Kulturjournal

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Betreff Playgiarism - Hegemann, die postmoderne Literaturtheorie und die Rückkehr des Autors in der Literaturwissenschaft
Autor Thomas Anz
Datum 15.02.2010 23:14
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Die aufgeregte Diskussion über den Roman „Axolotl Roadkill“ der siebzehnjährigen Autorin Helene Hegemann und die angemessene Einschätzung ihrer Plagiate kann auch die Literaturwissenschaft nicht unberührt lassen. Aber der von Eckhart Löhr beschworene „Skandal der Literaturkritik, die mit den analytischen Werkzeugen des 19. Jahrhunderts an Texte des 21. Jahrhunderts herangeht“, ist keiner. Zumindest nicht der, den Löhr beschreibt. Sein eigenes Begriffswerkzeug, das in der Debatte ähnlich auch von anderen verwendet wurde, nimmt sich vielmehr selbst ziemlich alt aus. Es stammt aus den „postmodernen“ 1980er-Jahren, in denen sich die Rede vom „Tod des Autors“ nachhaltiger Beliebtheit erfreute. Die beiden Aufsätze, auf die man sich damals immer wieder berief, um die seit dem 18. Jahrhundert forcierten, „modernen“ Autonomie-, Individualitäts- und Originalitätsansprüche von und an Autoren zu verabschieden, waren noch älter. Michel Foucaults „Was ist ein Autor?“ erschien 1969, der Essay „Der Tod des Autors“ von Roland Barthes etwa ein Jahr vorher. Eckhardt Löhr übernimmt daraus demonstrativ viele Sätze, um Hegemanns freundliche Übernahme fremder Texte imitatorisch zu veranschaulichen. Aber mit einem gravierenden Unterschied: Er setzt sie in Anführungszeichen und macht mit dieser Form der Aneignung das geistige Eigentum eines anderen Autors kenntlich.

Schriftsteller (und viele Journalisten) haben beim Abschreiben weit weniger Skrupel und bewegen sich damit in bester Gesellschaft – und in ehrwürdigen, vormodernen Traditionen. Die „unoriginelle Literaturgeschichte“ des Plagiats (siehe literaturkritik.de 10/2009), die der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn kürzlich veröffentlichte, liefert dazu viele wunderbare Beispiele.

Im Umfeld der Postmoderne bekam der literarische Umgang mit anderen Texten einen betont spielerischen Charakter. Der im Oktober letzten Jahres gestorbene Schriftsteller und Wissenschaftler Raymond Federman kreierte dafür in den 1970er-Jahren ein Wortspiel, eine Mischwortbildung aus "play" und "plagiarism": "playgiarism". Die spielerische Anlehnung an andere Texte tangierte damals einen der zentralen Begriffe postmoderner Literaturtheorie, den der "Intertextualität". Er meint das Phänomen, dass sich literarische Texte mehr oder weniger exzessiv auf andere, ihnen vorangegangene "Prätexte" beziehen, sie zitieren, imitieren, plagiieren, ironisieren oder mit ihnen in einen Dialog treten. Für den Autor kann das intertextuelle Spiel eine lustvolle Befreiung sowohl von den übermächtigen Zwängen einzelner literarischer Traditionen als auch vom Innovationsdruck der Moderne sein. Wo tradierte Texte respektlos zum Spielmaterial gemacht werden, sieht sich der Autor von seiner Angst vor ihrem übermächtigen, autoritativen Einfluss befreit, und wo er auf Traditionen in Form eines ironischen Spiels mit ihnen zurückgreift, kann er sich vom Vorwurf bloßer Epigonalität oder des Plagiats entlastet sehen.

Der Fall Hegemann ist allerdings anders geartet. Von einem Spiel kann hier bei der wörtlichen und unmarkierten Übernahme anderer Texte keine Rede sein. Der existentielle Ernst ihres Romans ist unverkennbar. Er zeigt sich auch da, wo die sechzehnjährige Protagonistin in ihr Tagebuch schreibt: „Mir wurde eine Sprache einverleibt, die nicht meine eigene ist, es sind so viele Gedanken da, dass man seine eigenen gar nicht mehr von den fremden unterscheiden kann.“ Wie fragwürdig es ist, auch eigene und fremde Sätze nicht zu unterscheiden, sei hier dahin gestellt. Fragwürdig ist indes mittlerweile eine Literaturwissenschaft geworden, die sich als reine Textwissenschaft versteht und sich den Blick auf jene angestrengt versperrt, die Texte schreiben und lesen. Das hat sich inzwischen geändert. Der Rede vom „Tod des Autors“ ist in der Literaturwissenschaft längst die von der „Rückkehr des Autors“ gefolgt. Sie lässt sich mittlerweile nicht mehr ignorieren.

