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Statt etwas oder Der letzte Rank

Roman

Von Martin Walser


Günther M. Doliwa schrieb uns am 30.01.2017
Thema: Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank

Über allem Barmherzigkeit
Oder Vom Unglück der Missgunst zur Glückskunst der Gunst

Walser hat das Jahr der Weisheit ausgerufen. Den „Roman“ braucht man nicht zu verreißen, er wird gleich freiwillig, wie zur vorbeugenden Entkräftung jeglicher Kritik, in 52 Stücken geboten. Ihn Roman zu nennen heißt ihn verkennen. Die Frage ist, ob man nicht in Walsers Falle geht, seine „Verbergungsroutinen“, wenn man treu-brav den erotischen Episoden, Gedankenspielen, Betrachtungen, Reflexionen, Anekdoten mit entsprechenden Assoziationen folgt, um das listig-nervige Versteckspiel mit Andeutungen und Ersatznamen aufzulösen.
Das Buch ist im Rhythmus der 52 Jahreswochen angelegt. Sein Inhalt sind Skizzen, Affekte, Fantasien, Gedichte, Einfälle, die alle um Walser kreisen. Es treten keine realen Figuren auf, sondern Schemen, ja Gespenster, die den Autor heimsuchen und deren Blässe nur noch einen Hauch von Leben ahnen lässt. Doch die Gespenster, scheint es, haben ihren Schrecken verloren. Wie der Erzfeind Marcel Reich-Ranicki (1920-2013), einst „Erlkönig“ genannt, weil in seinen Armen nicht wenige Schriftsteller entschliefen. Der Kritiker soll „zeigen, ob und wie ein Autor schreiben kann.“ (Befand einst MRR in: Wer schreibt, provoziert 1966, S.160)

Im Feuer der Kritik gehärtet

Auf den ersten Blick mag es ungerecht vorkommen, wenn man gleich Walsers Oberkritiker anführt und ihm, ich betone zunächst, in fast allen Punkten Recht geben muss. Aber es verblüfft. „Mann kann nie wissen, womit er (Walser) aufwarten wird. Seine Fehlschläge ließen seinen Ruhm wachsen. Er sei ein erstaunlicher Künstler und ein miserabler Handwerker.“ (MRR, Literatur der kleinen Schritte 1971, S.51f., 164ff.) Walser sei „auf erfreuliche Weise unberechenbar. In seinen erzählerischen Werken sind seine essayistischen Partien die interessantesten. Er ist ein Meister der Psychologie.“ Es gebe auch „schauderhafte Entgleisungen. Was ihm im Privaten wie Beruflichen widerfahren ist“, benutzt er“ egozentrisch.“ „Verwertung seiner intimen Erlebnisse“ gehöre stets dazu. Obwohl Walser schon im Einhorn gesteht, er sei „vielleicht doch nicht der Kämpfer für eine neue Sittlichkeit.“ Für ihn trügen bestimmte „Wörter noch ihre sündhafte Ladung“. Kristleins (Walsers) „Scham“ sei anachronistisch.
Der Roman könne bei Walser „zerbröckeln, sich auflösen in einzelne Bestandteile, nicht nur in Episoden und Szenen, sondern auch und vor allem in Glossen und Feuilletons, in Parodien und Kommentare, in Skizzen, Aphorismen und Impressionen. Diese nichtepischen Einschübe scheinen mir die besten Abschnitte zu sein…“
Das klingt wie eine 50 Jahre vorher hellsichtig vorweggenommene Beschreibung von Der letzte Rank, 2017. Walser scheint sich gleich auf seine Stärken konzentriert zu haben. Was für „ein Könner“ Martin Walser ist, anerkennt der spätere Literaturpapst bereits 1967: Walser beobachte meisterhaft, formuliere virtuos, parodiere witzig, kommentiere geistreich, lege diskursiv dar. (Wer schreibt…S.168) Wenn das keine Verbeugung ist! Die sinnlich erfahrbare Welt entziehe sich aber Walsers Feder. Eine epische Welt könne er weder „andeuten, geschweige denn schaffen.“ Unter großen Gefühlen und Leidenschaften „bricht seine Kunst zusammen.“ Seine „ungeheuerliche Beredsamkeit“ arte bisweilen aus in „pure Geschwätzigkeit“. Setze seine Selbstkontrolle aus, werde er „sich selber eine einzige Akklamation.“ Soweit Reich-Ranicki 1967.
Wie urteilen Rezensenten heute? „Es dürfe gerätselt werden. Nichts als Sprache“ (Stuttgarter Zeitung). „Entlarvend und verbergend zugleich“ (Welt n24). „Literarisches Hakenschlagen.“ (NDR) „Kokett-narzisstische Walser-Prosa. Schwer erträglich.“ (Spiegel-online) „Nichts Neues“ (Tages-spiegel) „Freunde sind hier nicht vorgesehen“ (FAZ). „Letzte Fluchten“ (Zeit-online). „Meine Feinde“ (SZ) Das trifft teils zu, aber doch daneben. Ich komme zu einem anderen Ergebnis als die  landläufige, feuilletonübliche, gegen Walser angestrengte Kritik. Die Frage ist: Wie versteht man den Autor recht? Je nachdem wie das Feuilleton aufnimmt, ob wohlwollend, vorurteilsgeladen oder herantastend, dementsprechend  fallen die Einschätzungen aus. Fingerspitzengefühl und Takt können nie schaden.

