Leserbriefe zur Rezension

Luther, der Papst und andere Religionsgeschichten

Zur Februar-Ausgabe 2017 von literaturkritik.de – mit Anmerkungen zur jüngsten Germanistik-Schelte im „Spiegel“

Von Thomas Anz


Nils Gelker schrieb uns am 09.02.2017
Thema: Thomas Anz: Luther, der Papst und andere Religionsgeschichten

Sehr geehrter Herr Prof. Anz,

in Ihrem neuen Vorwort bei Literaturkritik haben Sie über die Germanistikschelte im letzten SPIEGEL geschrieben. Genau wie Steffen Martus’ Beitrag und der gemeinsame Artikel von Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein und  Albrecht Koschorke in der FAZ ist diese Gegendarstellung sehr richtig und auch sehr wichtig.

Nun ist es so, dass ich einer der Herausgeber des "Germanistik als Patient"-Bandes bin, aus dem im SPIEGEL zitiert wird. Und obwohl ich mich freue, dass der Band offenbar überhaupt von jemandem gelesen wurde, bin ich nicht so begeistert davon, wie unser kleines Buch vereinnahmt wird. Herr Doerry hat das Buch eine "Klageschrift" genannt – das ist nicht richtig.


Wir haben damals Beiträge von jungen Germanistinnen und Germanisten aus Deutschland, Togo und Kamerun gesammelt. Die überwiegende Mehrheit der Artikel spricht zwar (subjektiv wahrgenommene) Probleme des Faches an, aber betont auch, wie gewinnend das Studium sei. Wir haben Verbesserungsvorschläge gesammelt, subjektive Problembeschreibungen, aber auch flammende Liebeserklärungen für das Fach. Das macht unterm Strich keine Klageschrift.

Die versammelten Artikel stellen keine einheitliche Meinung dar – es gehörte gerade zum Konzept des Bandes, ganz verschiedene authentische Meinungen zu sammeln und zu veröffentlichen. Ich finde es deswegen schade, dass die beschränkte Rezeption unseres kleinen Studierendenprojekts durch den SPIEGEL-Artikel nun eine starke Vorgabe gekriegt hat. Deswegen finde ich es auch sehr schade, dass das Wort "Klageschrift" in Ihrem Vorwort nicht in Anführungszeichen gesetzt ist. Sie beziehen sich, wenn ich das richtig sehe, auf den Begriff, den Doerry – wie ich meine fälschlich – für unseren Band gebraucht. Aber ohne die Kennzeichnung des Zitats verfestigt das leider den tendenziösen und unrichtigen Blick auf unser kleines Projekt. Ich würde mich deswegen sehr freuen, wenn die Anführungszeichen vielleicht noch ihren Weg zur Klageschrift finden könnten.

Was sich an der Darstellung unserer „Klageschrift“ zeigt, ist eben genau die Problematik der Germanistikschelte, die Sie benannt haben: Sie ist ein Zerrbild. Das Fach hat seine Probleme, ja. Das Fach hat aber auch gezeigt, dass es einen wissenschaftlichen Nachwuchs hervorbringen kann, dessen Problembewusstsein nicht nur aus krisenhaften Erfahrungen, sondern auch gerade aus wissenschaftlichem Selbstbewusstsein hervorgeht.

Mit freundlichen Grüßen
Nils Gelker


Thomas Anz schrieb uns am 09.02.2017 als Antwort auf einen Leserbrief
Thema: Re: Thomas Anz: Luther, der Papst und andere Religionsgeschichten

Sehr geehrter Herr Gelker,
besten Dank für Ihre aufschlussreichen Informationen! "Klageschrift" habe ich jetzt nachträglich in Anführungszeichen gesetzt und damit als einen Ausdruck des SPIEGEL-Autors gekennzeichnet.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Anz


Stefanie Leibetseder schrieb uns am 13.02.2017
Thema: Thomas Anz: Luther, der Papst und andere Religionsgeschichten

Lieber Herr Professor Anz,
die gleiche Klage ließe sich (z. T. mit Recht) über das Fach Kunstgeschichte anstimmen, nur habe ich es nie so gesehen, sondern als kulturelles Kapital, das seinen Wert auf andere Art entfaltet: Man lernt nämlich Sehen und zwar auf viele Arten.

