Von Foucault bis Sloterdijk

Das Autorenkollektiv "die röteln" veröffentlicht einen Band über das weite Feld der Bio-Politik

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wann beginnt menschliches Leben? Unter welchen Umständen ist Sterbehilfe zulässig? Ist eine 'verwertende' Embryonenforschung ethisch vertretbar? Darf sie sogar gefördert werden, weil man darin ein vielversprechendes Forschungsfeld sieht? Darf man Eingriffe ins menschliche Erbgut vornehmen, um zu vermeiden, dass ein Kind behindert geboren wird? Was bedeutet die Möglichkeit eines solchen Eingriffs für Menschen, die mit Behinderungen leben?

Solche und andere ethische Fragen sind Teil politischer und öffentlicher Debatten, in denen sich eine Gesellschaft über ihre Werte und Normen verständigt - und darüber, welche dieser Werte als verhandelbar erachtet werden. Seit den 1990er-Jahren beherrschen dabei die Reproduktionstechnologien die Diskussion, die je nach Motivationslage als produktiv-nützliches oder, vor allem mit Blick auf die Geschichte der Eugenik in Deutschland, als repressiv-gefährliches Instrumentarium zur Steuerung der Bevölkerungsentwicklung betrachtet werden.

Unter dem Begriff 'Biopolitik', den Michel Foucault Mitte der 1970er Jahre prägte, wird heutzutage ein sprichwörtlich 'weites Feld' von Phänomenen mit eher handlungspraktisch-aktivistischem oder eher theoretischem Zuschnitt verhandelt: Genetische Tests bei Vorsorgeuntersuchungen von Schwangeren, monitäre Anreize zur Familiengründung oder 'Verbesserungs'- und 'Züchtungs'-Fantasien durch Eingriffe ins genetische Material des Menschen, aber auch: der historische Aufstieg der 'Lebenswissenschaften', Prozesse der kulturellen Hervorbringung von 'Natur' und die Verschleierung ihrer Herstellung, Mechanismen und Strategien staatlicher Fremd- und inkorporierter Selbstdiziplinierung von Individuen, der Zusammenhang von Rassenbiologie und Staatsbürgerschaft und vielfältige Formen diskursiver Regulierung von Wissen. Der vom Autorenkollektiv "die röteln" herausgegebene Band "Das Leben lebt nicht" setzt an eben diesem breiten Spektrum von Themenfeldern an. Ausgehend von der Feststellung, dass Foucaults Konzept der Bio-Politik primär von der Auseinandersetzung mit rassenbiologischen Ansätzen motiviert sei, verbindet die Aufsätze über feministische Identitätskonzepte, 'Sozialdarwinismus' oder Antisemitismus die Frage, wie Foucaults Ansatz in poststrukturalistischen Diskussionen rezipiert wird.

Vom festen Grund der Kritischen Theorie aus wird gleichzeitig mit und gegen Foucault gegen den Poststrukturalismus und dessen Foucault-Rezeption Stellung bezogen. Die Aufsätze von Andrea Trumann, Andreas Benl, Felicita Reuschling und Justin Monday bieten Lektüren zu Foucault, Michael Hart und Antonio Negri, Judith Butler und Giorgio Agamben, der sich mit seinen Schriften, vor allem mit "Homo Sacer", in wenigen Jahren zu einem festen Referenzautor in Sachen Bio-Politik entwickelt hat. Der Band "Das Leben lebt nicht" weckt allerdings zwiespältige Gefühle. Wer sich auf die einzelnen Aufsätze einlässt, wird anregenden Ideen und Theoriediskussionen begegnen. Die Lust darauf scheint man den Leser/innen aber austreiben zu wollen: Jargonlastige, teils hermetisch wirkende Argumentationen wirken abschreckend. Vielfach beschleicht einen das Gefühl, man nehme als 'Neue' in Diskussionen einer eingespielten Gruppe teil, die nicht erklären zu müssen glaubt, was sie meint, wenn sie 'der' Poststrukturalismus sagt, weil dies schon zu oft diskutiert wurde. Solchen Pauschalisierungen, die den gesamten Band durchziehen, können Außenstehende naturgemäß wenig abgewinnen. Die wiederkehrende Kritik an den Poststrukturalist/innen, aber gleichermaßen an den KritikerInnen poststrukturalistischer oder postmoderner Theorien u. a. m. reizt beständig zu pauschalem (und damit wiederum unsinnigem) Widerspruch. Das fördert nicht die Lust am Streit, und die Argumente werden dadurch auch nicht plausibler.

