Leserbriefe zur Rezension

„Bin ich’s oder bin ich’s nicht?“

Axel Winzers neue, ‚ganz große‘ Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm

Von Armin Erlinghagen


Axel Winzer schrieb uns am 05.07.2013
Thema: Armin Erlinghagen: „Bin ich’s oder bin ich’s nicht?“

Sehr geehrte Damen und Herren,
gestatten Sie einige kurze Bemerkungen zu der Rezension, die Armin Erlinghagen zu der von mir herausgegebenen Edition der Kinder- und Hausmärchen verfasst hat. Der Grundton ist sehr kritisch und ich möchte gar nicht auf sämtliche vorgetragenen Punkte eingehen. Nur auf einige:
Die Entscheidung für die 5. Auflage ist pragmatisch begründbar. Heinz Rölleke hat in einer umfangreichen Rezension zu der von Hans-Jörg Uther herausgegebenen Edition der Ausgabe letzter Hand (1996) darauf hingewiesen, dass wichtiger als die x-te Neuedition dieser Textstufe, eine Neuedition der 4. bis 6. Auflagen sei.
Für die fünfte Auflage der Großen Ausgabe von 1843 spricht dabei sehr viel:

- als einzige Auflage steht auf dem Titel „stark vermehrte und verbesserte Auflage“.
- sie wurde als einzige Auflage der Großen Ausgabe 2x in unterschiedlicher Gestalt gedruckt. Armin Erlinghagen tut so, als sei das eine altbekannte Tatsache. Aber keine Bibliographie weist darauf hin. Tatsächlich habe ich dieses Phänomen in meinem Nachwort erstmals vorgestellt. Heinz Rölleke, den ich im Vorfeld danach fragte, war das nicht bekannt (er fand die Entdeckung „sensationell“). Es handelt sich dabei um keine Äußerlichkeit. Durch die beiden unterschiedlichen Formate verteilt sich der Text anders auf die Seiten, das heißt, jede Quellenangabe, die das Original von 1843 zitiert, müsste dahingehend kontrolliert werden, ob es sich um die Ausgabe A oder B handelt. Ich habe mich für die Ausgabe A als Textgrundlage entschieden, weil ich davon ausgehe, dass Wilhelm Grimm sie akribisch Korrektur gelesen hat, Ausgabe B aber nicht mehr. Dieser Doppeldruck, der für den Verlag sehr kostspielig gewesen sein muss, hebt die Bedeutung dieser Textstufe hervor.
- Auch dass die Große Auflage von 1840 vor Fehlern nur so strotzt, ist meines Wissens so noch nicht bekannt gewesen. Natürlich muss bei einem Neusatz immer von einer gewissen Fehlerquote ausgegangen werden. Aber 1840 sind zahlreiche Fehler enthalten, die Wilhelm Grimm als außerordentlich unangenehm empfunden haben muss und die seinen Text entstellen.  
- Unsere Textgrundlage war nicht der Text von Wikisource. Dort findet man den Text von 1843 B, den ich sehr genau kenne. Ich kann sagen: Der Wikisource-Text transportiert nicht nur getreulich die Fehler des Originals, er fügt ihnen noch eine Reihe weiterer Fehler hinzu und entstellt den Originaltext. Für wissenschaftliches Arbeiten ist er untauglich. Wir haben das Original von 1843 A aus der Staatsbibliothek München gescannt und verantwortungsvoll Korrektur gelesen.
- Was die Bibliografie anbelangt: Ich habe keine vollständige Bibliografie angestrebt (dafür gibt es u.a. das hervorragende Handbuch von Hans-Jörg Uther), sondern nur die Bücher nennen wollen, die ich tatsächlich auch benutzt habe. Die Kleinen Ausgaben waren für mich nur im Umfeld der Ausgabe von 1843 von Bedeutung. Gern hätte ich die Kleine Ausgabe von 1841 eingesehen, doch die ist weltweit bibliografisch nicht nachweisbar. Natürlich hätte ich die Erscheinungsdaten sämtlicher Kleinen Ausgaben darstellen können, nur wozu?
- Meine Motivation war es, möglichst viel über die Editionspraxis von Wilhelm Grimm zu erfahren: „Wie haben Sie das gemacht, Herr Grimm?“ Ich habe dazu akribisch die Textstufen der 4. und 5. Auflage der Großen Ausgabe verglichen. Alle Erkenntnisse daraus zu präsentieren, war das Nachwort nicht der richtige Ort - es richtet sich auch an Grimm-Leser, die keine Experten sind. Ich werde das noch in diesem Jahr in einem wissenschaftlichen Aufsatz nachholen. Was ich so rekonstruiert habe, ist quasi das Korrekturexemplar, das dem Setzer von 1843 A vorgelegen haben muss plus einer Darstellung der Satzfehler, die natürlich auch in 1843 A und B noch enthalten sind.

