Über dem Krieg

Daniela Danz entwirft eine Schule der Perspektiven

Von Martin BruchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Bruch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Treffpunkt: Fernsehturm. Lobinger, oben angekommen, steht in einem leeren Café: Die Glasfenster sind zu allen Seiten mit Blättern verhangen, Reißer läuft nervös im Kreis. Er bemerkt nicht, wie Lobinger einzelne Zettel von den Scheiben nimmt und kurz anschaut: Es sind Kopien von Daniela Danz' Debüt-Roman "Türmer". Auf einem steht die Kurzbiografie der Autorin: "Geboren 1976 in Eisenach. Studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Tübingen, Prag, Berlin, Leipzig und Halle. 2002 veröffentlichte sie den Prosaband 'Arachne', 2004 den Gedichtband 'Serimunt'. Sie erhielt für ihre literarischen Arbeiten u. a. den Förderpreis des Landes Sachsen-Anhalt 2005." Zettel für Zettel entkleidet Lobinger die Glasfront, Zettel für Zettel deckt sich der Himmel auf, der blau über den Häusern der Hauptstadt steht. Reißer nimmt Lobinger den eingesammelten Zettel-Stapel aus der Hand.

Lobinger: Was ist denn los mit Ihnen?

Reißer: Ja verstehen Sie denn nicht: Nur so bin ich weitergekommen. Indem ich an genau diesem Ort die einzelnen Kapitel des Romans, die ja selten länger als zwei Seiten sind, nebeneinander gestellt habe ...

Lobinger:... und verzweifelt Handlungsfäden herauszurren wollten!

Reißer: Mir ging es nicht um Handlung. Die ist naturgemäß gering, wenn der Vater des jugendlichen Ich-Erzählers Jan Facher mit seiner Familie in die Einsamkeit eines Turms zieht, während zweihundertdreiundsechzig Stufen weiter unten der Erste Weltkrieg ausbricht.

Lobinger: Und was haben Sie stattdessen festgestellt?

Reißer: Dass hier schlicht kein Roman vorliegt. Es ist eher eine Sammlung von Kurzprosa-Texten: Jede Miniatur könnte für sich stehen.

Lobinger: Sie meinen damit die Geschichte Jan Fachers? Oder auch die zweite, in der es um Michael Thurner geht?

Reißer: Besonders erstere. In der Konzentration auf einzelne Gegenstände verliert sich der poetische Blick des Protagonisten, die verwobene Kunstsprache in, zugegeben, sehr geschliffenen Prosaminiaturen.

Lobinger: Aber dahinter bleibt immer noch die Konstruktion, der Ausgangspunkt allen Denkens vorhanden: Das Leben auf dem Turm, die Resignation, das Vereinsamen, wenn sich Jan Facher eine fiktive Freundin ausdenkt, die Echo heißt und ihn nur wieder auf sich selbst zurückwirft. Das Zweifeln an der Wirklichkeit, das jeder Robinsonade zugrunde liegt. Wenn alles Indirekte sich in Ameisenbewegungen verliert ...

Reißer: Aber schauen Sie sich doch allein Kapitel-Überschriften an wie "Holz", "Schatten" oder "Fledermäuse".

Lobinger: Ja, dann kann ich erahnen: Die Zusammenhänge einer fortlaufenden Geschichte scheinen sich aufzulösen. Aber nur, um in anderer Perspektive, beispielsweise in der des Vaters oder der Mutter, im Kammerspiel präziser Beschreibungen und dichter, psychologisch ausgeloteter Räume wieder aufzutauchen.

Reißer: Um es plastisch zu machen: Da sinniert also im Jahr 1914 der Junge eines Türmers, eines an sich einfachen Mannes, über "die peristaltischen Bewegungen der Regenwürmer."

Lobinger: Solche Begriffe stehen aber nicht wie Irrtümer in der Landschaft. Angewandt wird eine sprachliche Reduktion, die man aus der Lyrik kennt. Davon zeigten Sie sich ja eingangs auch beeindruckt ...

Reißer: Trotzdem: Ich bin von diesem Kammerspiel verwirrt, gerade von seinen Themen: Das Bild einer Zeit mit bestimmten Machtstrukturen, eine komplexe Vater-Sohn-Beziehung und nicht zuletzt eben der Erste Weltkrieg.

