuliert, die den Gebrauchswert des Sachtextes für den Leser bestimmen. [...]

Leseprobe aus  dem Handbuch Literaturwissenschaft. Sie können den Handbuch-Artikel nach Anklicken der Zeile „Leserbrief schreiben“ rechts unten auf dieser Seite kommentieren.