Leserbriefe zur Rezension

Ein bisschen bi schadet nie

Christine Weder rekonstruiert die Ästhetik und Theorien der Sexualität um 1968

Von Rolf Löchel


Paul Mog schrieb uns am 01.02.2018
Thema: Rolf Löchel: Ein bisschen bi schadet nie

Christine Weders Habilitationsschrift Intime Beziehungen habe ich gelesen und in Rolf Löchels Rezension nur mit Mühe wiedererkannt. Dabei hat das Buch eine klare These und Zweiteilung: „Intime Beziehungen“ zwischen Sexualitätstheorien und Ästhetik um 1968 führen einerseits zu ästhetisierten Sexualitätstheorien und andererseits zu einer sexualisierten / erotisierten Ästhetik. Nicht nur Politisierung, sondern nicht minder bedeutsame Sexualisierungs- und Erotisierungstendenzen prägen somit die Ästhetik um 1968. Bemerkenswert und kennzeichnend für den historisierenden Zugang des Buches ist, dass Weder die in den Sexualdiskursen der Zeit omnipräsente Repressionsthese im Anschluss an Foucault „als äußerst wirksame Fiktion“ (S. 15) bezeichnet.

Von alldem ist bei Löchel nicht die Rede. Er erzählt von der Kommune 1, vom Geschlechterkampf im Spielfilm Rote Sonne und breitet eigene Interessengebiete aus: den feministischen Sexualdiskurs und praktische Versuche im Namen der „sexuellen Revolution“. Dass es Weder nicht nur um die Sexualtheorien Wilhelm Reichs und Herbert Marcuses geht, sondern um deren Ästhetisierung, wird ausgeblendet und erst dann thematisiert, wenn die Arbeit mit der „künstlerischen Sphäre“ so konkret und nachvollziehbar ist wie in Günter Amendts ironischem Aufklärungsbuch Sexfront.

Im 2. Teil ihrer Arbeit kann Weder zeigen, dass das Obszöne, die Pornographie in den Ästhetiken der Zeit zu einem Zentrum von Kunst und Literatur avanciert. Die differenzierte Diskussion über Form und Wirkung der Pornographie in Kapiteln zu Ludwig Marcuse, Susan Sontag, Leslie A. Fiedler und dem Zürcher Literaturstreit ist für den Nachweis der Sexualisierung / Erotisierung der Ästhetik zentral. In Löchels Rezension kommt sie jedoch so wenig vor wie die glänzende Analyse, die sexuelle Obsessionen auch in Adornos unvollendeter Ästhetik aufdeckt. Übrig geblieben von den über 200 Seiten des 2. Teils sind bei Löchel nur jeweils einige Zeilen zu Peter Gorsen und Roland Barthes‘ Erotische Fragmente einer Theorie der Text-Erotik. Viel lieber kommt Löchel stattdessen abschließend auf sein Lieblingsbuch Sexfront zurück, dessen Lektüre vielen Menschen mehr Lust bereitet habe als die des „sperrigen Werkes von Barthes“.

Eine Rezension kann Akzente setzen, vereinfachen, weglassen. Die Art und Weise, wie Löchel jedoch das Sperrig- Anspruchsvolle der Ästhetik im 2. Teil zugunsten des Flott-Populären („ein bisschen bi schadet nie“) zum Verschwinden bringt, ist irreführend und wird Christine Weders herausragendem Buch nicht gerecht.