Heimsuchung durch Wort-Gespenster

Walser ist kein Anfänger, er ist ein Alt-Meister seines Fachs. Satzlosigkeit will er, Musterlosigkeit, Abschied von Attraktionen und Theorien, aber satzverliebt, wörterverliebt wie er immer noch ist, zaubert er makellose Sätze. „Zu träumen genügt. Unfassbar sein wie eine Wolke, die schwebt.“ (62) Nicht verstummen können, aber nicht vorstellbar sein wollen, sein Dilemma. Macht seinen Mund auf, weckt Interesse, behauptet nichts mehr zu wollen, atmet in Sätzen, die schweben. Martin Walser, der am 24. März 90 Jahre alt wird, schenkt uns, ohne Larmoyanz, so diskret wie ihm möglich, nicht ohne (leichte) Anflüge von Eitelkeit, eine beachtlich intime Selbstanalyse. Im Grunde ist es eine Selbstbetrachtung, die ausgeht vom Unglück der Missgunst und endet beim Glück der Gunst. Über allem waltet Barmherzigkeit. Von Kapitel zu Kapitel, entsteht vor unseren Augen zwar kein Roman, aber ein Anekdotenbaum. Ein Aphorismen-Strauß. Ein Psychogramm von „Verbergungsroutinen“, von denen er 1998 in der Paulskirche sprach. Da arbeitet sich einer, der kunstvoll mit Worten jonglieren kann, der spüren muss, was Worte bewirken, durch das Unerträgliche erlittener Fehlanzeigen, durch die von klein auf erlernte Fälschung der Gefühle beim Umgang mit Frauen zum Empfang der Verantwortung im „Salon der Wahrheit“, ja bis zur Barmherzigkeit. Da verarbeitet einer die Heimsuchung durch das Übel-Wort eines seiner Kritiker: „Mir geht es ein bisschen zu gut.“ (7) Vom Unglück der Missgunst also geht das Buch aus. Wie viele Menschen haben solch einen Entwertungssatz gehört, der ihre Lebensfreude zügeln sollte! Dir geht es ein bisschen zu gut! Pass auf! Die Strafe folgt auf dem Fuß. Glück geht nicht ungestraft.

Unwahrheit rühmen

Das Paket ist nur falsch deklariert. Das, was es sein will, ist es nicht. Aber als das, was es ist - ein geistreiches Bündel von Reflexionen, Epigrammen, Maximen - als das ist es anregend, eine um Verständnis werbende Lebensbilanz. Es klingt paradox, mit dem Rühmen der Unwahrheit der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen zu wollen. Über allem könnte als alternativer Titel stehen: Unwahrheit rühmen. Um nur Wahrheiten zu verkünden, als Wahrheitssager, bist du im Grunde „unter Menschen nicht mehr möglich.“ Die Kunst der Fuge ist die Kunst der Lüge. „Die Kunst der Fuge bzw. die Fähigkeit, mit der Unwahrheit ein Glückskunstwerk zu schaffen, das ist die menschliche Fähigkeit überhaupt. Keine ist edler und menschenfreundlicher als sie.“ (69) So klingt Walsers literarisches Credo. Ich glaube allerdings, dass es die verdrängte, wieder und neu entdeckte dialektische Wahrheit ist, die frei macht, auf diese literarische Art Zeugnis abzulegen von einem spannungsreichen, schmerzsatten, wiesenblühendem Leben.
Martin Walser rankt mit „Statt etwas oder Der letzte Rank“ (also einem hilfreichen Ausweg oder einer gerissenen Wendung, um Verfolger abzuschütteln) ein offenes Geheimnis um sich. Seine Beredsamkeit wirkt gezähmt. Der Leser kann sich auf Wendung über Wendung, Rank über Rank, Knick über Knick, gefasst machen. Skizzen machen noch keinen Roman. Einzelmotive werden nicht mit Erzählkraft gebündelt, sondern in Momentaufnahmen zerstreut. Weibliche Figuren tragen Brüste, weidmannshaft beschrieben, duften aber nicht. Die alte Schwäche!
Der aktuelle Walser-Text erzählt nicht viel – er bekennt. „Mein Mund war eine gute Wehr.“ (67) Das klingt schwer nach Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott.“ Darin wird die Forderung sichtbar: Nutze dein Mundwerk, wandere aus Gewissheiten aus, die Wand, vor der du stehst, hat Wort-Überraschungen für dich bereit: unvorstellbar schön, unverstellbar wahr, uneinholbar für die nicht auf ewig bösen Verfolger. Wem also?
Freunden wie Gegnern sowie dem Hauptfeind, auf den jeder ein Schicksalsrecht zu haben scheint, weil er sein „Alter Ego“ darstellt. Auch den Frauen und Witwen, die ihn mit ihren Geschichten behelligen, die er angeblich nur aus „Mitleid“ tröstet mit seinem Wortvorrat und die nebenbei seine geheimen Lüste befriedigen. Alle führen zu ihm selbst, ins Zentrum, in die Tiefe seiner eingepaukten Verbote seiner als „sündhaft“ empfundenen Regungen. Walser stammt aus dem katholischen Bayern. Nicht nur da gibt es Aufklärungsbedarf über sich selbst unterhalb der majestätisch krönenden Alpen.

Vom utopischen Charakter der Existenz

Von der Mausefalle der Existenz spricht er. Die zwingt uns in den Grundwiderspruch, mehr zu wollen als was ist. Existenz trägt einen utopischen Charakter in sich. Etwas fehlt. Zeit etwa. Zeit mustern. Die leere Wand betrachten, auf der kein Menetekel erscheint. Bis ein Wort sich wie von selbst hinschreibt, das ein Rätsel bleibt. Das Leben von einer höheren Warte überschauen. Könnte ausarten zur Selbstbespiegelung, Selbstbezichtigung, zu einer Selbstbeschimpfungsorgie. Tut es aber nicht. Es geht um ihn höchst selbst. Hilferufe übertönte er angeblich durch Ausstoßen eigener Notrufe. Selbstliebe auf die Spitze treiben, dass sie schrecklich wird. Atmen schon als Geständnis, nicht damit aufhören zu wollen. Eingesenkte Anpassungsprogramme, Fremdsteuerung, ohnmächtig geübt, wirken sich aus bei ihm; ein ganzes langes Leben wirken sie nach. Erwartungen erfüllen, die ihm zuwiderlaufen. Konventionen und Kontinuität einüben, die eigenen Erkenntnissen widersprechen. Moral lernen, statt seinen Gefühlen nachspüren. „Das Sich-beherrschen ist immer eine Fälschung der Gefühle.“ Er komme sich „unwach, geduldig, weltfremd“ vor. Er habe Anwandlungen, Gefühle los zu werden, indem er sie weitersagt, gegen die Drohung, es durch Aussprechen nur schlimmer zu machen. Im Grunde kommt ja das ganze Zeitalter mit dem Wechsel der Empfindungen nicht klar. Walser gönnt der Draußenwelt nicht den Triumph zu erfahren, was ihm, in ihm passiert. Also redet er kryptisch oder schweigt. Aber weil er es nicht kann, erfindet er Figuren, Stellvertreter des Verschweigens. Aus Scheu verstummt er, lässt Romanfiguren plaudern. Mittelschwere Feigheit hat er bei sich registriert.

