Deutschlands Krieg und Simmels Beitrag

Die späte Lebensphilosophie und die tagespolitischen Kriegs-Interventionen Georg Simmels

Von Joachim LandkammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Landkammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man sollte es einer höheren List der editorischen Vernunft zurechnen, wenn es Band 16 der Georg-Simmel-Gesamtausgabe nun ermöglicht und nahelegt, den Beitrag des (ausgerechnet) seit 1914 in der "Festungsstadt" Straßburg lehrenden Philosophen und Soziologen zur Weltkriegsdeutung und -bewältigung der deutschen Intellektuellen vor dem Hintergrund seines philosophischen Spätwerks zu lesen. So scheint es empfehlenswert, bei der Lektüre des vorliegenden Bandes zunächst die 1917 unter dem Titel "Der Krieg und die geistigen Entscheidungen" versammelten, meist auf "populäre" öffentliche Vorträge zurückgehenden Texte zu überspringen und die vier anderen Separatveröffentlichungen aus Simmels letzten Lebensjahren, denen er sicher selbst auch größeren "Ewigkeitswert" zugemessen hat, anzugehen.

In der so genannten "Kleinen Soziologie", einem Göschen-Bändchen von 1917 mit dem Doppel-Titel "Grundfragen der Soziologie - Individuum und Gesellschaft", greift Simmel noch einmal die Hauptthesen seiner "großen" Soziologie von 1908 auf. Das primär "philosophische" Interesse Simmels an der neuen Wissenschaft beweist sich in seiner querschnitthaften Herangehensweise, die von vornherein keine erschöpfend-enzyklopädische Zielrichtung hat und eine solche auch gar nicht fundieren will; wie der Untertitel suggeriert, wird dabei das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zum Fadenkreuz verschiedener fundamental-soziologischer Anvisierungen. Diese will Simmel als Probleme der Allgemeinen, der Reinen oder Formalen sowie der Philosophischen Soziologie exemplifizieren, nachdem in einem ersten Kapitel die Frage nach der Möglichkeit einer Begründung der Soziologie als Wissenschaft zu Überlegungen führt, die den Untersuchungsgegenstand "Gesellschaft" erkenntnistheoretisch und methodologisch gegen den begriffskritischen Vorbehalt real existierender individueller Menschen abzusichern versuchen. Dann wird die (heutzutage wohl kaum als politisch korrekt eingestufte) Frage nach dem "Niveau"- und "Wert"-Unterschied von individuellen und kollektiven Handlungsformen und -resultaten gestellt, die "Geselligkeit" als eine inhalts- und interessenfreie "Spielform der Vergesellschaftung" beschrieben (wobei das simmeltypische Caveat wichtig ist, dass "wahre" Geselligkeit nicht in eine völlig lebensferne bloße "Spielerei" ausarten darf; auch in den autonom gewordenen Formen "sind wir zwar vom Leben erlöst, aber wir haben es doch") und ideengeschichtlich die antagonistische Entfaltung der politischen Konzepte von Freiheit und Gleichheit, von Konkurrenz und Arbeitsteilung, von Liberalismus und Sozialismus nachgezeichnet.

In zwei kürzeren Veröffentlichungen, die auf Vorträge vom Januar des Todesjahres 1918 zurückgehen, greift Simmel noch einmal vertiefend zwei Themen aus früheren Untersuchungsfeldern auf: "Vom Wesen des historischen Verstehens" schließt an die Abhandlung zu den "Problemen der Geschichtsphilosophie" von 1892 (bzw. deren 2. Fassung von 1905) an und entwickelt die Möglichkeit geschichtlicher Verständnisvollzüge aus dem anthropologischen "Urphänomen" des Du wie aus einem dynamisch-kontinuativen Begriff des "Geistes" heraus, der Inhalte nicht "mechanisch" reproduziert, sondern historische Zusammenhänge und "Entwicklungen" schafft. Der Begriff des "Lebens" als "letztbestimmende Instanz des Geistes" steht dann auch im Zentrum von "Der Konflikt der modernen Kultur", wo in den verschiedensten Bereichen der zeitgenössischen Kultur (expressionistische Kunst, pragmatistische Philosophie, anti-bürgerliche Erotik, anti-christliche Religion) ein Aufbegehren von vitalistischen, alle Grenzen und Zwänge sprengenden Tendenzen nicht nur gegen die überlieferten Formen, sondern gegen das "Prinzip Form" überhaupt festgestellt wird.