Stefanie Leibetseder


Klaus Müller-Salget schrieb uns am 17.02.2017
Thema: Thomas Anz: Luther, der Papst und andere Religionsgeschichten

Zur "Germanistik-Schelte"

Lieber Herr Anz,
ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Entgegnung. Es ist schon interessant zu beobachten, wie gerade 'ehemalige' Germanisten sich in solchen Verächtlichmachungen gefallen.
Dass auch mir manches in unserem Fach und manche verkorkst ansprüchlichen Wichtigtuereien auf die Nerven gehen, ist bekannt. Aber dafür, das ganze Fach Germanistik herunterzumachen, sollte der "Spiegel" sich eigentlich zu schade sein.
Mit allen guten Wünschen und mit herzlichem Gruß
Ihr Klaus Müller-Salget


Barbara Mahlmann-Bauer schrieb uns am 28.02.2017
Thema: Thomas Anz: Luther, der Papst und andere Religionsgeschichten

Ich gehöre zu den Professoren, die, wie Doerry rügte, in den Medien (von einigen Ausnahmen abgesehen) nicht präsent sind, um zu grossen Fragen der Zeit Stellung zu nehmen.  An einer Apologie, wie gut wir doch unsere Lehre und Forschung machen, wie viel Anerkennung wir verdienen, wie fit die Studierenden sind, die wir in Scharen an die Schulen und Redaktionen entlassen, bin ich in meiner Antwort nicht interessiert.
Wäre Doerrys Germanistik-Schelte und die Reaktionen von Fachvertretern, die er ausgelöst hat, nicht ein willkommener Anlass, über die Perspektiven und Aufgaben des Fachs nachzudenken, in dem vor allem Deutsch-LehrerInnen ausgebildet werden?
Dies ist der wichtigste Auftrag an uns Literaturwissenschaftler und Sprachwissenschaftler. Auch wenn Doerry feststellt, dass nur noch 61% der Absolventen im Fach Germanistik an deutschen Hochschulen in die Gymnasien streben, wird die Gesellschaft künftig auf Unterricht in deutscher Sprache und deutschsprachiger Kultur/Literatur nicht verzichten können, damit sich junge Leute auf dem Arbeitsmarkt bewerben und damit sie als Stimmbürger ihre Meinungen in die Kommunikations- und Mediengesellschaft effizient einbringen können.
Kenntnisse der Texte von Gryphius, Lessing, Schiller, Kleist, Gotthelf, Droste-Hülshoff, Heine, Thomas Mann, Robert Musil, Primo Levi, Imre Kertész oder Ruth Klüger sind identitätsbildend: Sie helfen Studierenden, sich mit ihrem Lebensstil und Wertebewusstsein in die europäische Kulturgeschichte einzuordnen und ihre Position zum auf Gegenwart fixierten Literaturbetrieb zu erarbeiten. Sie ermöglichen es ihnen, mit Angehörigen aussereuropäischer Kulturen, die ihre Heimat und Familien im Stich liessen, um Gewalt und Ausbeutung zu entgehen, verständnisvoll über ihre Verlusterfahrungen zu diskutieren und Freiheit, Gerechtigkeit und Autonomie als Werte eloquent zu verteidigen.
Ja: Verhandlungen über literarische Texte im Deutschunterricht bilden auch Brücken zu KlassenkameradInnen aus anderen Kulturen. Lektüren von Lessings Nathan der Weise, Cordelia Edvardsons Gebranntes Kind sucht das Feuer oder Ruth Klügers Weiterleben schärfen das Bewusstsein Traumatisierter, dass auch in der deutschen Vergangenheit Überlebende politischer und rassischer Verfolgung und Extermination ihre schmerzlichen Erinnerungen in Ego-Dokumenten zu bewältigen versuchten.
Seit 25 Jahren habe ich in Deutschland (Uni München, Uni Marburg) und in Bern mit Studierenden Erinnerungsbücher über den Holocaust gelesen. Ich beobachte, wie sensibel gegenwärtig 20-30jährige diese Texte literaturwissenschaftlich und mit zeitgeschichtlichem Wissen interpretieren. Knapp 60 Studierende besuchten meine Vorlesung im HS 2016 zu diesem Thema. Ihre Interpretationen von Paul Celans Gedichten, George Taboris Theater, von Erinnerungsberichten Primo Levis, Ruth Klügers, Cordelia Edvardsons, Imre Kertész, G.-A. Goldschmidts und Aharon Appelfeld, die sie mir in ihren Klausuren vorlegten, haben ein überdurchschnittliches Niveau, was das Ausdrucksvermögen, ethische Reflexion und die ästhetische Wertungskompetenz belangt. Den Studierenden ist besonders seit dem Tod der meisten Zeitzeugen bewusst, dass literarische Zeugnisse einzigartige Stützen im Kampf gegen historische Ignoranz und politische Selbstgerechtigkeit sind. Sie werden dies später im Deutschunterricht und an bildungspolitischen Schaltstellen an Jüngere weitergeben.
Da werden Secondos türkischer, albanischer, syrischer etc. Asylanten/Flüchtlinge im Klassenzimmer sitzen, die im Deutsch- und Geschichtsunterricht mit Deutschlands Vergangenheit konfrontiert werden und begreifen müssen, wieso Antisemitismus hierzulande ‚gar nicht geht’ und antisemitische Äußerungen strafrechtlich geahndet werden. Ihnen eröffnen Lehrer und Lehrerinnen den Zugang zu einer Vergangenheit, in der 12 Jahre lang Juden, Kommunisten, Sinti und Roma und andere Nicht-Angepasste diskriminiert, verfolgt und getötet wurden und viele Deutsche ins Exil gingen und über ihre Erfahrungen schrieben. Diese Rückblicke gibt jungen Leuten, die oder deren Eltern aus ihrer Heimat geflohen sind, Gelegenheit, ihre schmerzlichen Erfahrungen mit denen der von den Nationalsozialisten verjagten und ermordeten Menschen zu vergleichen. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie der Literaturunterricht, wenn er interkulturelle Lesekompetenzen vermittelt und den interreligiösen Dialog fördert, zur Durcharbeitung von Verlusterfahrungen in der ersten und zweiten Generation von Flüchtlingen und Asylanten beitragen könnte.