Dieses „ganze Treue-Brimborium“

Monogamie empfindet Walser schier als Unmöglichkeit. „Offenbar war es nicht erlaubt, zwei Menschen zugleich zu lieben.“ (49) Er verwirft (wie schon in seinem ihm auf den Leib geschnittenen Goethebuch) in später Altersgeste „das ganze Treue-Brimborium“. Vorwerfbarkeit von Seitensprüngen wird so entkräftet: „Würde jeder dem anderen genügen, gäbe es keine Untreue.“ (50) Das wäre nun wirklich ein Satz für die Gegenwart. Weshalb genügen sich Menschen nicht? (MRR: „Walser, der deutschen Gegenwart immer noch nicht gewachsen?“) „Genug kann nie genügen…“ (K. Wecker) Weshalb ist dieser Störfaktor in alle Beziehungen eingebaut wie ein Schöpfungsmuster? Welche Liebe genügt? Kommen wir ohne Überschreitung des Liebesbegriffs überhaupt zurecht? Leider wenig dazu von Walser. Aber eine Andeutung von Gnade in der Erfahrung von Barmherzigkeit am Schluss.
Walser lässt in seine Erziehung und Gefühlsdressur blicken. Er habe „sich selber zugerichtet.“ Dies verursachte ein „Mundbeben“ bei ihm. Fluchtimpulse. Andere, Verfolger, lasen darin Aggression. Unaufhörlich plauderte er aus, warf Perlen hin vor andere, die er, höflich wie er ist, nicht wagt, Säue zu nennen. „Hinrichten musst du das Gefühl, jedes.“ (51) Der Haltlose hielt sich fest am Blatt Papier und - nicht ohne Gefahr - an seiner wechselnden Größe. Unbescheidene Vergleiche schleichen sich ein beim Großschriftsteller, dem letzten Recken seiner Zunft in Deutschland: Sokrates wäre besser dran als er. Dante hätte es als von Vergil Geführter besser gehabt als er. (S.50)