Die "vier metaphysischen Kapitel" schließlich, die Simmel im September 1918 mit letzter Kraft als sein "philosophisches Testament" fertiggestellt und unter dem Titel "Lebensanschauung" zur Veröffentlichung freigegeben hat, bilden nicht nur quantitativ, sondern auch substantiell den Schwerpunkt des Bandes, indem sie die theoretische Grundierung der von Simmel in Anspruch genommenen Begrifflichkeiten nachliefern. Der bereits angesprochene Gegensatz von "Leben" und "Form" (den man vielleicht übersetzen könnte in den von "Energie" und "Ergebnis") wird einem höheren Begriff von "Leben" untergeordnet, der diesen Widerspruch als "immanente Transzendenz" - sozusagen als grenzenloses Angewiesensein auf Grenzen - beinhaltet und gerade durch ihn definiert ist. Leben sei daher immer nicht nur "Mehr-Leben", sondern auch "Mehr-als-Leben", nämlich Form bzw. "Idee": eine "Achsendrehung" führe zu einer (manchmal tragisch lebensfeindlichen) Verselbstständigung der ursprünglich dem Leben dienenden Realisierungsformen und -mittel.

Dabei wird oft übersehen, dass Simmel mit dieser Kulturmetaphysik keinem künstlich zur "Tragödie" hochstilisierten Dualismus das Wort reden will, sondern im Gegenteil die bruchlos aus dem Alltag herauswachsenden Autonomisierungsprozesse beschreiben ("wir sind alle embryonale Maler" bzw. "embryonale Historiker unserer selbst") und gleichzeitig auch den überindividuellen Eigenlogiken der institutionalisierten Kulturformen Rechnung tragen kann. Simmels "ganzheitliches" Denken lädt dazu ein, die artifiziell-analytische Trennschärfe zwischen den Begriffspaaren Kontinuität und Distanz, Typisierung und Individualisierung, Neigung und Pflicht, Logik und Psychologie aufzulösen zugunsten von unvermeidlich zirkulären und reziprok aufeinander verweisenden Begründungsverhältnissen ("Relationismus").

Analoges gilt auch für den Gegensatz von Leben und Tod; Simmels Gedanken zum Tod als ein "Innerhalb" des Lebens, zur menschlichen Kontingenz als Hintergrund der Idee der Unsterblichkeit ("wir wandeln in uns selbst als die einzige Wirklichkeit in einem Schattenreich unerlöster Möglichkeiten unser selbst, die nur nicht zu Wort gekommen, aber keineswegs nichts sind"), über die aktive Selektivität im Begriff des "Schicksals", über den Zusammenhang von Individualität und Sterblichkeit und über den symbolhaften Subjektpluralismus der "Seelenwanderung" zeigen gleichzeitig Nähe und Distanz zu der ungleich wirkungsmächtigeren Philosophie Heideggers auf - wobei dessen Erfolg auch darauf zurückzuführen sein wird, dass es ihm gelungen ist, seine Existenz-Philosophie gleichsam als die "bessere" Lebens-Philosophie zu profilieren.