Abschließend noch etwas Grundsätzliches: Dank der hervorragenden Forschungsarbeit von Hans-Jörg Uther und Heinz Rölleke und anderen sind wir über die Herkunft der Märchen und ihre Zuträger ziemlich gut im Bild. Auch dass die Texte sich von Auflage zu Auflage verändern ist bekannt. Aber noch niemand hat diese Veränderungen im Detail dargestellt, was meiner Ansicht nach dringend nötig wäre. Warum gibt es noch keine historisch-kritische Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen, diesem berühmten Buch? Lothar Bluhm hat meines Wissens 1989 als Letzter öffentlich darüber nachgedacht. „Ganz Große Ausgabe“ empfindet Armin Erlinghagen offensichtlich als großmäulige Frechheit. Die Formulierung stammt nicht von mir und ist eher dem Marketing geschuldet. Immerhin, das zumindest sollte auch Armin Erlinghagen zugeben, sind wir die Einzigen, die zum 200jährigen Jubiläum etwas Neues gewagt haben. Ein wenig Anerkennung dafür hätte gut getan.
Schöne Grüße
Axel Winzer


Armin Erlinghagen schrieb uns am 07.07.2013 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Armin Erlinghagen: „Bin ich’s oder bin ich’s nicht?“

Stellungnahme des Rezensenten zu Axel Winzers Metakritik der o. g. Kritik

Dass die Redaktion von literaturkritik.de generell den Rezensierten die Gelegenheit bietet, in der Sparte ›Leserbriefe‹ die publizierten Kritiken ihrerseits einer Kritik zu unterziehen, ist lobenswert; Axel Winzers Erwiderung auf meine Kritik seiner Ausgabe von Grimms "Kinder- und Hausmärchen" (KHM) freilich legt den Gedanken nahe, dass eine Metakritik durch den Betroffenen selbst u. U. auch nachteilig sein könnte. Solcher Zweifel wird erregt durch den auffälligen Widerspruch von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung desselben Gegenstands in diesem Falle: Axel Winzer empfindet den ›Grundton‹ meiner Kritik als ’sehr kritisch’; einer der Forscher, auf die er sich vorzugsweise beruft, hingegen nennt (in einem an mich gerichteten Schreiben vom 1. April d. J.) dieselbe Rezension eine "klug abwägende noble Anzeige der Winzerschen Edition" und beschließt seine knappe Stellungnahme zu meiner Besprechung mit den Worten  "Solche Buchanzeigen, in denen wirklich etwas steht, wünscht man sich öfter - am besten aus Ihrer Feder." Ein anderer, gleichfalls sachkundiger, Leser beurteilt (in einem an mich gerichteten Schreiben vom 28. Januar d. J.) die fragliche Rezension als "auch in ihren Einwänden stichhaltig".
In der Tat ist Winzers Kommentierung meiner Rezension nach Inhalt und Form so weit von dem kommentierten Gegenstand entfernt, dass dieser  unkenntlich zu werden droht; ein Beispiel: "Ganz Große Ausgabe" empfindet Armin Erlinghagen offensichtlich als großmäulige Frechheit" (Winzer). Der Betroffene legt dem Rezensenten Empfindungen ins Herz, die dieser nicht empfunden, Gedanken in den Kopf, die dieser nicht gedacht, und Worte in den Mund, die dieser nicht gesprochenen hat, genauer, wie auch noch dessen weitreichendste, zugleich meistbeachtete Kritik ("Wie kritisch ist die Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe? […]", in: Text: Kritische Beiträge, Heft 3 [1997], S. 85-120) unter Beweis stellt, in einer für die Öffentlichkeit bestimmten Äußerung niemals in den Mund nehmen würde. Dem Metakritiker sei empfohlen, die kritisierte Kritik genauer zur Kenntnis zu nehmen – so genau zumindest, wie der Sachgehalt und der Argumentationsgang dieser Kritik es erfordern. – Zu einzelnen Einwänden:

1) Dass Axel Winzers neue Edition der KHM in meiner Kritik als solche angemessen gewürdigt wird, ist dem aufmerksamen und wohlmeinenden Leser leicht ersichtlich. Die gewichtigste Anerkennung durch den Rezensenten aber liegt darin, dass die fragliche Edition einer gründlichen und eingehenden Kritik unterzogen wird.
2) Solche Anerkennung geschieht im genauen Sinne des Editors: Winzers Edition wird als eine zwar nicht im strengen Sinne wissenschaftliche – ich meine zu wissen, worum es sich dabei handelt –, aber auf wissenschaftlicher Forschung beruhende "Leseausgabe für gehobene Ansprüche" bezeichnet, und an dieser Kennzeichnung der Ausgabenart möchte ich festhalten. (Dass das fachliche Wissen des Herausgebers in Sachen KHM darüber hinaus auch für wissenschaftliche Forschung im engeren Sinne nutzbar gemacht werden könnte, sei unbestritten.
3) Der Untertitel von Winzers Ausgabe - ’ganz große Ausgabe’, den übrigens nicht ich allein für unangemessen halte, mag (in erster Linie oder in letzter Instanz) dem Verlag zuzurechnen sein: die Verantwortung hierfür liegt gleichwohl bei dem Herausgeber. Als der Kantianer Karl Heinrich Heydenreich in den Jahren 1793, 1794 und 1796 im Leipziger Verlag Baumgärtner drei Sammelbände seiner Abhandlungen mit dem hochtrabenden Titel "Originalideen über die interessantesten Gegenstände der Philosophie" publizierte, konnte er, in der Vorrede zum Dritten Band (S. IV-VI), die Titelei gleichfalls durch einen Hinweis auf den Verleger entschuldigen; er war sich aber darüber im klaren, dass der einzige, der einen solchen Buchtitel hätte verhindern können und sollen, der Autor selbst gewesen wäre, dass mithin er selbst diesen zu verantworten hatte.
4) Dass ich Winzers Entscheidung, seiner Neuedition der Grimmschen Märchen deren 5. Auflage zugrunde zu legen, nicht nur billige, sondern ausdrücklich befürworte, ja, sie für die unter den gegebenen Voraussetzungen einzig richtige Entscheidung halte, geht zweifelsfrei aus meiner Rezension hervor. Dass ich für diese Entscheidung eine m. E. bessere Begründung als die Editor selbst finde, sollte dieser akzeptieren, wenn nicht als zusätzliche Rechtfertigung seiner Entscheidung gelten lassen. Dass in den verschiedenen Ausgaben der KHM nicht nur der Wortlaut der Texte, sondern auch deren editorische Qualität voneinander abweichen, ist übrigens vielfach bemerkt worden.
5) Die Ermittlung eines Doppeldrucks der 5. Auflage der KHM als eine originäre Leistung anzuerkennen fällt mir schwer, weil mir diese Doppelung der Drucke seit langem, seit den Vorarbeiten zu meiner im Jahre 1973 abgeschlossenen Studie über die Didaktik der Volkserzählung in Sekundarstufe I und II (1973) nämlich, bekannt ist. (Aufgefallen war sie mir, weil ich Abweichungen im Seitenspiegel wie im Wortlaut der umständehalber in zwei verschiedenen Bibliotheken benutzten Ausgaben derselben Auflage festgestellt hatte.) Unterdessen weiß ich, dass Doppeldrucke dieser Art, wie die jüngst von Mark-Georg Dehrmann in seiner historisch-kritischen Ausgabe von Friedrich Schlegels "Alarcos" bekannt gemachte, gar nicht selten sind. Es hat den Anschein, als zählte Winzer in literaturwissenschaftlichen Dingen nur das zu dem verfügbaren Wissen, was in Bibliographien eingegangen ist. Noch riskanter erscheint mir dessen Aussage, dass eine einzelne Ausgabe eines bestimmten Texts "weltweit nicht nachweisbar" sei, denn eine Behauptung wie diese ließe sich nur unter der Bedingung verifizieren, dass die diesbezügliche Recherche auf alle in Frage kommenden ausgedehnt worden wäre.
6) Anzunehmen (nicht: zu behaupten), Winzer hätte bei der Konstituierung der Texte die vorhandenen Digitalisate von Wikisource benutzt, hat für einen Philologen nicht Ehrenrühriges an sich (ich selbst würde in vergleichbaren Fällen ebenso verfahren). Ob ein in Frakturschrift vorliegender Text auf fremde oder auf eigene Veranlassung gescannt wurde, macht keinen Unterschied, denn für den Druck bedarf er in jedem Falle noch der OCR-Erkennung und der Transformation in eine Antiqua-Schrift. Die philologische Leistung des Editors nämlich liegt nicht in der einen oder der anderen der genannten technischen Operationen, die in jedem Falle fehlerträchtig sind, sondern in der Prüfung der gegebenen Textvorlagen – Zeichen für Zeichen, Wort für Wort – mit philologischen Mitteln und in der Konstituierung eines möglichst fehlerfreien gedruckten Textes.
7) Warum Winzer im Zusammenhang seiner Leseausgabe der KHM auf das Fehlen einer Historisch-kritischen Ausgabe zu sprechen kommt, vermag ich nicht recht zu einzusehen;  es ist dieser Umstand oft genug besprochen und beklagt worden. Für einzelne Märchen ist der Prozess der progressiven Transformation der Texte auch bereits nachgezeichnet worden, und punktuell wir ein solcher Transformationsprozess ja auch bereits von Winzer verfolgt. Das Projekt Historisch-kritische Ausgabe der KHM – es würde sich um ein viele Bände umfassendes Œuvre handeln –, ist m. W. bisher vor allem daran gescheitert, dass sich keine Institution fand, die ein Projekt solchen Ausmaßes finanziert hätte.

