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Du hättest gehen sollen

Von Daniel Kehlmann


Dennis Gerstenberger schrieb uns am 07.01.2017
Thema: Daniel Kehlmann: Du hättest gehen sollen

Der auktoriale Kehlmann

Du hättest gehen sollen ist nicht nur ein Schauerroman, sondern eine echte Knobelaufgabe

Von Dennis Gerstenberger

Ein Ehepaar mit ihrer 4jährigen Tochter will in einem abgelegenen Haus in den Bergen ein paar Tage Urlaub machen. Der Vater und Ich-Erzähler versucht sich an der Fortsetzung seines erfolgreichen Drehbuchs Allerbeste Freundin. Doch läuft es nicht gut, auch nicht in seiner Ehe. Er streitet permanent mit seiner Frau, die am vierten Abend die beiden verlässt. Der Ich-Erzähler muss also allein für sich und seine Tochter sorgen, doch geschehen seltsame Dinge, die Realität gerät aus den Fugen. Es fängt beim Einkaufen im Dorf an, wo der eigensinnige Verkäufer und eine Frau mit seltsamen Augen ihm den Ratschlag geben, das angemietete Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Er will diesem Ratschlag folgen, schafft es jedoch wegen des Streits mit seiner Frau nicht rechtzeitig. Nachts sind nun Geräusche zu hören, Menschen oder Geister tauchen auf, der rechte Winkel hat keine 90 Grad und er kein Spiegelbild mehr. Beim Hinausgehen aus einem Raum gelangt er wieder in dasselbe Zimmer hinein. Es wird immer unheimlicher, der Mann kriegt es mit der Angst zu tun, kann seine Frau telefonisch nicht erreichen. Sie taucht doch noch auf, holt ihre Tochter ab und lässt ihren Mann auf seinen Wunsch hin allein im Spukhaus zurück. Der letzte Satz endet unfertig, fast vier leere, nummerierte Seiten schließen sich an.

Die Skizze des Inhalts lässt bereits erahnen, dass die Erzählung vielerlei Anhaltspunkte zum Weiterdenken und Interpretieren bietet, weil sie mehrschichtig ist und etliche Elemente anderer berühmter Werke aufgreift. Zum einen das Setting, das sehr stark an The Shining von Stephen King erinnert. Dann finden sich phantastische Elemente, die aus Der Sandmann von E.T.A. Hoffmann stammen könnten; die Liste ließe sich leicht verlängern. Man könnte meinen, es handelt sich um einen Horror- oder Gruselroman, doch bietet die Erzählung mehr. Denn Kehlmann schafft es, aus dem Sammelsurium etwas Neues zu konstruieren, dem Geschehen seinen eigenen Stempel aufzudrücken und in eine neue Dimension vorzustoßen.

Der naheliegendste Erklärungsversuch ist, das Geschehen als Beschreibung der Realität zu verstehen. Der namenlose Ich-Erzähler, der etwa 40 Jahre alt ist, wird allmählich verrückt. Aus seiner gestörten Wahrnehmung gerät die Realität aus den Fugen. Dieser Deutungsversucht trägt jedoch nicht weit genug, weil auch alle anderen auftretenden Figuren bemerken, dass in dem Haus etwas nicht stimmt. Sowohl Ehefrau als auch Tochter bemerken die Anomalitäten und kommentieren sie. Und der Verkäufer im Dorf weiß sowieso davon. Eine psychologische Deutung kann das Geschehen demzufolge nicht erklären.

Ein Trick hilft, das Geschehen zu verstehen. Ein Trick, den Kehlmann selbst zur Sprache bringt. Zunächst sind zwei fiktive Ebenen vorhanden: Der Ich-Erzähler ist Herr über das von ihm geschaffene Drehbuch und seine darin auftretenden Figuren, insbesondere die allerbesten Freundinnen Jana und Ella. Er kann sie nach seinem Gutdünken behandeln. Ein plötzlicher Fahrradunfall gleich am Ende des ersten Absatzes der Erzählung zeugt von der Allmacht des Schöpfers und gleichzeitig von seiner Abneigung ihnen gegenüber, da sie ihn nicht wirklich interessieren. Doch ist er zum Schreiben gezwungen, sonst wird er durch einen anderen Schreiberling ersetzt.

