Leserbriefe zur Rezension

Die Literatur, ein Spiel

Zu Daniel Kehlmanns neuem Roman „F“

Von Stefan Höppner


Claudia Schmölders schrieb uns am 18.10.2013
Thema: Stefan Höppner: Die Literatur, ein Spiel

Wie gut, dass jemand die Kritiker von Kehlmanns Roman „F“ zur Besinnung ermahnt! Allzu leichtfertig und teils auch gehässig wurde darüber geschrieben, man wünscht sich aber eine genauere philologische Lektüre. Denn „F“ ist ein Ideenroman, - wie schon die „Vermessung der Welt“ -, ein allegorischer Roman, und die beiden ehrgeizigen Literaturanleihen des Autors kann man nicht übergehen, will man ihn irgend ernst nehmen.
Thomas Manns „Mario und der Zauberer“ wird doch eingangs plagiatverdächtig ausgiebig zitiert – warum? Wie bei TM geht eine Familie mit Kindern zum Zauberer, wie bei TM produziert der Hypnotiseur schlafende und tanzende Personen auf der Bühne, wie bei TM lockt ein böser Hypnotiseur den Liebeswunsch eines Zuschauers heraus: Vater Arthurs bösartige Selbstliebe. Zwei Mütter verlässt er, drei Kinder lässt er sitzen, eines seiner Bücher tötet seine Leser, sein Familienroman ist bar jeder Gefühlswärme: ein Ungeheuer. Erst seine Enkelin kann ihn erwärmen. Steht als Matrix womöglich der kühle Autor von “Mario und der Zauberer“ selber dahinter, mit seinen drei Söhnen und geliebten Enkeln? Die sehr beiläufige Anspielung auf eine „Artusrunde“, auf die Zwillinge Eric und Iwein, also die mittelalterlichen Hartmann-Epen ist grelle Satire. Die Anspielung auf Dostojewski aber nicht, so ambitiös sie auch wirkt. Auch die Brüder Karamasow werden aufdringlich zitiert: Wie dort gibt es auch in „F“ einen Halbbruder, einen Priesterbruder, einen Iwan; und wie dort steht im Mittelpunkt die dringende Frage des Glaubens. Alle drei Brüder sind allegorische Repräsentanten der drei großen Glaubensgebäude des Abendlandes: Religion, Kunst und Geld, wobei die beiden letzteren sogar als „Zwillinge“ gelten: und sind sie es nicht systemisch auch längst? Aus dieser Glaubensdiskussion jedenfalls stammt der Familienname: Friedland. Arthur könnte zur Sippe des Wallenstein gehören, zum Herzog von Friedland, Generalissimus des 30jährigen Glaubenskrieges, dem Typos - nicht Typus - der europäischen Verwüstung 1914-1945. Arthurs „Familienroman“ reicht zum Typos zurück und schemenhaft weiter bis zum einst friedenstiftenden Runden Tisch unter König Artur.
Wallenstein jedenfalls hing auffällig der Astrologie an, vor allem Kepler, behielt sich aber vor, daran zu glauben oder nicht. Schillers Wallenstein fragt sich entsetzt: „Könnt‘ ich nicht mehr wie ich wollte?“ und das Thema Willensfreiheit paraphrasiert natürlich auch TM  wiederholt – kein Wunder, denn es geht ja um Hypnose.  Aber es geht wohl auch noch um mehr. TMs „Zauberer“ tritt auf im August 1930, einen Monat vor der Reichstagswahl, mit der NSDAP als zweitstärkster Kraft. Cipolla trägt bei TM ein Fliegenbärtchen und agiert mit einer Reitpeitsche, kurz:  TMs späterer „Bruder Hitler“ steht Pate, der seinerseits Wallenstein zur Ikone erhob. Und hat nicht einer der Söhne von TM ein großes Buch über Wallenstein verfasst – Golo Mann? Dies alles bildet die Unterwelt eines Romans von 2013, der den Finanzkollaps von Eric mit der HitlerZahlenmystik  28.8.2008 konnotiert – die acht steht bekanntlich für die Stelle des Buchstabens H im Alphabet, eine doppelte Acht bedeutet im neonazistischen Jargon „Heil Hitler“.
Und so ist das befremdliche Auftreten des Todes oder des Teufels in Iwans letzten Stunden im heimlichen Atelier womöglich nur wieder eine Allusion auf TMs Künstlerroman Dr. Faustus und dessen Teufelsspuk. Oder auf Dostojewskis Iwan mit seiner berühmten Parabel vom Großinquisitor, dieser großen Allegorie unserer christlichen Glaubenskrise. Kehlmann läßt freilich von beiden Teufeln nur noch einen übrig: das Schicksal, den blanken Zufall. Gott würfelt nicht, hat Einstein gesagt. Kehlmann ergänzt: aber der Teufel.
Kurz, dieser Roman ist ein tieftrauriges Buch mit unterhaltsamer Oberfläche, nicht zynisch, eher entsetzt. Das Buch eines gebildeten Autors, der gebildete Leser erwartet. Darf er das? Hat das intertextuelle Spiel, das Aufrufen unserer Literaturgeschichte kein Recht mehr im weltliterarischen Chor? Wie hat sich die Generation der Weltleser nach 1945 mit der Entzifferung von Joyce‘s  „Ulysses“ am europäischen Lektürekanon abgearbeitet – alles vorbei, vergessen, nur lästig?