Lobinger: Da sehen Sie: Themen, die sich wie rote Fäden durch die Prosa ziehen. Besonders die Perspektive der Fachers auf den Krieg ist dabei ...

Reißer: Ich bitte Sie! Das Wort "Krieg" taucht erst auf Seite 56 auf. Und danach findet man es zehn Seiten lang gar nicht.

Lobinger: Und dennoch macht das die Prosa so aktuell: Dieser Krieg wird nur erlebt durch die Imagination der Türmer oder die Erzählung anderer, Jan Fachers Freunde. Und hier findet sich auch eine wichtige Parallele zur zweiten Geschichte ...

Reißer: Von mir aus hätte das Buch mit der Kündigung der Anstellung als Türmer und dem darauf folgenden Einberufungsbefehl für Vater und Sohn enden können.

Lobinger: Tut es doch in gewisser Hinsicht! Die Reise Michael Thurners ins Nachkriegs-Jugoslawien spielt ja in der Gegenwart.

Reißer: Und wieso hängt sie dann an der Facher-Geschichte dran?

Lobinger: Weil es, wie ich eben schon versuchte zu erklären, die erste Geschichte auf ganz verschiedene Art und Weise spiegelt: Auch Michael Thurner wohnt in seinem Belgrader Hotel in einem Turm. Zwar nicht in der örtlichen Nähe eines Krieges, wohl aber in einer zeitlichen.

Reißer: Da bin ich mit meinem System, das Buch zu ordnen, vollends verzweifelt.

Lobinger: Aber wieso denn? Fortgesetzt wird hier das Spiel der Perspektiven: Die Erzählungen über den Krieg finden diesmal nicht den Weg in den Turm, sondern sind im Land selbst präsent. Es findet eine Fortbewegung statt.

Reißer: Die aber leider ziellos bleibt. Wie oft liest man, dass der Protagonist überhaupt nicht weiß, was er eigentlich in Belgrad verloren hat!

Lobinger: "Ich [...] versuchte, die Bruchstücke, die meine Erinnerung auf diese Reise hochgespült hatte, sinnvoll zueinander zu fügen. Aber es blieben nur Bruchstücke", schreibt Michael Thurner.

Reißer: Genau genommen scheinen die einzelnen Episoden eher wie Anfänge längerer Erzählungen. Und diesmal nicht in der verklärten Kunstsprache eines übersensibeln Jan Facher ...

Lobinger: Auch hier findet man ein Gegenbild: Thurner erlebt, im Gegensatz zu Facher, beispielsweise eine Liebesgeschichte. Facher kann sich zurückziehen auf einen Überblicksort und dort darüber nachdenken, "[...] welche der vielen Möglichkeiten meine sein könnten." Eben das ist Thurner unmöglich. Das Bild des Turms wird so umgedreht, und, in Bezug auf das Erleben eines Krieges, auch wieder nicht.

Reißer: Und in diesem Gestus eines Reisetagebuchs finden Sie wohl auch Zusammenhänge?

Lobinger: Sie nicht?

Reißer: Die Sprache wird zurückhaltender, szenische Beschreibungen werden wichtiger.

Lobinger: Thurner glaubt eben nicht, geschlossenen Auges besser sehen zu können.

Reißer: Auch wenn ich beide Augen zudrücke, fällt es mir immer noch schwer, die Zusammenhänge zwischen diesen beiden Geschichten zu finden.

Lobinger: Sie suchen eben weiterhin nach den Zusammenhängen in der Handlung: Doch die sind feiner, vertrackter. Und der wichtigste ist sicherlich der im Hintergrund präsente, lauernde Krieg.

Reißer: Also geht es Ihrer Meinung nach um die Frage, wie man aus einer jungen Perspektive über Krieg schreiben kann?

Lobinger: Sicherlich. Und um mehr noch: erzählerische Mittel.

Reißer: Dann sollte ich wohl zuerst meine Zettel aus diesem Turm werfen?

Lobinger: Richtig, und vielleicht sehen Sie in ihrem Flug "das vergessene Gewand einer Gestalt mit unbekannten Proportionen." Und vielleicht können Sie es dann auch dem jungen Türmer verzeihen ...


Titelbild

Daniela Danz: Türmer. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
154 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3835300423

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