Leserbriefe zur Rezension

Was tun mit Heidegger?

Zum 83. Band der Gesamtausgabe, den Heidegger-Jahrbüchern 4 und 5 sowie dem Heidegger-Handbuch unter Berücksichtigung der Debatte um die „Schwarzen Hefte“

Von Sebastian Schreull


Christoph Schmitz schrieb uns am 03.06.2015
Thema: Sebastian Schreull: Was tun mit Heidegger?

Heidegger ist nicht leicht zu lesen und, wenn man sich doch die Mühe macht, nicht für jeden leicht zu ertragen. Der aufmerksame Leser ist nicht auf die krassen Formulierungen der "Schwarzen Hefte" angewiesen, um Heidegger als politisch bedenklich, ja manchmal gar als ekelhaft zu entlarven. Selbst einem dem "principle of charity" verschreibenen Leser fällt es schwer, den "Brief über den Humanismus" als in irgendeiner Form gelungene Apologie der Verstrickungen in den Nationalsozialismus zu lesen: Seltsam irrational auflodernder Nationalismus macht diesen Text zu einem Zeugen der Vermählung politischer Blindheit und philosophischem (Pseudo-?)Tiefsinns, deren Rechtfertigung das eigentliche Vergehen erst spürbar macht.

Sebastian Schreulls Sammelrezension zur Debatte um Heidegger lädt ein, diesen und andere haarsträubende Äußerungen mit Bedacht zu kritisieren und ein umfassendes philosophisches Werk, dessen Wirkung unbestreitbar sein dürfte, nicht aus Gründen feuillitonistischer Marktschreierei ad acta zu legen.

Diesem Ansinnen des Autors kann ich nur zustimmen. Denn Pauschalurteile sollten niemals akademisches Werkzeug sein, da macht die Philosophie keine Ausnahme. Es überrascht zwar nicht, in der Presse auf radikale Forderungen im Umgang mit problematischen Denkern zu stoßen, allerdings bleibt auf das wirkungslose Verpuffen derselben zu hoffen. Denn die nicht abbrechende Debatte um die Rolle Heideggers im Nationalsozialismus und des Nationalsozialismus im Heidegger läuft an verschiedenen Aspekten fehl, die ich dem Aufsatz Schreulls unter kurzen Stichworten hinzufügen möchte:

Heidegger vs. "Heidegger"

Die Frage, inwieweit nun der Nationalsozialismus oder diesem verwandte Gedankenelemente Teil des Heideggerschen Textkorpus sein, ist eine schwer zu beantwortende Frage, die auch nach Veröffentlichung der "Schwarzen Hefte" wohl nicht eindeutig geklärt werden kann. Schuld daran ist neben der schwierigen Sprache dieser Schriften auch ein systematisches Problem: das Verhältnis von Autor und Werk.

Die Dichotomie zwischen beiden Begriffen ist ein in der Literaturwissenschaft wohlbekanntes Problem, dessen schärfste Analyse aus der Feder Foucaults stammt. Das Problem bezeichnet die Unstimmigkeiten, die sich ergeben, wenn man einem Autor (als Person) einen gewissen Textkorpus zuschreibt und beides aneinander abgleichen will. "Goethe zu lesen und zu interpretieren" ist ein gängiger Ausdruck. Werk und Autor als eine solche Einheit zu sehen, wie wir es nicht nur in der alltäglichen Kommunikation, sondern auch in der akademischen stets postulieren, ist aus verschiedenen Gründen problematisch: Was ist Teil des Werkes, was nicht? Wie kann man einem Autor überhaubt die Urheberschaft eines Textes einwandfrei zuschreiben? Was bedeutet es überhaupt, einen Text im Hinblick auf die Intention des Autors zu interpretieren?