Das letzte der "metaphysischen" Kapitel hingegen bringt die definitive Abrechnung des gern als "Neukantianer" gehandelten Simmel mit Kants Moralphilosophie. Gegen die rigide Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit und gegen den strengen (der Naturwissenschaft nachgebildeten) Nexus zwischen dem Logisch-Allgemeingültigen und dem Pflichtgesetz setzt Simmel die subjektive Objektivität des "individuellen Gesetzes", das den Einzelnen als Ganzen (nicht in seine Einzelhandlungen fragmentiert) und von innen, aus der "Wurzel" seines Seins (nicht durch von außen kommende Pflichtbefehle) moralisch leiten soll. Simmel gibt sich große Mühe, damit dieses ins Leben selbst eingelassene Sollen, dieser radikale ethische Partikularismus nicht als anarchischer Subjektivismus und Libertinismus missverstanden werden kann; das "Gesetz der individuellen ethischen Totalhaltung" setze nämlich vielmehr den Einzelnen in jedem Moment einer noch viel größeren unvertretbaren Selbst-Verantwortung aus.

Aber was ist nun mit dem Krieg und mit Simmels diesbezüglicher Stellungnahme und Interpretation? Vielleicht ist es kein Zufall, dass ein auf den letzten Seiten des Buches diskutiertes Fallbeispiel von Simmels "individuellem Gesetz" es auch inhaltlich ermöglicht, nun einen Bogen zurück zu den Texten aus Simmels "Kriegsbuch" zu schlagen; ein Beispiel, das auch - ähnlich wie bei den allgemein als verunglückt angesehenen Beispielen in Kants ethischen Schriften - unfreiwillig die Fragwürdigkeit der abstrakten Prinzipien illustrieren kann. Simmel will, kurz gesagt, einem hypothetischen überzeugten "Antimilitaristen" sein Recht auf Wehrdienstverweigerung abstreiten, und zwar aufgrund der "garnicht lösbaren Eingewebtheit der staatlich-nationalen Kräfte und Werte in seine individuelle Existenz" (das ist wohl insgeheim adressiert an Simmels pazifistische Schüler Lukacs und Bloch, die sich damals gerade wegen dieser Einstellung von ihm abgewandt hatten). Aber ist das nun etwa die Kehrseite der Zurückweisung des kantianisch-humanistischen Universalismus: dass das historisch-kontingente Sein sich per naturalistisch-existentialistischem Fehlschluss zum unkritisierbaren Sollen mausern darf (und man wird sich erinnern, dass auch Heideggers konform-nationalsozialistisches Reden vom "Seinsgeschick" ähnliche Kritik erfahren hat)?

