II.5. Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft

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Von Tilmann KöppeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tilmann Köppe und Simone WinkoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Winko

5. Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft

Im literaturwissenschaftlichen Umgang mit Literatur sind mindestens sechs Ziele institutionell etabliert:

1. Sichern der Textgrundlage, Herstellen verlässlicher Texte: Theorie und Methoden der Edition und Textkritik (vgl. II.1.1) 2. Analysieren und Deuten der Texte: Methoden der Textanalyse und Interpretationstheorien 3. Rekonstruktion der geschichtlichen Entwicklung von Literatur: Theorien und Methoden der Literaturgeschichtsschreibung (vgl. II.4) 4. Analyse von Handlungen im Umgang mit Li- teratur: soziologische und psychologische Theorien und Methoden 5. Erklärungen für das Phänomen ›Literatur‹: Evolutionsbiologische und anthropologische Theorien 6. Wertung von Literatur (vgl. II.3)

In diesem Kapitel geht es um die Ziele (2), (4) und (5). Um diese Ziele zu erreichen, hat die Literaturwissenschaft diverse Theorien und Methoden entwickelt. Die unterschiedlich verwendeten Begriffe ›Theorie‹ und ›Methode‹ bedürfen allerdings der Klärung.

5.1 Begriffsklärungen

Ob es überhaupt sinnvoll ist, von Verfahrensweisen im Umgang mit Literatur als ›Methoden‹ zu sprechen, ist in der Literaturwissenschaft umstritten. Impliziert dieser Begriff streng genommen doch wissenschaftliche Bedingungen, denen das Analysieren und Interpretieren von Literatur nicht genügen kann und will. Eine Methode im engeren Sinne etwa der naturwissenschaftlich experimentellen Verfahren oder des logisch-deduktiven Folgerns muss klare Anweisungen zur Abfolge festgelegter Schritte enthalten, die zu wiederholbaren Ergebnissen führen. Verfahren zur Analyse oder Interpretation dagegen verfügen im Regelfall weder über solche klaren Anweisungen noch über eine festgelegte Abfolge von Untersuchungsschritten, und ihre Ergebnisse, etwa die von Gedichtinterpretationen, sind nicht exakt reproduzierbar. Dennoch weisen auch diese Verfahren Regelmäßigkeiten auf, die es erlauben, sie als Methoden in einem schwächeren Sinne aufzufassen. Um von ›Methode‹ sprechen zu können, müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Es muss explizite oder post festum explizierbare Ziele und verfahrenstechnische Annahmen darüber geben, auf welchem Weg die Ziele am geeignetsten einzulösen sind, sowie eingeführte Begriffe, mit denen die Ergebnisse im wissenschaftlichen Text dokumentiert werden. Formuliert werden diese Ziele, Annahmen und Begriffe im Rahmen einer Literaturtheorie.

Der Begriff ›Theorie‹ kommt, als Kompositum mit ›Literatur‹, im Singular und im Plural vor und bezeichnet jeweils Unterschiedliches. Mit dem Be- griff ›Literaturtheorie‹ wird ein Teilbereich der Literaturwissenschaft neben anderen Bereichen wie Literaturgeschichte oder Editionsphilologie bezeichnet. Die Literaturtheorie als disziplinärer Teilbereich befasst sich mit Grundlagenproblemen der Theoriebildung und Methodologie in der Literaturwissenschaft sowie mit den verschiedenen gegenstandsbezogenen Theorien, die über die Bedingungen der Produktion und Rezeption von Literatur sowie über ihre Beschaffenheit und ihre Funktionen aufgestellt worden sind. Diese werden ›Literaturtheorien‹ genannt. ›Literaturtheorie‹ im Singular bezeichnet also einen Bereich übergeordneter, reflexiver Tätigkeit, in dem u. a. die diversen einzelnen Literaturtheorien bzw. literaturtheoretischen Ansätze untersucht werden.

In welchem Sinne diese Ansätze den Status von Theorien haben, ist im Fach umstritten. Wie im Falle von ›Methode‹ gibt es, wissenschaftstheoretisch betrachtet, auch für Theorien im naturwissenschaftlichen oder philosophischen Sinne Bedingungen, die die ›Literaturtheorien‹ genannten Konstruktionen nicht erfüllen. Daher wurde vorgeschlagen, anstatt von ›Theorien‹ in einem unverbindlicheren Sinne von ›Positionen‹ oder ›Modellen‹ zu sprechen. Jedoch handelt es sich auch bei den hier in Frage stehenden Literaturtheorien um Theorien in einem präzisen Sinne, selbst wenn der Begriff in einem schwächeren Verständnis als in den Naturwissenschaften verwendet wird: Auch Literaturtheorien enthalten Sätze mit intersubjektivem Geltungsanspruch, die »vor allem der Zusammenfassung, Koordination, Reproduktion, Erklärung und Voraussage von Phänomenen« dienen; sie grenzen wissenschaftliches Wissen von nicht-wissenschaftlichem Alltagswissen ab und gelten nur für einen bestimmten Gegenstandsbereich.

Formal betrachtet, setzen sich Literaturtheorien aus verschiedenen Elementen zusammen. Sie bestehen (1) aus Axiomen, das sind Grundannahmen, und aus weitergehenden Annahmen. Die Grundannahmen bilden gewissermaßen das Fundament, auf dem komplexere Annahmen der Theorie aufbauen. […]

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