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1968

Worauf wir stolz sein dürfen

Von Gretchen Dutschke


Christoph Ludszuweit schrieb uns am 26.02.2018
Thema: Gretchen Dutschke: 1968. Worauf wir stolz sein dürfen.

Besprechung aus LITERATURKRITIK.DE, "Die Träume liegen auf der Straße.“ (Guido Viale)
oder:
Wie stolz kann man auf Deutschland sein?

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(Rezension von Christoph Ludszuweit)

„Das Leben muss im Blick nach vorn gelebt werden, aber kann nur in der Rückschau verstanden werden.“ - dieses dem dänischen Philosophen Sören Kierkegaard zugeschriebene ‚Gesetz’ (zitiert bei Jan Assmann, "Totale Religion - Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung“ Picus Verlag Wien 2. Auflage 2017, S. 24) könnte auch Gretchen Dutschkes neuer kritischer Bilanz als Leitmotiv zugrunde liegen. Die 1942 in Oak Park, Illinois geborene Autorin weist darauf hin, dass, je älter man werde, desto plausibler jene kluge Bemerkung sei, der zufolge das Leben nach vorne gelebt und von hinten her verstanden werden muss.

"Die drei Jahre zwischen 1966 und 1969 verliefen wie im Rausch, mal strahlend hell, mal im tiefsten Dunkel, euphorisch und verzweifelt, fast wie im Kino.(...) 50 Jahre später erscheint diese Welt wie eine Karikatur,“ heißt es in ihrem Epilog.

Nur wenige Wochen nach Beginn des (wie immer auch titulierten) „Gedenkjahres zu 50 Jahren 1968 erscheint die Flut von Neuerscheinungen dazu jetzt schon fast unüberschaubar. Es scheint sich dabei – wieder einmal - eine Art von ‚Kulturkampf’ um die Deutungshoheit zu diesem 'Begriff' abzuzeichnen bzw. herauszubilden. Aus der Vielzahl der oft zweifelhaften begrifflichen Relativierungsversuche ragt ihr (auf den ersten Blick) unprätentiöser, stark persönlich gefärbter Text angenehm, weil stark persönlich gefärbt, heraus.

Ihr mit vielen (bislang unbekannten) privaten S/W-Fotos versehenes und bei etwa 200 Seiten eher schmales Bändchen muss wohl etwas in Eile geschrieben worden sein. Der bei der Überarbeitung behilfliche Journalist Reinhard Mohr, früher – nach 'Gastspielen' beim PFLASTERSTRAND, der taz auch beim ehemaligen Nachrichtenmagazin tätig, in der sog- SPIEGEL-Sprache also bewandert, könnte ev. versucht haben, streckenweise seinen eigenen Stil einzubringen, was gewisse Brüche im Text hervorruft, mit denen sich freilich leben lässt.

Es enthält viele teils anrührende Kapitel, voll Sprengkraft gegen die hiesige Gesellschaft, gegen die damalig noch erstarrte 68er Gesellschaft und die von heute. Autobiographie ist eben das, was sie wirklich gut kann. Auch in ihrem neuen Buch dominiert wieder die Perspektive der Ehefrau und Mitkämpferin, sie spricht nun allerdings etwas mehr von ihrem von sich selbst. Kein Satz daraus klingt auch nur ansatzweise etwa nach einem veritablen Roman, was sie allerdings auch nie beansprucht hat (schade eigentlich!).

Das Buch ist jedenfalls flott und gut verständlich geschrieben, leider fehlt ein Personenverzeichnis. Sie beschreibt zunächst ihr Ankommen in Deutschland im Jahr 1964. Als gebürtige Amerikanerin (heute ist sie „"Wahl-Deutsche“) reiste sie auf einem rostigen Kohledampfer an, zusammen mit 40 Seeleuten und zwölf anderen Passagieren. Erst ging es zum Deutschlernen an ein bayerisches Goethe-Institut und danach in die „"Frontstadt des Goldenen Westens“, nach West-Berlin, wo sie bald Rudi Dutschke, den ‚'Mann ihres Lebens’ kennenlernte und wo aus kleinen Anlässen bald Proteste entstanden, mit Provokationen und einer Revolte, die eine große Wirkung dieses wirkungsmächtigen „Tumults“ (H.M. Enzensberger) freisetzte.

