Leserbriefe zur Rezension

Sein Leben

Marcel Reich-Ranickis späte Autobiographie

Von Thomas Anz


Simone Rittgen schrieb uns am 18.07.2012
Thema: Thomas Anz: Sein Leben

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit einiger Zeit fesselt mich das Buch "Mein Leben" von und über Marcel Reich-Ranicki.
Was höchst selten für mich ist, ich lese "unter der Woche" in diesem Buch, ich lasse mich von dem aus diesem Buch hervorgehenden Gedanken inspirieren und finde jede Menge Denkansätze, die sich lohnen, weiter zu denken.
Und doch bin ich irritiert: Ich halte hier ein Buch über das Leben eines Familienvaters in der Hand, das den Titel "Mein LEBEN" trägt, und weiß nichts über die Vater-Sohn-Beziehung zwischen Herrn Reich-Ranicki und seinem Sohn, wohl aber über das Vater-Sohn-Verhältnis der Familie Thomas Mann.
Es bleibt die Frage für mich offen, wer von den Eltern in die Schule gegangen ist, wenn der Junior gelobt oder getadelt worden ist. Welche Rolle spielt der erste Zahn des Sohnes im Leben von Herrn Reich-Ranicki, welche Weihnachtszeremonie gab es, oder gab es keine?
Welche familiären Höhepunkte gab es, oder gab es keine?
Wenn Herr Reich- Ranicki diese in der Tat sehr privaten Einblicke nicht mit uns Lesern teilen möchte, dies ist ja sein Recht, wäre dann ein anderer Titel nicht passender, ein Titel, der nicht suggeriert, man könnte etwas über darüber erfahren, wie er LEBT. Statt dessen erfährt man hauptsächlich, wie er GEARBEITET hat. Nicht dass dies uninteressant wäre, im Gegenteil, meine Gedanken werden sicher noch einige Jahre gefesselt sein von der herrlichen Fülle der geäußerten Gedanken.
Beim Lesen über seine Kindheit, im Warschauer Getto bis hin zu seiner Arbeit beim polnischen Militär spielt sich vor meinem inneren Auge ein wahrhafter Film ab- ich glaube zu sehen, was er beschreibt. Seine Weggenossen und seine Familie bekommen Gesichter und Konturen, besitzen Charakter und Lebensechtheit. All dies vermisse in den Teilen des Buches, die ab ca 1950 anschließen.
Nichts deutet mehr auf ein Privatleben hin. Sicher, ich habe verstanden, dass die Literatur, zumal die deutsche Literatur buchstäblich die größte Liebe seines Lebens ist, sein Halt, seine Stütze, seine Freude, seine Heimat und noch viel viel mehr.
Aber sie ist nun einmal kein Mensch. Es bleibt für mich die Frage offen, wie Herr Reich-Ranicki nun "außerhalb seiner Dienstzeit" war und ist. Mir ist bewusst, dass es wohl wenig Zeit gab, die keine "Dienstzeit" war.
Dennoch muss er doch als Vater sich Gedanken über die Zukunft seines kleinen Sohnes gemacht haben, er muss erfahren haben, ob seine Erwartungen erfüllt, enttäuscht oder überflügelt wurden.
Seine beiden Hochzeiten mit seiner Frau sind in der Tat ungewöhnlich und ich bin froh, dass meine eigene Hochzeit nicht unter solchen Sternen stand wie die seinen.
Aber ob er seiner Frau Blumen mit nach Hause gebracht hat, weiß ich nun nicht. Ich weiß, dass sie für ihn gestohlen hat - was hat er für sie getan? Nicht dass man in einer Ehe, die noch dazu so lange andauernd durfte wie die seinige, sich gegenseitig die guten Taten aufwiegen müsste.
Für mich bleibt die Frage nach des Pudels Kern. Was für ein Mensch ist Herr Reich-Ranicki, wenn man die Literatur außen vor lässt? Ist er ein liebevoller Ehemann? Ein zorniger Vater? Was ist sein Lieblingsessen und kann er es auch selbst kochen?
Persönliche Einblicke in den Alltag fehlten mir ab der Zeit, wo er begann, als Kritiker zu arbeiten. Der Titel lädt dazu ein, solche Einblicke vermuten und erwarten zu dürfen, die ersten beiden Teile halten dieser Einladung faszinierend stand - und dann??? Dann lese ich weit mehr über Schriftsteller und deren Leben als über ihn und sein Leben.
Ob ich enttäuscht bin? Ja klar bin ich das - ich wollte doch Einblicke in sein LEBEN erhalten und damit AUCH in seine Arbeiten, aber doch nicht fast ausschließlich nur an seinem Arbeitsleben teil haben.
Und doch wird dieses Buch einen festen Platz in meinem Herzen haben!!