„Moral vernichtet alles“

Walser nannte einmal in einer Sendung als seine Todsünde sein Hauptlaster: Unkeuschheit (Luxuria: Ausschweifung, Wollust). Er, der von Haus aus Untreue, fühlt sich wie von Überwachungskameras beobachtet, beurteilt, geprüft. Das hat er mit jeder öffentlichen Person gemein. Daraus entspringen seine Frauengeschichten. Er merkt, wie wenig er mit sich übereinstimmt. Der Moral genügte er nie. Das Gewissen beißt jene, deren Charakter ihren Taten nicht gewachsen ist. (Nietzsche) Hier entlastet ein Selbstverborgener sein Gewissen. Seine Offenbarung, ein Selbstgeständnis. Jene, die immer richtig lägen, „die Leuchten des guten Gewissens“ (41), kennten die innerste Einsamkeit nicht. Einsam macht das Unvorzeigbare. Von Anfang an kann er nur leben, wenn er sich verstellt. Und da er gern lebt, macht ihm das Schmerzen. Er habe eindeutig zu viel sublimiert, seine Gefühle verfälscht. Er fühlt sich allgemein in dem, was er tut und denkt und sagt, verneint. Stellvertreter der Überichs treten öffentlich auf gegen ihn. Er wird sie seine Feinde nennen. Dabei hat er nur einen Hauptfeind. Der macht ihm das Leben zur Hölle mit seiner Fundamentalkritik im Namen des Großenganzen. In seinen besten Momenten erkennt Walser, dass der Über-Kritiker auch Teil in ihm selbst ist. Wie kann die Kritik hier nur übersehen, als wäre dies nichts Neues bei Walser! In der Alptraum- Szene im Eisenbahnabteil, wo alle wie in einer Hölle die Anschuldigungen endlos wiederholen. Freunde, nur Fantasie. Gegner zuhauf. Klangen, wenn sie redeten, nur nach Verachtung. Feinde erst recht, reizbare, gereizte, schütteten Schlimmes über ihn aus. Er, nur unschuldiger Anlass zu Ärger, Verdruss, Verriss? Nur Opfer?
Martin Walser hatte keine Hemmungen, „am 28. Oktober 1961, kurz nach zwei Uhr morgens auf einer Tagung der Gruppe 47 in Gegenwart mehrerer prominenter Zeugen eine kraftvoll-männliche, militärisch knappe Ansprache zu halten, in der er die Literaturkritiker aller Länder und Zeiten mehrfach und nachdrücklich als ‚Lumpenhunde‘ bezeichnete.“ (Reich-Ranicki, Wer schreibt, provoziert…S.57)
Einer der „Lumpenhunde“ vergisst nicht, einer besonders nimmt besonders übel, dass es ihm ein bisschen zu gut gehe (S.39). Dieser Satz eröffnet das Buch. Ein Lumpenhund verübelt ihm sein Wohlbefinden, missgönnt, neidet vielleicht seinen Erfolg. Walser fühlt sich selbst als Störung dessen, was nach der Weltkritik nicht sein soll. Im Namen und Rahmen des Großenganzen wird der Auftritt des Großkritikers, dessen Namen kein Geheimnis ist, stets eine „moralische Strafaktion“. Der sieht sich in Mission des untadeligen Unangreifbaren. Obwohl jener beileibe angreifbar gewesen wäre, wenn der Kritisierte sich getraut hätte, zurück zu keilen. MRR erweckt mehr Neid als Verachtung für seine „Geldgier“, seine Sexprotzereien, seine „Selbstvergrößerungssucht“ (S. 98). Dabei tadelt er souverän und vernichtend ihn, den Mangelhaften. Sein Feind sammelt Skalpe. Zum sinnhaften Beweis für das Skalpell in der Hand erwähnt der Gekränkte, dass der Feind sich nass rasiere, also mit scharfer Klinge arbeite.
Die beiden schenken sich nichts. Dazu mangelte es nicht in Walsers Charakter. Als er 2002 wagt „Tod eines Kritikers“ in den Ring zu werfen, um die Macht im Kulturbetrieb bloßzustellen, steht er im Nu selbst unter kritischem Feuer. „Opferstolz, typisch deutsche Reaktion, schäbige Abrechnung, antisemitischer Hass“ wird ihm nachgesagt. Er, umstritten wie nie. Aber jeder der Hähne hat was davon. Auch Walser schmückt sich mit seinem Feind. Groß Feind, groß Ehr! Einem Clou verdanke er seine Rettung vor dessen Klinge. Er, Walser, sei sowieso nicht erreichbar, selbst vom ärgsten Feind nicht. Er sei „allem und allen entkommen.“ Nur sich noch nicht. Und da stünde er jetzt, und könne nicht anders als die innere Distanz festzustellen, die ihm geholfen habe, mit den Anfeindungen und Böswilligkeiten fertig zu werden. Er widerspricht dem Angetanen nicht, leidet und – duldet. „Ich leide, also bin ich.“ Er dankt lieber nicht, obwohl versäumte Undankbarkeit sich stets vordränge. Die Fülle könnte sonst abnehmen. Den Zauber erhält er sich lieber.
Sieger und Verlierer enträtselt Walser. Sieger sind EIN Haufen, EIN Jubel. Besiegte, nur Einzelne. Ach, könnte man nur den Sieg verschaukeln in der Hängematte! Wer Macht habe und es genieße, jemandes Niederlagen zu erklären, nütze Macht aus. Er stemmt sich der Moral mit Hochmut entgegen. Denn: „Moral vernichtet alles.“ (49) Zur Genealogie der Moral hat Nietzsche Erhellendes gesagt. Der Mensch des Ressentiments, dessen Seele schiele, habe das schlechte Gewissen erfunden. Strafe zähme, härte, kälte ab, mache aber nicht besser. Wie man dem Menschen ein Gedächtnis einbrenne. Wozu Moral benützt werde usw.

Tumult-Wort „Moralkeule“

Im Licht dieses Rank-Buches können wir Martin Walser würdigen, und, soweit möglich, ein Stück rehabilitieren. Ich wage einen (gefährlichen) Sprung zurück. Hierher gehört nämlich das Tumult-Wort „Moralkeule“, das Walser am 11.10.1998 in seiner Friedenspreisrede verwandte (Unwort des Jahres 1999), das ihm als „geistige Brandstiftung“ ausgelegt wurde, als Willen zur historischen Verharmlosung, gar zum Vergessen der deutschen Schande. Trotz aller Text-Gegenbeispiele: „Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz.  Unvergängliche Schande. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten.“ Bei Licht betrachtet und recht verstanden wollte Walser damals nicht Schuld relativieren, sondern sich absetzen von staatlich verordneter Buß-„Pflichtübung“, von der „Drohroutine“, vom anhebendem Dauergeschwätz über „moralisch-politische Verwahrlosung“. „Auschwitz eignet sich nicht dafür.“ Hierher gehört Walsers Auffassung von Gewissen. Allgemein anerkannt ist: Kollektivschuld gibt es ebenso wenig wie Kollektivgewissen, weil Gewissen Merkmal der Person ist. Gleichwohl wirken Krieg und Verbrechen auf und in den Seelen der Nachgeborenen, von den untergetauchten Tätern und verdrängungskünstlerischen Mitläufern zu schweigen. Naives Gutmenschentum findet man zu Recht banal. „Gewissen ist nicht delegierbar.“ „Ein gutes Gewissen ist keins.“ (Derselbe Satz findet sich im Rank-Buch in Kap. 13, S.41) „Mit seinem Gewissen ist jeder allein.“ Werde aber Gewissen „öffentlich gefordert, regiert nur der Schein.“ Walser hielt es für „unmöglich, die Seite der Beschuldigten zu verlassen.“ Also: Kein Davonstehlen aus dem nationalen und emotional-kollektiven Erbe! Er sah sich „moralisch-politisch gerügt“ und eingeschüchtert. Seine „freiheitsdurstige Seele“ wehrte sich. Er sah Grenzen des Sühnen-Könnens. Er zitierte, um sein Verständnis von persönlichem Gewissen zu verdeutlichen, Heidegger: „Das Schuldigsein gehört zum Dasein selbst.“ Und Hegel, der Gewissen als „tiefste innerliche Einsamkeit mit sich“ verstand. Nach dem Brandstifter-Vorwurf von Ignaz Bubis war Walser verkrampft, erbittert, verbohrt und reagierte borniert. Er bedauerte das nach einem Versöhnungsversuch, zumal Bubis 1999 starb.
Im Licht dieser Walser-Geständnisse, in Ansehung der damaligen zu würdigenden aufrichtigen Intention Walsers, in Anbetracht seines umfangreichen Lebenswerks und nicht zuletzt aus Respekt vor seinem hohen Alter fände ich die Chance günstig (Zauberwort: Gunst!), Walser öffentlich im Feuilleton zu rehabilitieren. Es zeugte von später Gerechtigkeit und Sensibilität, Walser von falscher Feindschaft zu erlösen. Wie formulierte damals Walser in seiner Friedenspreis-Rede:  „Birgt nicht jeder ein innerstes, auf Selbstachtungsproduktion angelegtes Spiegelkabinett? Ist nicht jeder eine Anstalt zur Lizensierung unvereinbarster Widersprüche? Ist nicht jeder ein Fließband der unendlichen Lüge-Wahrheit-Dialektik?“ Er, Walser kontrolliere sich, wenn er fürchte, die Sprache „enthülle meine Unvorzeigbarkeit zu sehr. Da mobilisiere ich furcht- und bedachtsam sprachliche Verbergungsroutinen jeder Art.“
Ich erlaube mir, hier und heute, Walsers Hoffnung von damals zu wiederholen, als er wünschte, „daß man sein Dasein streift auf eine nicht kalkulierbare, aber vielleicht erlebbare Art.“ Walser sprach damals vom Schutz vor „Bekenntnispeinlichkeiten“, was nun wiederum zur Besprechung des aktuellen Buches zurückführt, obwohl ich keineswegs peinlich berührt war bei der Lektüre.