Sie hatte bereits 1996 eine sehr detaillierte (und sogar auf der SPIEGEL-Bestsellerliste gelandete) Biographie über Rudi Dutschke verfasst, seine Herkunft, seine private und politische Entwicklung ausführlich, sehr persönlich und nicht unkritisch dargestellt, mit vielen Informationen, die bis dato kaum oder gar nicht bekannt waren, etwa Dutschkes nationalrevolutionäre Sympathien bzw. sein positives Verhältnis zur Deutschen Einheit oder seine Utopie einer Berliner Räterepublik analog zur Pariser Kommune. Zudem hatte sie 2003 Dutschkes Tagebücher publiziert, die er von 1963 bis zu seinem Tod 1979 geführt hatte. Dabei setzte sie sich auch mit verschiedenen heutigen Deutungen der Politik Rudi Dutschkes, ihres Mannes, auseinander. Vor allem dessen nationalistische Vereinnahmung durch ehemalige Mitstreiter wie Bernd Rabehl war ihr ein Dorn im Auge und stieß auf ihren energischen Widerspruch.

50 Jahre nach der viel gerühmten, oft gescholtenen 68er Bewegung erzählt Gretchen Dutschke nun erneut aus ihrem Leben. In ihrer Bilanz betreibt sie eine schonungslose Analyse der Fehler und Illusionen. Sie unterstreicht dabei vor allem die Erfolge der Bewegung, betrachtet aus der Perspektive einer Außenstehenden, die sich vielleicht gerade durch diese Distanz ein hohes Maß an Unabhängigkeit bewahren konnte.

Sie fragt danach, was davon noch das Potential hätte, auch heute zur Revolte beizutragen oder was wenigstens dazu taugen könnte, die Lust auf eine sich den globalen Herausforderungen stellende und neue Protestbewegung erneut zu entfachen. Um nicht weniger als eine weltweite Revolution müsse es sich handeln.

Wenngleich sich die 68er-Utopien einer globalen Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung auch nicht so recht realisieren ließen - „"Der Traum ist aus“, sang Rio Reiser einst, und dieses Leitmotiv bestimmt auch heute ihren Blick. Zumindest ist dieser große unbändige Traum von einem so ganz anderen Leben trotz des (im Text explizit vermerkten) TUNIX-Kongresses von anno 1978 irgendwo auf der langen Wegstrecke gehörig steckengeblieben, versandet. Sie erinnert dabei an den italienischen Autoren Vidale: „Noch 1979 schrieb der italienische Autor und Aktivist der Gruppe Il Manifesto, Guido Viale, ein Buch mit dem Titel 'Die Träume liegen auf der Straße'. Und es stimmt: "Ohne überschießende Fantasie, sich andere, bessere, gerechtere Zustände vorzustellen, geht nichts voran. Der Charme der Revolte lag ja vor allem in der frechen juvenilen Provokation, nicht zuletzt in jenem fröhlichen unernsten Hedonismus, dessen Soundtrack vor allem die Rockmusik bildete.“

