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Vogelweide

Roman

Von Uwe Timm


Bories vom Berg schrieb uns am 08.04.2022
Thema: Uwe Timm: Vogelweide

Reif für die Insel

Als ehemaliger 68er beschreibt Uwe Timm in seinem neuen Roman ein Milieu von saturierten Wohlstandsbürgern, dem damals, wie wir heute wissen allerdings vergeblich, heftige Proteste und Demonstrationen galten, bei denen schließlich sein Freund Benno Ohnesorg erschossen wurde. Vor einem bourgeoisen Hintergrund also entwickelt sich eine Amour fou, und den «Wahlverwandtschaften» vergleichbar lieben sich schließlich zwei Paare «über Kreuz». Mit dem von Goethes Romantitel adaptierten Begriff der Triebkraft einer chemischen Reaktion wird sehr treffend das Zwanghafte bei der Leidenschaft verdeutlicht, die ja nicht selten, so auch hier, im Chaos endet. Eine Ménage-à-quatre nämlich wollen die Protagonisten nicht eingehen.

Erzählt wird in diesem Roman die Geschichte von Christian Eschenbach, einem einst erfolgreichen Software-Unternehmer, der sich nach seinem Konkurs mit Gelegenheitsjobs durchschlägt und auf der unbewohnten Nordseeinsel Scharhörn als Vogelwart lebt. Er erwartet seine ehemalige Geliebte Anna, die ihn nach sechs Jahren erstmals wieder treffen will, kurzfristig ihren Besuch auf der Insel angekündigt hat. In breit angelegten, fast das ganze Buch füllenden Rückblenden erzählt der Autor von der Leidenschaft zwischen dem mit der Silberschmiedin Selma liierten Unternehmer Christian, der von Ehefrau und erwachsener Tochter getrennt lebt, und Anna, einer Lehrerin für Latein und Kunst, die mit dem erfolgreichen Architekten Ewald glücklich verheiratet ist. Anna hält dem psychischen Druck des Seitensprungs nicht lange stand, fühlt sich zutiefst im Unrecht, schließlich macht sie endgültig Schluss mit Christian, beichtet ihrem Mann die Liaison und verlässt ihn, zieht mit den Kindern zu ihrem Bruder in die USA. Die beiden betrogenen Opfer der verhängnisvollen Amour fou finden glücklich zueinander, Selma bekommt sogar noch ein, schon lange ersehntes, Kind von Ewald. Ganz am Ende des Romans nun kommt es endlich zu dem Zusammentreffen des einst in seine Leidenschaft schicksalhaft verstrickten Paares. Beide sind inzwischen ziemlich illusionslos geworden, und auch wenn sie noch ein letztes Mal zusammen im Bett landen, bleibt ihnen letztendlich nicht viel mehr als eine nachträgliche Aufarbeitung ihrer einst so abrupten Trennung, es gibt keine gemeinsame Perspektive für sie

Uwe Timms Roman steckt voller Anspielungen, beginnend schon beim Titel, der sich auf den Minnesänger gleichen Namens bezieht, und die Hauptfigur hat ihren Namen von dessen Zeitgenossen Wolfram von Eschenbach, beide sind ja Gestalten in Wagners Liebesoper Tannhäuser. Eine «Norne» genannte Meinungsforscherin ist unschwer als Elisabeth Noelle-Neumann zu identifizieren, der vom Wal verschluckte biblische Prophet Jonas ist Namensgeber für Annas Kind, das sie bald nach ihrer Übersiedlung in den USA bekommt. Dies und Dutzende weitere Bezüge überfrachten die Geschichte regelrecht.

Der Konflikt zwischen Begierde und Vernunft wird in ausgedehnten philosophischen Meditationen des einsamen Helden auf der Insel vor dem Leser ausgebreitet, ruhig und gelassen erzählt, allerdings völlig altmodisch anmutend, geradezu der Zeit entrückt in seiner rigiden Ehemoral. Anders als bei «Effi Briest» gibt es hier wenigsten kein Duell mehr. Die weibliche Sehnsuchtsfigur Anna bleibt ungewöhnlich blass, Begehren und Leidenschaft, gar Liebeswahnsinn wird nicht glaubhaft vermittelt bei diesem seltsam coolen Paar. Wer «Die Entdeckung der Currywurst» gelesen hat von Uwe Timm mit wahrlich mitreißendem Plot, der dürfte hier ziemlich enttäuscht sein. Nur der kauzige englische Freund am Telefon war mir da zuweilen ein Lichtblick mit seinen erstaunlichen Reflexionen, und dann gibt es ja auch noch die zweite Erzählebene, die Vogelinsel mit ihrem einsamen Bewohner und ihrer Natur. Da erfährt man dann unter anderem vom unterschiedlichen Liebesleben der Vögel, von denen sich, wenn wundert’s, die Spatzen als besonders promiskuitiv und schamlos erweisen.

Fazit: mäßig
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