„Ich liebe alle Frauen dieser Welt.“

Ausnahmslos jeder Mensch will „sich bemerkt vorkommen.“ Der Weltlauf schwemmt ihn vor die musterlose Wand, wo ihm der sinnlose Laut „Gott“ begegne. Erschöpft, ihrer bedürftig, nimmt sie ihn auf und beschenkt ihn mit göttlicher Musik. Vor Gott wird man am Rand der unwiderruflichen Niederlage anspruchslos. Er spricht von wahren „Erlösungswuchten“ (46).
Anderes Selbstbild. Der Narr mit Schellen hüpft von einem Bein auf das andere und verrät, wo er gerade steht. Er muss Erwartungen erfüllen. Er muss ernst zu nehmende Lieben erwidern mit zumutbaren Wahrheiten. Ergebnis? Unglück. Wie viele Lieben sind genug? „Weil wir einander nicht genügen, gibt es Untreue.“ (Beziehungsmantra) Wir erklären verschiedenen Begegneten Liebe, scheuen Aussagen, fälschen kontinuierlich Gefühle. Gefühlsfälschung (S.51) nimmt breiten Raum ein. Wann? Wie oft? Warum? Immer anderen zuliebe. Aber Gefühlsrechnungen scheitern – am Rechnen.
„Er musste auf sich immer verzichten.“ Nun nicht mehr. Wie der letzte Rank und Schwenk zeigt. Statt etwas gibt er sich. Entzündbar, leicht entflammbar, umarmungsbereit liefert er sich den Frauen, dem Leser, der Anonymität, allen aus. Er brachte ins Intime stets „Wörterware“ mit, „um mitgenommen zu werden, egal, wohin;“ für ein Lächeln gab er seinen Weg in die Hände von Frauen (53): Magdalenas Ausschnitt (Warschau), Alexandras Körper (Freiburg), Frau W.s Blond,  Schwester Lauras schicksalsschönes Gesicht. Als die Gefühlsfälschung auffliegt: Tschüss! Danke! Du arbeitest wie blöd! Du gehst mir zu wenig an die Wäsche! Jede Nähe hat ihren Preis.
Affären regen sein Dichten an. Um Vorwürfe, „Satzdenkmale“, auszulöschen, sagt er sich: „Ich liebe alle Frauen dieser Welt.“ (54) Viel Vergnügen! Möchte man zurufen. Das klingt nach Beglückungszwang und nach totaler Selbstüberforderung. Er lernte „sich benehmen, um möglichst viel Liebe zu ernten.“ Er lernte, das Chaos zu fälschen. Verbote waren in ihn „hinein gepaukt worden.“ (55) Wie soll man da dem Schmerz das Singen beibringen? Der Mann als Feind, als Verkörperung der Norm und Moral. Die Frau als Haar, als Kleid, als Körper, als Welt. Aus Gefühlsüberschwang, aus Geständniszwang, machte er am liebsten gleich Heiratsanträge. Er, der „Spürbarkeiten“-Lieferant (70), der Wörterbringer als Witwentröster, der sagen muss, was jede gern hören will. Wie immer. Schön der Reihe nach, wenn es denn ginge. Das Muster gefallen zu wollen, lieb-brav-guter Junge sein, der die Mutter nicht ent-täuschen will, die er betrügen muss, um nicht ein Spielzeug, „um mehr als ein Geschöpf zu sein.“

Exkurs: Passivitätskompetenz und Spielintelligenz

Das Buch wäre auch psychologisch und spirituell subtil zu deuten. Philosophisch erklärt sich dieses Verhalten vielleicht so. Da spricht die Sorge des modernen Subjekts um sich selbst auf dem Weg zur Freiheit. Der ausdrücklich atheistische Philosoph Peter Sloterdijk nennt die partielle Aufhebung der Eigentätigkeit „Passivitätskompetenz“ (Du musst dein Leben ändern 2009, S. 590f).
Unwillkommene Passivität wie sich erpressen oder betrügen zu lassen wird allmählich abgelegt. Es kommt darauf an, die passiven Momente im Selbstbezug moderner Existenz frei zu kultivieren. Man wirkt auf sich ein, indem man anderen erlaubt, auf sich einzuwirken. Ein kompetenzteiliger Aktionsraum entsteht. Das Handeln wird gekrümmt. Das Subjekt kann leiden. Es beugt sich aber nicht. Es gibt sich zeitweilig aus der Hand, um sich nachher wieder klug in die Hand zu nehmen. (Siehe Walsers Umgang mit Frauen und mit dem besten Feind.) Dieses passivitätskompetente Verhalten gehört zur „Spielintelligenz von Menschen in einer entfalteten Netzwelt, in der man keinen eigenen Zug machen kann, wenn man nicht zugleich mit sich spielen lässt.“ (Ebd. 594) Was man früher lässig Gelassenheit nannte, Somit gewinnt der als Konsument, als Patient, als Wähler, als Rezipient, (bei Walser) als Romanproduzent das Diplom einer Genesung aus einer früheren Ohnmacht zu einer gelassenen Genugtuung, letztendlich doch dazuzugehören und (wie wir sehen werden) barmherzig umarmt zu sein. Wenn das keine letzte Kurve, kein letzter Rank ist auf einer zivilisierten Reise!