Und doch leben Elemente eines ehemaligen, nun verschütteten Widerstand gegen eine "autoritär verwaltete Welt“ (Adorno) im vereinigten (und nun neu gespaltenen) Deutschland fort. Der Freiheitsdrang dieses Protestes wird sich – da ist sie sicher - am Ende irgendwann doch noch durchsetzen. Sie meint, dass Deutschlands Verwandlung in eine tolerante Zivilgesellschaft insbesondere diesem Aufbruch zu verdanken ist. Ihre Haltung bzw. der Standpunkt, dass jeder einzelne deutsche Bürger auf "ein demokratisches, freies, weltoffenes Deutschland stolz sein“ könne, wird sicher nicht nur bei den strammen Anti-Deutschen einiges Bauchgrimmen oder Widerwillen und Abscheu hervorrufen. Deutlich wurde dies in Ansätzen bereits bei der ersten, für einen Sonntag erstaunlich gut besuchten Berliner Lesung Mitte Januar, wo sie Teile aus ihrem Text bei "GRETCHEN LIEST IM GRETCHEN CLUB“ vortrug. Als sie auf das Thema Stolz zu sprechen kam, war ein deutliches Murren bei Teilen des Publikums kaum zu überhören, zumeist bei den schon ergrauten bis weißhaarigen Besuchern.
Man darf gespannt sein, wie das, was wir damals noch als „'bürgerliche Öffentlichkeit' bezeichneten, heute, also genau ein halbes Jahrzehnt später, auf Gretchen Dutschkes Bilanz reagieren wird; wohlwollend? Kritisch? Denunziatorisch? Und die Linke? Angeekelt? Empört und verabscheuend? Zustimmend? Oder sonstwie differenziert? Ich vermute jedenfalls: die meisten Einwände, Streitpunkte und Formilierung von Widersprüchen wird es im Blick auf die Debatte um den Begriff Nationalstolz geben - nationaler Stolz, Stolz, deutsch zu sein oder wie auch immer formuliert....
Es treibt die Autorin an, einen Gegenbegriff von "Stolz" zu entwickeln oder ein anderes Konzept von "Stolz“ - unseren Stolz auf all das, was wir (bzw. die viel gerühmten/geschmähten sog. Altachtundsechziger seitdem alles für diese Gesellschaft geleistet haben, angefangen von der Kinderladen-, Schüler-, Jugendlichen- und Studentenbewegung, und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen, von A (z.B. alternative Ernährung/Reisen/Medien (damals genannt: Gegenöffentlichkeit) bis Z (z.B. Zensur und Zensuren abschaffen, Zeitungen wie die taz, ein anderer Zeitbegriff (z.B. Entschleunigung).

Man sollte ihre Einlassungen in Sachen 'stolz auf Deutschland sein' nicht falsch verstehen: 1968 stellte für sie - ganz in Rudis Sinne – letztendlich„"die erfolgreiche Durchführung von Idealen der damals gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848" dar, auch wenn es den meisten Rebellen von damals nicht bewusst gewesen ist. Für das, was wir heute die 'antiautoritäre Kulturrevolution' nennen, gab es und gibt es stets einen Orientierungspunkt: die "Vollendung jener Demokratisierung in allen Lebensbereichen, die mit der bürgerlichen Revolution von 1848 begonnen hatte, dann aber allzu rasch an den Machtverhältnissen scheiterte.“
Die folgende nachträgliche Einlassung war nun kurz nach Erscheinen des Buches auf ihrer Facebook-Seiten nachzulesen, im Buch selbst waren ihre Ausführungen dazu vom Verlag erheblich verkürzt worden.
Es treibt G. Dutschke nämlich um, dass es in Deutschland so viele linksgerichtete Menschen gibt, meistens aus der älteren Generation, die es nicht nur ablehnen, den Begriff 'Stolz' in Bezug auf Deutschland zu akzeptieren, sondern diese Sprachverwendung sogar regelrecht verdammen - ein Phänomen, das es in diesem Umfang kaum anderswo dieser Welt gibt und definitiv mit der deutschen Geschichte zu tun haben muss. "Andererseits aber nehmen die rassistischen Rechten ohne Problem das Wort auf und benutzen es als eine Art Vorschlaghammer, um die angeblich von den Alt-68ern 'verseuchte',die 'versiffte', 'dekadente' oder in den Hedonismus geflüchtete deutsche Gesellschaft zu bekämpfen. 'Stolz' bedeutet für sie, stolz darauf zu sein, als Deutsche(r) geboren zu sein. Damit wollen sie die Einwanderer und alle deutschen Menschen mit dem vielbeschworenen Migrationshintergrund ausgrenzen."
"Kann man also die Hassmenschen der AfD bekämpfen", fragt G. Dutschke rhetorisch, "indem man versucht, ihnen ihr „"Stolzsein“ wegzunehmen?"
Sie betont m.E. zu Recht, dass wir uns stattdessen einen ANDEREN, einen EIGENEN Begriff von 'Stolz' aneignen oder erarbeiten sollten: "unseren Stolz auf all das, was wir - d.h. alle Menschen, die in Deutschland leben - machen konnten, können und müssen, um dieses Land demokratischer, lebenswerter oder gerechter zu machen und frei zu gestalten. Vor allem auch, um eine Wiederholung der schlimmen Vergangenheit zu vermeiden." - angesichts der vielen neuen (verkappt oder frech-offen auftretenden) Nazis und rechten Hetzer im bundesdeutschen Parlament ist dies in der Tat keine leichte Aufgabe und zwingt dazu, eindeutig 'Farbe zu bekennen'. Nun hat das Wort 'Stolz' ja im Deutschen recht verschiedene Bedeutungen: laut Duden liegt die erste (vorgezogenene) Bedeutung darin, "von Selbstbewusstsein und Freude über einen Besitz, eine [eigene] Leistung erfüllt (zu) sein" bzw."ein entsprechendes Gefühl zum Ausdruck bringend oder hervorrufend”.