Wie werden DeutschlehrerInnen in naher Zukunft den Dialog zwischen den Kulturen, Werte- und Religionsgemeinschaften im Literaturunterricht entfachen und steuern? Auf die Deutsch-LehrerInnen der nächsten 10-20 Jahre kommen neue, spannende Aufgaben zu. Mit Sprachkursen allein ist den jugendlichen MigrantInnen und AsylantInnen hier nicht gedient. Sie bringen ihre Erinnerungen an ermordete Angehörige, an Gewalt und Unterdrückung mit in eine Gesellschaft, von deren Geschichte und Kultur sie wenig oder nichts wissen. Genau dieses Wissen könnte ihnen aber nachhaltig bei der Durcharbeitung ihrer Verlusterfahrungen helfen: die Kenntnis von Texten, in denen Opfer früherer Diskriminierung und Gewalt sich mit der Bitte um Aufklärung an die Nachgeborenen wenden.
Das Curriculum des Literaturunterrichts im Fach Deutsch muss erweitert werden, damit Gryphius im Dreissigjährigen Krieg, Lessing und sein jüdischer Freund Mendelssohn und Heinrich Heines Hebräische Melodien mit Werken vergleichbarer Koryphäen aus afrikanischen, orientalischen und fernöstlichen Kulturen den Schülern und Schülerinnen näher gebracht werden können. Hilfsreich wäre es beispielsweise, künftigen Deutschlehrern das Erlernen einer aussereuropäischen Kultursprache und Kenntnisse nicht-christlicher Religionskulturen zur Wahlpflicht zu machen.
Damit neue Generationen von Deutsch-Lehrern Jugendlichen aus nicht-europäischen Ländern und mit Migrationshintergrund Werke deutschsprachiger Literatur auf Augenhöhe zusammen mit ausgewählten Texten der aussereuropäischen Weltliteratur nahebringen können, sind auch Anpassungen im Studienprogramm der Germanistik-Abteilungen nötig. Der SNF, ÖWF und die DFG müssten die Initiative ergreifen, im Auftrag der beteiligten Kultusminister und Kulturverantwortlichen Dozierende der Germanistik mit ihren Kollegen aus Religionswissenschaften und Islamwissenschaften zusammenzubringen, mit dem Ziel, neue interkulturell ausgerichtete Studienprogramme und Curricula für die Ausbildung von Deutschlehrern zu entwerfen. Einmal von den großen Förderinstitutionen und Drittmittelgeber angestoßen, sollten Diskussionen über die Erweiterung der Studienprogramme in Germanistik-Instituten, an Pädagogischen Hochschulen und beispielsweise im Deutschen Philologenverband geführt werden. Nur wenn das Anforderungsprofil von Deutschlehrern erweitert wird, werden sich jugendliche Asylanten und Migranten für das Fach Germanistik entscheiden. Sonst droht das Studium von Lessing, Goethe und Schiller oder das Glasperlenspiel mit Literaturtheorien und –moden unser Fach zum Orchideenfach zusammen zu schnurren, weil (um bei Doerrys Beispielen zu bleiben:) der Komponist Schiller und der tote Dichter Goethe Jüngeren nichts mehr zu sagen haben.

Prof. Dr. Barbara Mahlmann-Bauer
Institut für Germanistik
Länggass-Str. 49
3000 Bern 9

28. Februar 2017