Im „Salon der Wahrheit“

Im „Salon der Wahrheit“ (Kap 23), im abgefahrenen Zug der Zeit, geschieht die total anstrengende Wiederholung der Anfeindungen. Die Hölle, „ein Schmierenspektakel“ (S.73). Schulderkenntnis ist „der Versuch besser wegzukommen als mir zustand.“ Tricksen hilft nichts. Auch nicht, sich anzuwanzen durch „Selbstpreisgabe“. Schuld an den gegnerischen Anschuldigungen, an den Qualen der Frauen, die im Albtraum in der „Gepäckablage“ (!) liegen, ist er, Walser, selbst. Im Salon der Wahrheit dämmert ihm:
„Nichts was ich erlitt, stammte nicht von mir.“ (83) Durch Rücknahme der Positionen des äußerlichen Zustoßens, durch Übernahme der Außenfigur ins spielende-spiegelnde Innere sind beide Seiten erlöst. Damit verschwindet der Feind. Abspaltung wird integriert, bittere Heimsuchung heimgeholt.  Heilung vom Wahn, reines (kindliches) Opfer zu sein, wird möglich. Er, der sich bei Männern klein, bei Frauen groß fühlt, gewinnt sein Ebenmaß. Um „Selbstverkleinerung“ bemüht (S.81), suchte er einst überall.
Er trifft in einer anderen Schlüsselszene auf die betrogene Liese, die nach dem Auskotzen ihrer Geschichte und dem Nebenbei-Verkehr im Hotelbett sich erbricht und erstickt. Er landet, um sich zu erklären, vor Gericht. Freispruch! Er will nicht schuld sein. „Unschuldig schuldig!“ Urteilt der Gerichtshof. Ihrem atemraubenden Anspruch nicht zu genügen, tat weh. Der Frau daheim hat er eine Affäre zu erklären. Sie versteht ihn: „Da siehst du, wo du hinkommst mit deinem ewigen Mitleid.“ (S.80) Bei einer so mitfühlenden Frau muss man sich wegen Eskapaden nicht groß verantworten. Er gesteht sich ein: „Ich bin unmöglich, also bin ich.“ (85) Er erlebt jemand, der an Zungenkrebs stirbt und kommentiert: „Wer immer nur die Wahrheit sagt…“ (87)
Müdigkeitsbekämpfung, Aufstehen erzwingt er, auch von seinen Kindern, handgreiflich. Walser hat drei Töchter. Und einen unehelichen Sohn, mit der dritten Frau vom Spiegel-Chef Augstein. Pfarrern und Philosophen wie Adorno, Bloch, Sartre gegenüber ist er, der in Regensburg einst Philosophie studierte, „unrettbar befangen“ (96). Wörter, die ihn verführen könnten, schickt er ins Quartier der „Fremdenlegion“. Böse Wörter zu vertreiben, stellte das Paradies wieder her.

„Ich entschuldige mich, also bin ich.“

Der „Feuilletongewaltige“, (97), Frank Schirrmacher wohl, „zum Rechthaben geboren“, existiert nur noch in den Initialen XYZ (92). Walser sieht sich als eine labile Größe. Getroffen und gestutzt unter den Urteilen harscher Kritk des Gewaltigen empfindet er, wie er kleiner wird, „nicht von der Sonne des Gefühls beschienen“ (98). Kein Quäntchen Daseinsrecht bleibt. „Der prominenteste Geistesmensch der Stadt“ sorgt in einer „Mischung aus Jux und Protzerei“ dafür, dass sich die Größenverhältnisse zwischen ihnen veränderten. Er flieht und fliegt in die USA und bemerkt erfreut, wie der andere aus der Distanz schrumpft. Welch ein „Grund für eine endgültige Emigration!“ (100) Seine eigene „Größe-Unbeständigkeit“ (100) macht ihm zu schaffen. Er hängt in der Luft. Seine gefühlte Verkleinerung deutet er als Versuch sich zu schützen.
Walser findet dann dieses Bild, wie von Kafka entliehen: „Viereckigkeit“ beherrscht ihn, bis ihn eine Erfindung, Kafkas fantasierte Schwester Wilhelma, herausführt. Mitten in der Nacht stören sie den Allgewaltigen, der zu seiner Ausstellung, seinem Vortrag zu kommen droht,. Jener, „von Vorurteilen gepanzert“, mit dem typischen „Miteinander von Mitleid und Hohn“, „keinem Satz ohne Pointe“, nimmt Wilhelma gar nicht wahr. Walser gibt zu, er wollte den Gestörten nur quälen mit einer Unsichtbaren. Walser kann jenen nur Verkleinern durch Bedauern, dass er etwas nicht wahrnimmt, was er ganz bestimmt weiß. Den Bericht zur Ausstellung schreibt ein anderer, „gepflegt langweilig“, weil jener sich in jener Nacht erkältet hat. Der Milde fehlt die Schärfe von jenem. Da spürt er, wie er den Kritiker braucht, der ihm Aufmerksamkeit verschafft. Segen und Fluch in einem. Die Lebensverstrickung schlechthin.
Walser unterzeichnet am Königsplatz einen Friedensvertrag mit dem Erzfeind, nicht ohne Hintergedanken, nicht ohne schwer zu verhehlende Freude, als jener stirbt.
Dann taucht Elvira auf, spendet einen „Silvesterkuss“. Mit der vorbehaltlosen Friedlichkeit ist es nicht weit her. Nichts ist vollkommen: „Das Leben ist ein Fragment.“ Er begreift: Alle kämpfen um ihr Leben einen lautlosen, verbitterten Kampf, um zu überwinden, was sie am Leben hindert. Walser fühlt sich einer Entschuldigung nahe (125). Erfahrung wird Maxime. „Ich entschuldige mich, also bin ich.“ Wieder ein abgewandelter Descartes-Satz. Beinahe-Verzeihen verströmt beinahe Wohlbefinden.
Danach, zur bekannten Abwechslung, wieder eine erotische Begegnung mit einer Porno-Schreiberin, unter Pseudonym, das er schon aus Eitelkeit scheuen würde. Er will erkannt sein, und sei’s auf seine Kosten! (121) Sie nennt seine Romane „Hirngespinste“. Ohne zu erkennen, warum sie selber daran schuld sind, fallen die Menschen auf die Illusion herein, die sie Liebe nennen. Die Frau entdeckt an ihm, dass er nicht genießen kann, sondern eher Klugheiten liefert. Aufgeregte Vögel. Aufregend vögeln (114). Er besucht sie, Carola, in ihrem bizarren Liebesgarten mit Lourdesgrotte, wo sie für jeden Verflossenen ein Beet angelegt hat. Die Affäre findet ihren Höhepunkt an ihrem Krankenbett und – erlischt.