Stolz und Freude über alles, was von den 1968igern geleistet wurde, ist für die Autorin ein durchaus adäquater Ausdruck und passt zudem überhaupt nicht zu der Idee, irgendwo geboren zu sein, wofür man ja nun mal rein gar nichts kann und auch gar keinen Beitrag hätte leisten können. Eine zweite Bedeutung von „'Stolz' existiert allerdings auch im Sinne von überheblichem und abweisendem Selbstbewusstsein - was ja auch zu den sog. 'AfD-Hassmenschen' passt wie die Faust aufs Auge. (Weitere Synonyme: "affektiert, angeberisch, aufgeblasen, wichtigtuerisch, arrogant.“) Das Gegenteil von 'Stolz' kann Beschämung oder Scham sein. Wenn man etwa seine Scham über ein begangenes Unrecht zugibt und alles zu verhindern sucht, was dazu führt, dass so etwas wieder geschieht, dann kann man wirklich stolz sein. Es handelt sich für die Autorin also um ein dialektisches Verhältnis, etwas, das sich bewegt und weiterentwickelt. Natürlich kann man die 'Hassmenschen' nicht mit einem Wort bekämpfen. Trotzdem muss man bei dem Versuch, Menschen zu überzeugen, schon etwas dazu sagen, denn Wörter bzw. Worte überzeugen die Leute sowieso immer - jedenfalls mehr oder weniger - ob man es nun will oder nicht. Ihr geht es um mehr als bloß darum, stolz zu sein. Es geht um die sog. neue deutsche Identität. Und es gibt nun einmal einen Kampf um die Bestimmung dieser deutschen Identität, und zwar entweder inklusiv oder exklusiv. Gretchen Dutschke kommt zu dem Schluss: "Letztendlich kann man nicht einfach sagen, wir sind stolz, deutsch zu sein oder in Deutschland zu leben. Wir sollten uns schon etwas genauer ausdrücken: Stolz also im Sinne von Freude über das, was wir geleistet haben. Eine deutsche Identität müsste zugeben, dass es ein sehr dunkles Kapital gegeben hat und dass heute diese Identität dadurch bestimmt wird, dass wir konkret (und nicht nur abstrakt) etwas dafür tun, damit eine solche Dunkelheit nie wieder aufziehen wird".

Gretchen Dutschke: 1968. Worauf wir stolz sein dürfen.kursbuch.edition, Hamburg 2018

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