Genau diese Fragen stellen sich speziell bei der Diskussion um Heidegger, sind aber im allgemeinen Ursprung vieler Verwirrungen im Gebiet der Geschichte der Philosophie. Wann benutzen wir einen Autornamen als Abkürzung für einen bestimmten Textkorpus, wann aber verwechseln wir dies mit der aktuellen Person des Autors? Der Kurzschluss, jeden Text Heideggers als Beleg für seine nationalsozialistische Gesinnung zu sehen, scheint in diesem theoretischen Dilemma seinen Ursprung zu haben. Es ist zwar aus philosophischen Gründen geboten, einem Text zunächst seine Kohärenz zu unterstellen, dieses hermeneutische Prinzip aber auf ein Gesamtwerk auszuweiten, dass im Laufe von mehreren Jahrzehnten entstanden ist, scheint bestenfalls naiv. Das gilt nicht nur für Heidegger, sondern auch für Arbeiten zu anderen Philosophen und ihren Werken. Es erscheint jedesmal etwas seltsam, wenn jemand die "Kritik der reinen Vernunft" entschlüsselt zu haben glaubt, weil er in einem Jahre später verfassten Text Kants eine Fußnote entdeckt hat, die das wirkliche Verständnis der reinen Apperzeption ermöglicht. Tatsächlich stellen sich solche Fragen gar nicht, denn es geht nicht um das, was Kant gedacht hat. Das ist unmöglich zu rekonstruieren und wissenschaftlich höchst irrelevant. Die Frage sollte vielmehr sein, welche philosophischen Implikationen das "Ich: muss alle meine Gedanken begleiten können" überhaupt hat.

Für Heidegger gilt das ebenfalls: Natürlich glaubt man nun mit Bemerkungen aus den "Schwarzen Heften", endlich einen einfachen Schlüssel für das Werk namens "Heidegger" gefunden zu haben, vertauscht aber in dieser Annahme Autorenname und Textbezeichnung. Damit begeht man nicht nur einen methodischen Fehler, sondern man beraubt sich auch der mächtigsten Waffe, die man gegen jedwede nationalsozialistische "Theorie" besitzt: Sie argumentativ zu negieren.

Argumentative Armut

Schreull zeigt in seinem Text sehr schön, wie erleichtert viele scheinen, Heidegger nun endlich ruhigen Gewissens ignorieren zu können. Bei genauerem Bedenken jedoch ist eine solche Herangehensweise ein Nackenschlag für jedweden aufklärerischen Anspruch. Denn die Frage, ob sich aus den verschiedenen Schriften Heideggers totalitäres Gedankengut herauslesen lasse, ist keine triviale. Sie zielt auf das Herz einer jeden Schrift Heideggers und stellt eine hermeneutische Herausforderung dar, die nicht einfach zu meistern ist. Gefordert ist eine sachliche Auseinandersetzung mit Heideggers Argumenten, seiner Aufassung der "Seinsvergessenheit" der abendländischen Metaphysik und die seltsame, manchmal naiv anmutende Sehnsucht nach einer ursprünglichen "Lichtung des Seins".

Tiefe Einsicht in das Wesen der (deutschen) Sprache paart sich oft mit einer erschreckenden Naivität hinsichtlich der aus Sprachspielen gewonnen "Erkenntnisse". Sicherlich, Heideggers Neigung zu ungewohnten Umformulierungen und sein Spiel mit morphologischen Formen verspricht tiefe Einsicht in Begriffe und Verhältnisse zwischen diesen, die wir mit der Alltagssprache nicht leicht fassen können. Doch dieser Heideggersche Trick ist nicht immer überzeugend und bleibt manchmal nicht nur leer, sondern in seiner Abhängigkeit von bestimmten grammatikalischen Mustern der deutschen Sprache auch oft abhängig von seinem sprachlichen Kontext.

Ob diese möglichen Anlässe zur Kritik an "Heidegger" allerdings auch einen möglicherweise faschistoiden Grundton dieser Schriften herausarbeiten können, sei dahin gestellt und kompetenteren Vertretern des Fachs überlassen. Klar ist aber, dass eine Auseinandersetzung, die sich mit einer Verurteilung und anschließender Degradierung begnügt, keine antifaschistische Arbeit leistet, sondern diese vielmehr verweigert. Denn wenn "Heideggers" Denken tatsächlich zu solchen Folgerungen führt oder führen kann, ist es entscheidend, die jeweiligen Wegmarken aufzuzeigen und argumentativ zu entlarven.

Die schlichte Missachtung jeglicher als faschistoid zu bezeichnender Literatur ist dahingehend gefährlich, dass der Missachtende ihr im Moment der Begegnung keinerlei argumentative Gegnerschaft bieten kann und daher nur die kalte, stumme Stirn zu zeigen imstande ist. Das scheint einer Kapitulation näherzukommen als dem erhofften Widerstand.

Eine ernste Kritik an Heidegger kann zeigen, dass Philosophie als Wissenschaft von den Bedingungen des Menschseins nicht unpolitisch sein kann, sondern sich ihren Implikationen stellen können muss. In diesem Sinne ist Philosophie stets in der Welt. Und damit müssen wir umgehen.