Entscheidend ist die Beziehung Schöpfer-Schöpfung, also Autor-Figur, die in einem absoluten Abhängigkeitsverhältnis steht: Die Figuren Jana und Ella sind Erfindungen des Drehbuchautors. Genauso verhält es sich zwischen Kehlmann und dem Ich-Erzähler von Du hättest gehen sollen. So wie der Ich-Erzähler mit seinen Figuren unfair oder gar brutal umgehen kann, so steht es auch in der Macht Kehlmanns, den Drehbuchautor nach Belieben zu schikanieren, zu täuschen oder im Unwissen zu lassen. Im Laufe der Erzählung wird der Ich-Erzähler immer mehr zu einer Figur degradiert, zu Kehlmanns Marionette. Am Anfang ist er selbst ein Schöpfer, doch allmählich wird er zur Schachfigur des Verfassers und kann sich sein Schicksal weder erklären noch sich dagegen wehren. Dabei verschmilzt er immer mehr mit seinem eigenen Drehbuch: Sein Notizbuch dient zunächst dazu, die fiktiven Jana und Ella zu beschreiben, doch schleichen sich immer mehr Tagebucheinträge ein und am Ende scheint der Ich-Erzähler verschwunden und in seinem eigenen Buch aufgegangen zu sein. Die beiden Ebenen der Erzählung verschmelzen zu einer einzigen, zurück bleiben nur die Fiktion und die Realitätsebene, in der Kehlmann der Autor und Demiurg ist.

Den Schlüssel zu dieser Interpretation legt uns Kehlmann selbst in die Hand: Sein Drehbuchautor stellt sich vor, wie es wäre, ein auf Papier gezeichnetes Wesen zu sein, das nur zwei Dimensionen kennt. Alles, was außerhalb stattfindet, kann es sich nicht erklären, es bliebe notwendigerweise unverständlich und wäre demzufolge ein Wunder. Der Ich-Erzähler kann sich innerhalb seiner Dimensionen genauso wenig erklären, dass es eine Macht außerhalb seiner Welt gibt, die nach Belieben in seine Realität eingreifen kann.

Kehlmann greift immer wieder bewusst in seine Romanhandlung ein. Seine Herrschaft über das Geschehen verdeutlicht er beispielsweise explizit in seinem Roman Ruhm, wo er als Figur sichtbar wird und direkt in das Geschehen eingreift, indem er seiner todkranken Protagonistin Rosalie wieder die Jugend schenkt. Er spielt mit seiner Allmacht und offenbart sie dem Leser. Auch Gauß und Humboldt sind in Die Vermessung der Welt nichts anderes als Figuren Kehlmanns, die er nach Belieben für seine Zwecke benutzt. In Du hättest gehen können ist dieser Eingriff nicht offensichtlich, aber doch deutlich spürbar.
Das alles kann Kehlmann in einer andeutungsreichen und verschachtelten Geschichte erzählen. Er gibt uns einige Hinweise und Andeutungen und hat letztlich ein gruseliges und kurzweiliges Werk geschaffen, eine elegante Knobelaufgabe mit präzisen, knappen Dialogen und tragendem Spannungsbogen, was insgesamt von der Lust des Autors am Fabulieren zeugt. Du hättest gehen sollen ist der gelungene Versuch des Autors, mit seinen Figuren zu spielen. Schon das Titelbild zeugt von den unterschiedlichen Standpunkten, selbst das "Du" des Titels ist zweideutig. Zum einen könnte es der Ich-Erzähler selbst sein, der sich darüber ärgert, einst nicht gegangen zu sein. Aber es kann auch Kehlmann sein, der zu seiner Figur spricht.

Diese im wortwörtlichen Sinne transzendente Interpretation eröffnet eine neue Dimension der Erzählung. Sie ist metaphysisch, vielleicht sogar theologisch angehaucht. Jedenfalls bietet und der Autor weit mehr als bloß eine Schauergeschichte.

Bibliografische Angabe
Daniel Kehlmann: Du hättest gehen sollen. Erzählung
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2016
95 Seiten, 15 Euro ISBN 9783498035730

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