Dr. Armin Erlinghagen, StD
Bad Münstereifel, 7. Juli 2013


Dr. Klaus Graf schrieb uns am 24.08.2013 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Armin Erlinghagen: „Bin ich’s oder bin ich’s nicht?“

Als Mitarbeiter des freien Projekts Wikisource möchte ich zu einer Bemerkung von Axel Winzer Stellung nehmen. Er schreibt: "Der Wikisource-Text transportiert nicht nur getreulich die Fehler des Originals, er fügt ihnen noch eine Reihe weiterer Fehler hinzu und entstellt den Originaltext. Für wissenschaftliches Arbeiten ist er untauglich.“ Wir wehren uns gegen diese Einschätzung unserer Arbeit. Wikisource, das als eigenständiges deutschsprachiges Projekt seit acht Jahren besteht, legt Wert auf die wissenschaftliche Verwertbarkeit seiner Texte und arbeitet mit Scans der Originale, die ein stets korrektes Zitieren der jeweiligen Vorlage ermöglichen. Für wissenschaftliches Arbeiten ist dieses Vorgehen ausgesprochen geeignet, zumal die vergleichsweise wenigen Aktiven keine absolut fehlerfreien Texte garantieren können. In der Regel werden brauchbare OCR-Texte von zwei Wikisource-Mitarbeitern korrigiert. Auch wenn große Firmen Bücher in China mehrfach abschreiben lassen, ist eine Fehlerfreiheit von 100 % kaum erreichbar. Ich bin sicher, dass auch Winzers Text irgendwo mindestens einen Fehler enthält, also weitere Fehler dem Original hinzufügt.

Das Projekt Wikisource hat kostenlos einen großartigen Service für die Grimm-Philologie ins Netz gestellt, nämlich nicht nur nur die 5. Auflage in Textform B, sondern alle großen Ausgaben von der Erstausgabe bis zur Ausgabe letzter Hand (7. Auflage), komplett als E-Text und Faksimile einsehbar: http://de.wikisource.org/wiki/Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen

Jede Märchenfassung ist mit den anderen verknüpft, was einen sofortigen Vergleich der Änderungen ermöglicht. Keine Druckausgabe kann dies leisten.

Wer einen Transkriptions-Fehler in den Wikisource-KHM findet, darf ihn nicht nur behalten, sondern ist herzlich aufgerufen, auf der Diskussionsseite einen Hinweis zu hinterlassen, damit er verbessert werden kann.