Vom Menschenrecht „zu wissen, was das Leben erträglich macht“

Geschichte wiederholt sich in Trauma auslösenden Verwechslungen. Nach Vorträgen sei man „erschöpft, aber hemmungslos“. Bekanntes Spiel im euphorisierten Zustand: Einer redet, die andern fungieren als Geber von Stichwörtern, die den Redner beflügeln. Er wird von einer Frau mit einem Spontaneitätsgenie verwechselt, einem „Überraschungs-Tsunami“ (129). Als etwas gesehen zu werden, was er nicht ist, löst das alte Dilemma aus. Trotz Erfolgen, trotz „Anerkanntheiten“. Fehlanzeigen der Kritik holen ihn immer wieder ein. Walser fordert ein Menschenrecht zu wissen, was hilft, das Leben erträglich zu machen (131). „Aber wie lernt man vergessen, was man nicht verträgt?“
Wiederkehr des Verdrängten. An Leerstellen des Lebens, etwa wo jemand (wie Ellen) ihn zu etwas (zu einem Ferdinand) macht, der zu sein ihm alles fehlt. Diesem „Denkzwang“ entkommt er einfach nicht oder nur schwer. Bei solchen Zufällen wird „sein Kopf von Deutlichkeiten gefoltert“. (131) Unwiderstehlich. Wie eine Besessenheit. Die Kränkungen wiederholen sich. Das „Unerträgliche“ passiert ihm dauernd; er kann es nicht vergessen. „Von Evolution keine Spur.“ (131) Das wäre seine Gnade, die Begnadigung. Von Unschuld kann man nur träumen. „Die Pfeile sind entfernt, die Wunden brennen.“ Schmerz steigert das Dasein. „Ich leide, also bin ich.“
36. Woche (Kapitel). Ein Gebet. Dann ein Traum, mit unübersetzbarer Textmusik. Danach ein Aphorismus über die Schaukel von Unwichtigkeit und Stolz.

„Vorwurfs-Unruhe bleibt.“ „Unterdrückung von Wünschen kostet Kraft“

40. Woche. Fixe Idee: Am liebsten alle Vorwürfe streichen, damit Ruhe herrscht da drinnen. Da, eine Anklage wegen Beleidigung. Er habe im Lokal einen Staatssekretär wohl als „diese schwule Obersau“ diffamiert (141). Ein für einen Freund gehaltener Zeuge sagt gegen ihn aus. Die Freundschaft mit jenem, wohl Siegfried Unseld, zerbricht. Der stellt enttäuscht fest, Walser „zöge die Strafe der Besinnung vor.“ Die „Vorwurfs-Unruhe ist geblieben“ (144). Es dürfe ihm einfach nicht gut gehen. Sofort nähme er alle gegen sich ein. Wohlbefinden als Verbot, als Übel zu nehmendes Glück, ein Verbotswort, das Walser meidet.
„Du stirbst an dem, was ein Mensch dir antut!“ Steht an der Wand, die zum Sprachmedium eines gunstbereiten Gottes wird. „Ich bin doch nicht Nebukadnezar.“ (146) Tapete drüber! So geht das ins Erträgliche. Nur das Unbewusste gibt den Spielverderber. Wie rehabilitiert man das Wort „Unvernunft“? Sein Schlaf gebiert Ungeheuer (Goya). Gedanken sind freche Tiere, deine Opposition im eigenen Oberhaus. Sie agieren im Namen auswärtiger Interessen, sind „nie ganz einverstanden oder gar zufrieden“ (149) mit dem, was er geschafft hat, was ihm gelungen ist. (Hier meldet sich sein innerer Kritiker) Immerhin hält ihn sein innerer Widerspruch für „zurechnungsfähig“. Seine Wehrhaftigkeit lässt nach. Er kapituliert vor einer Fliege, die sein Glas beansprucht. (152)
Er fantasiert eine Begegnung mit Sartre, der im Fahrplan liest, wagt aber keinen Schritt auf den Gloriosen zu. Sein Dilemma: Scham und Scheu. „Aber wie immer in meinem Leben unterließ ich, was ich eigentlich wollte, und blieb sitzen.“ (155) Traurige Selbsterkenntnis! „Die Unterdrückung von Wünschen kostet Kraft.“ Um hellwach zu bleiben, tut er was Autoaggressoren tun, er schneidet sich in die eigene Hand/Haut. Später, am Ende sieht er ein: „Viel zu wenig frech bin ich.“ (169) Wer seine Feigheit so gut tarnt, kommt nie in der Freiheit an. Er muss einfach zähneknirschend (weiter) dienen.