Und ist Simmels "Schönreden" des eben ausgebrochenen Weltkriegs als ein dem Leben wieder "Schwere" und "Würde" verleihendes Erlebnis von "Geschichte", als willkommene Zurechtrückung der unklaren und ambiguen Friedensverhältnisse, als Gegengift gegen "Mammonismus", Materialismus und Egoismus (der Krieg schafft ein "ehrfürchtigeres Verhältnis zu den den Dingen des täglichen Verbrauchs") und als Geburtshelfer von nichts weniger als einem "neuen Menschen" ("Deutschland ist wieder schwanger mit einer großen Möglichkeit") nicht lediglich ein weiterer "Fall" (im doppelten Sinn) im großen vaterländisch gestimmten Chauvinismus-Chor der damaligen kriegstreiberischen Intellektuellen? Ist hier wieder einmal das zunfttypische politische Versagen eines Philosophen beim Verlassen seines Katheders zu konstatieren ("Syrakus")? Eine zufriedenstellende Antwort, die nicht zuletzt die rezenten Interpretationen von Watier, Barrelmeyer, Leck u. a. in einigen Punkten korrigieren würde, können hier nur Text und Kontext geben: letzteren wird man heranziehen müssen, um zum einen Simmels Position historisch-ideengeschichtlich zu verorten (was auch bedeutet, ihn nicht an den mit hohen Kosten geschichtlich erworbenen Einsichten Spätgeborener zu messen), zum andern, um die (im übrigen schon öfter bemerkte) prinzipielle Differenz und Besonderheit seiner Deutung des Krieges im Vergleich mit den Äußerungen und Selbstoffenbarungen (nicht nur) deutscher Publizisten dieser Zeit herauszuarbeiten. Dafür wird man aber zweitens auch den hier vorliegenden Text genau studieren müssen: eventuell wird man dabei feststellen können, dass es gerade der geistige Hintergrund der Lebensphilosophie ist, der es Simmel letztlich verbietet, dem Krieg mehr als eine temporäre Gewichtung und Relevanz zuzubilligen, obwohl er eine "absolute Situation" darstellt und obwohl wirklich alles auf dem Spiel steht, weil Deutschlands Feinde "die Vernichtung unserer Zukunft" wollen. Gerade weil der Krieg für Simmel durch ein "geheimnisvolles Zusammentreffen" mit dem Programm seiner Lebensphilosophie konvergiert, ist er nicht mehr als ein relativ beliebiges "Beispiel"; denn letztlich wird der Krieg nichts am "tiefsten Verhängnis der Formen", an der "fortwährend aufgehaltenen Krisis" der Kultur ändern. Auch eine absolute Situation ist eben nur eine Situation, d. h.: sie ist temporär. Gerade weil Simmels Lebensphilosophie im Grunde unhistorisch bleibt, ist ihm jegliches Geschichts-Pathos fremd: Simmel weist dezidiert ebenso den "geschichtsphilosophischen Tiefsinn" zurück, der die "'Notwendigkeit' dieses Krieges erspekuliert" ("In jeder Beziehung ist es abzulehnen, daß 'Deutschland siegen muß, wenn die Geschichte einen Sinn haben soll'") wie er auch jegliche tiefere "Begründung" für seine nationale Loyalität verweigert; man wird sich also fragen müssen, ob sein "Wille zu Deutschland, der sich über alle Deduktionen stellt" ("Ich liebe Deutschland und will deshalb, daß es lebe") schon "nationalistisch" zu nennen und daher zu verurteilen ist - vor allem, wenn man liest, dass Simmel sich schon 1916 sehr resignativ fragt (und wir dürfen uns heute angesprochen fühlen), "ob unsere Urenkel die Katastrophe verfluchen oder segnen werden", und gleichzeitig betrübt prophezeit, dass aufgrund des Völkerhasses die "historische Idee Europa" für lange Zeit nicht "leben" wird. Vielleicht erkennen wir heute, dass der von Simmel als Ergebnis des Weltkriegs ebenfalls vorausgesagte definitive Eintritt Amerikas in die Weltgeschichte erst in unserer Zeit indirekt zu einer Wiederbelebung jener "Idee Europa" führt.

Der Band ist sorgfältig ediert und verzeichnet in einem langen Anhang getreu alle Textvarianten bezüglich der Vorveröffentlichungen mancher Texte in verschiedenen Zeitschriften; wobei man gleichwohl den Sinn dieser oft seitenlangen Emendationen bezweifeln kann, wenn die betreffenden "Originaltexte" dem Leser sowieso in anderen Bänden der Gesamtausgabe zugänglich sind (bzw. sein werden). Stattdessen bedauert man des öfteren die Entscheidung der Herausgeber, (im Unterschied zu anderen Bänden der GSG) keinerlei sachliche Hinweise zu den mehr oder weniger verdeckten Zitaten und Namensnennungen zu geben. So hätte es doch geringen editorischen Mehraufwands bedurft, um beispielsweise den Leser darüber zu informieren, wer denn behauptet hat, "Kant verstehen heißt ihn historisch ableiten" (Kuno Fischer), welchem Maler das Diktum "Zeichnen ist Weglassen" zugeschrieben wird (Max Liebermann) und wer denn wohl ein gewisser "Yajnavalkya" gewesen ist (ein vorbuddhistischer idealistischer Denker der Upanischaden). Ob sich wohl heutige Herausgeber in einer Zeit, in der man mit analogen relativ "banalen" Wissensfragen im Fernsehen Millionen "verdienen" kann, zu schade für die paar Recherchen sind?

Titelbild

Georg Simmel: Gesamtausgabe 16. Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Grundfragen der Soziologie. Vom Wesen des historischen Verstehens. Der Konflikt der modernen Kultur. Lebensanschauungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
516 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3518579665

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