Krümel von seinem Tisch

Wurde in letzter Zeit über Wolfgang Koeppen geschrieben, so meist in einem hochdramatischen, wenn nicht alarmierenden Tonfall. Im Übergang zum Untergang – Über das Schweigen Wolfgang Koeppens war ein 1972 in den Akzenten gedruckter Beitrag betitelt.[1] Und eine Tageszeitung versah (ebenfalls im vergangenen Jahr) ihr „Gespräch mit Wolfgang Koeppen über sein Schweigen“ mit der doch etwas kühnen Schlagzeile: Viel schlimmer bin ich dran als Hiob. Kein Artikel über Koeppen ohne die Vokabeln „Melancholie“ und „Resignation“ und, natürlich, „Schweigen“.

Das ist ja auch sehr ernst. Nur habe ich den Eindruck, daß Koeppens vielzitiertes Schweigen für die literarische Öffentlichkeit der Bundesrepublik attraktiver geworden ist, als es je sein Schreiben war. Über eine Produktionspause oder eine Krise im Leben eines bedeutenden Schriftstellers läßt sich freilich gemütlicher und leichter meditieren als über seine eigentliche Produktion. Der Koeppen-Mythos, den es mittlerweile gibt, zeichnet sich überdies durch allerlei Vorwürfe und Anklagen aus, deren Adresse nicht ganz klar ist. Einerseits scheint es, als wolle man die Gesellschaft oder die Bundesrepublik oder den kapitalistischen Kulturbetrieb dafür verantwortlich machen, daß der Siebenundsechzigjährige seit einiger Zeit keine Bücher mehr publiziert. Andererseits verübelt man offenbar Koeppen, daß er sein Soll nicht erfüllt.

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Aus Marcel Reich-Ranicki: Wolfgang Koeppen. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2016 (Sonderausgabe von literaturkritik.de)