„Ich konnte, ohne zu jonglieren, dieses Leben nicht aushalten.“

Entspannungsbild. Sein Bild mit dem Jonglieren dreier Bälle, blassrot, blau und schwarz. (Kap. 47) „Ich konnte, ohne zu jonglieren, dieses Leben nicht aushalten.“ (158) Weil das Ende naht und alles weh tut, hofft er auf ein Ende des anstrengenden Spiels. „Meine Sehnsucht war zu spielen. Schönstens und endlos.“ Er hofft, man werfe ihm einen vierten Ball „so schön zu, dass er die drei andern Bälle fallen lassen könnte.“ Das anstrengende Spiel wäre endlich aus.
In der Fußgängerzone heißt es dann richtig: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“ Es muss in ihm ein richtiger „Mangel an Zugehörigkeit“ in jeder Hinsicht geherrscht haben. Erst und jetzt, da er nicht mehr stört, gehört er dazu. Erleichtert, allein zu gehen fähig, nicht mehr gegen die Einbahnstraße in die Strafe laufend, zugehörig.
„Problemlos. Ziellos. Schmerzlos. Schwerelos.“ (161) Blickwechselfreudig. Lächelnd. Nach einem Sturz gerettet werden, am liebsten von einer Frau, per Hubschrauber. Warum nicht vom Frieden träumen. „Zu träumen genügt.“ (10)
Wer wirft ihm den Ball zu, der ihn von aller Anstrengung erlöst?

„Barmherzigkeit, ein zurückgerufenes Wort“

Letzte Wahrnehmung, versöhnlich stimmend, erlösend, ist nicht das Allerweltswort Liebe, sondern „Barmherzigkeit, eines der größten unter den Großwörtern der Geistesgeschichte“ (166). „Bestürzend annehmlich“ findet Walser, endlich ins Klima einer Barmherzigkeit versetzt zu sein. (166) „Liebe ist ein Hin und Her… Barmherzigkeit, ist eine Einbahnstraße. Eine himmlische. Du wurdest beschenkt, ohne dass gefragt wurde, ob du es verdienst, ob du es wert bist.“ Barmherzigkeit, ein verschollenes Wort, das Walser „zurückgerufen“ wird. Er darf sie spüren, „eine Gefühlsdeutlichkeit ohnegleichen“, sie wendet sich selbstloser zu als Liebe. Es muss „aus der Fülle einer Wunder wirkenden Tradition stammen.“ Walsers christliche Wurzel deutet sich hier an. Man kann nicht reagieren. Man lässt geschehen. Man erkennt den Rang des Wortes an, „dass man sie sich gefallen lässt. Die Welt, in der du nur durch Leistung giltst, gibt es nicht mehr, solange du Barmherzigkeit erfährst.“ (167)
Walsers Quintessenz seiner „Meditation über sich selbst“ (Iris Radisch): Ich bin es, ohne Grund, wert, „mir selbst nicht verloren zu gehen“. Hier spricht kein Dichter-Ich: Hier spricht ein bedingt rühmlicher Mensch, der aufgehoben sein will im großen Ganzen. Eine letzte Verwandlung ununterscheidbar in alles, tautologisch gesprochen: „Ich bin…, also bin ich.“ (169)

Martin Walser bekannte eingangs, er wolle „ein Glückskunstwerk schaffen“. Ich entlehne dieses Wort und wandle es um in Glücks-Gunst. Die Kunst, die Walser im Rank-Buch vorführt, besteht darin, aus dem Unglück der Missgunst, leidvoll erfahren, bis zur Glücksgunst, nämlich zur Barmherzigkeit vorzudringen. Begünstigt vom Aufheben der Vorwürfe – seltsam, ich schrieb versehentlich Vorwürde! - vom Verzeihen also, breitet sich eine willkommene, willkommen heißende Gunst für alle aus. Allen ist gegönnt, dass es ihnen gut geht. Das ist – ich greife das Geschenk des Unbewussten auf - die Vollwürde der göttlichen Kunst. Der Künstler profitiert. Die Gunst der Stunde entpuppt sich als die Stunde der Kunst.
Walser ist wahrlich kein Aktivist, der Imperativen folgen würde, die mit äußeren und äußersten Mitteln äußerlichen Zielen folgen, aber „ein Glückskunstwerk“ verfehlen. Ressentiments aller Art verhindern die Friedensfeier der Versöhnten. Verstummen wie Anpassung sind ausgeschlossen. Rachefeldzüge abgeblasen. Da findet einer seinen späten Frieden: Statt etwas, also sich. Und einen versöhnten Blick. Das entschlackte Gold. „Das Echo der Freundlichkeit.“ (171) „Zur Friedensfeier komm ich, sagt mir, wohin.“ (170) Das Buch endet mit lauter Umarmungen. Barmherzigkeit beseitigt Missgunst. Auf die Kunst der Gunst käme es an.
Am Ende wünscht sich Walser, der vielleicht zu wenig freche, der sich nicht überall willkommen fühlte mit seinen ungebetenen Gefühlen, dem nun kein Fallensteller, Untersteller, Verdächtiger, „keiner zu schrecklich zum Umarmen ist,“ gleichfalls öffentlich die Geste freundlicher Zustimmung. Robinson will gefunden werden.
Ergründen wir, wo wir am liebsten wären. Dort finden wir uns. Einen Uneinholbaren allerdings könnte man nicht einmal „streifen“. Lassen wir ihn also ziehen, nach seinem letzten „Rank“, der letzten Kurve, und winken ihm dankbar und freundlich nach.
Es möge ihm gut gehen.


Günther M. Doliwa, vom 23. - 30. Januar 2017
www.doliwa-online,de

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