Antworten

Betreff Re: Playgiarism - Hegemann, die postmoderne Literaturtheorie und die Rückkehr des Autors in der Literaturwissensc
Autor Eckart Löhr
Datum 16.02.2010 21:51
Nachricht

Es ist wahr, dass die poststrukturalistische Literaturtheorie ca. vierzig Jahre alt ist. Dabei ist sie aber noch ca. hundertfünfzig Jahre aktueller als die romantische Theorie, was naturgemäß erst einmal nichts über ihren Wahrheitsgehalt aussagt. Dennoch glaube ich, dass ihre Implikationen bei der Betrachtung und Beurteilung moderner Literatur im Speziellen und auch der  Literatur im Allgemeinen wichtig und unverzichtbar sind.

Dass die Textstellen von Roland Barthes in Anführungszeichen gesetzt sind, stimmt nur zum Teil, denn an einer Stelle heißt es „sobald etwas erzählt wird um des Erzählens willen, also fiktional ist, löst sich der Autor vom Text. Der Text verliert seinen Ursprung, beginnt ein Eigenleben und fängt an sich selbst fortzuschreiben, wobei die Sprache zwar ein Subjekt kennt, aber keine Person.“

Im Original klingt das so: “Sobald ein Ereignis ohne weitere Absichten erzählt wird – also lediglich zur Ausübung des Symbols, anstatt um direkt auf die Wirklichkeit einzuwirken – vollzieht sich diese Ablösung, verliert die Stimme ihren Ursprung, stirbt der Autor, beginnt die Schrift.“ Und an anderer Stelle: „Die Sprache kennt ein ,Subjekt‘, aber keine ,Person‘.“ Ich habe also zwei Textstellen verwendet und - mehr schlecht als recht - paraphrasiert wiedergegeben. Habe ich abgeschrieben?

Soweit sich das überblicken lässt hat auch die Autorin Hegemann Textstellen übernommen, verändert und in neue Zusammenhänge gestellt.

Wenn Thomas Anz schreibt, dass die „Rückkehr des Autors“ sich mittlerweile nicht mehr ignorieren lässt, hat er damit sicher Recht. Die Frage ist nur, ob das ein Fort- oder Rückschritt innerhalb der Literaturkritik darstellt? (Wohlgemerkt innerhalb der Literaturkritik, nicht innerhalb der Literaturwissenschaft!)

Sehen wir uns einmal einen Autor an, dessen Biographie moralisch fragwürdig ist, den norwegischen Literaturnobelpreisträger Knut Hamsun (es könnte auch Louis-Ferdinand Céline, Gottfried Benn oder Ezra Pound sein). Knut Hamsun hat mit den Nationalsozialisten sympathisiert und sich durch einige unverzeihliche Äußerungen zu Recht politisch unmöglich gemacht. Wenn ich nun um die politische Gesinnung dieses Autors weiß und sie in Verbindung mit seinem Werk bringe, um dieses zu beurteilen, tue ich dem Werk Unrecht, da ich es in seiner Bedeutung festlege. Mit diesem Wissen ließe sich Hamsuns Roman „Segen der Erde“ mühelos als Blut-und-Boden-Literatur lesen. Nein, er ließe sich nicht nur als Blut-und-Boden-Literatur lesen, sondern möglicherweise müsste man ihn so lesen. Natürlich ist „Der Segen der Erde“ kein Blut-und-Boden-Roman, sondern ein Werk, das man - wie auch andere Werke Hamsuns - ohne Zweifel in einem Atemzug mit den Romanen Dostojewskis oder Thomas Manns nennen kann – ohne die Autoren sonst in irgendeiner Weise vergleichen zu wollen. Ich wage zu behaupten, dass gerade die Übertragung der Biographie Hamsuns auf seine Romane ihm sozusagen literarhistorisch das „Genick gebrochen“ hat.

Ähnlich steht es wohl auch mit Céline, obwohl er mit seinem Roman „Reise ans Ende der Nacht“ wohl eines der größten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts geschaffen hat. (Charles Bukowski nannte es das beste Buch, das in den letzten zweitausend Jahren geschrieben wurde.)

Gottfried Benn hat seinen Irrtum – wenn auch viel zu spät – bemerkt und dies in dem berühmten Briefwechsel mit Klaus Mann auch dargelegt und so sein großartiges Werk vor dem Vergessen gerettet.

Die späten Schriften Nietzsches wären das Werk eines Wahnsinnigen und somit keiner weiteren Beachtung Wert und Thomas Manns Romane ließen sich nur vor dem Hintergrund seiner unterdrückten Homosexualität lesen.

Diese wenigen Beispiele zeigen bereits die Unmöglichkeit einer Gleichsetzung von Autor und Werk. Das Werk steht in der Regel höher als derjenige, der es verfasst hat (so schrieb Jean-Paul Sartre über Martin Heidegger) und aus diesem Grund sollte dem Autor auch in der „Post-Post-Moderne“ nicht zu viel Beachtung geschenkt werden. Vielleicht liegt es gerade an unserer völligen Unkenntnis der Biographien von Shakespeare oder Homer - um nur zwei bekannte Beispiele zu nennen - dass wir noch immer, über die Jahrhunderte hinweg, ihre Texte vorurteilsfrei lesen und genießen können.

Das alles hat uns jetzt ein wenig von der eigentlichen „Plagiatsdebatte“ entfernt, ist aber auch Teil der Diskussion.