Wer sich davon jedoch nicht abschrecken lässt, wird die kritische Darstellung von Agambens Konzept der Biomacht durch Reuschling schätzen, die dem Problem der Auflösung zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Gewalt bei Agamben nachgeht und dabei zwei Argumentationsstränge in den Anleihen Agambens an Hannah Arendt und Carl Schmitt herausarbeitet. Im Vergleich mit Foucaults Vorstellung von Bio-Macht weist die Autorin Agamben ein problematisches "ontologisches Prinzip" nach. Auch Mondays Einspruch gegen die zunehmend ausgreifende Verwendung des Begriffs 'Bio-Politik' im Aufsatz "Eine Art von Verwinden. Unter Umständen eine Verteidigung Foucaults gegenüber seinen LiebhaberInnen" und sein Plädoyer, sich auf die Unterscheidung von Bio-Ethik und Bio-Politik zu besinnen, überzeugen.

Eine echte Perle ist das Gemeinschaftswerk "Kein Fussbreit dem Postfaschismus", das anlässlich eines Auftritts von Peter Sloterdijk in Frankfurt entstand. In diesem erfrischenden Artikel werden die haarsträubenden "Assoziationsketten" des von Vorsokratikern bis Nietzsche viel zitierenden und das meiste im Ungefähren belassenden philosophischen Talkmasters, ergänzt durch biopolitische Aussagen aus weiteren seiner Schriften, fachgerecht und in lockerem Ton zerlegt: Darunter Sloterdijks verquaste Terminologie - der Mensch als "Ergänzungstier", als "Verortungstier" oder als "Verwurzelungstier" -, seine 'revolutionäre' biopolitische Neubestimmung der Einwanderung 'von innen' - die "biologische Einwanderung der je neuen Generationen" (vulgo Geburt), in der Mütter als "Grenzbeamte" und "Einwanderungsoffiziere" fungierten -, die 'Menschenpark'-Thesen mit ihrer Rede von der "aktive[n] Seite der Selektion" und nicht zuletzt schlicht höherer Blödsinn wie die Rede von den "Sorgengasen", die Sloterdijks feine Nase in Deutschland witterte.

Wer erkennen will, was er an diesem Band hat, dem sei daher geraten, zunächst oder überhaupt auf die Lektüre der Einleitung zu verzichten, die ein 'gutes' Beispiel für die erwähnten Probleme des Buches ist: "Die - in Relation zur absoluten Größe der Restlinken - nahezu flächendeckende Rezeption der poststrukturalistischen Theorien verlief parallel zu der Katerstimmung, die die Linke nach dem Ende des Realsozialismus auch im Westen erfasst hatte. [...] Zudem ließen sich so thematische Defizite der Linken vor 1989 bearbeiten. Angesichts der Wiedervereinigungspogrome wurde die mangelnde Kritik des Rassismus der Bevölkerung offensichtlich und der Streit um patriarchale Strukturen und sexistisches Verhalten in der Gesellschaft wie innerhalb der Linken war ohnehin seit längerem akut. Die Beschaffenheit der Subjekte wurde zum theoretischen Problem." In Diktion und Inhalt wird hier dick aufgetragen, die gezogenen zeithistorischen Verbindungslinien und Konklusionen sind dabei aber kaum nachvollziehbar. Die "Beschaffenheit der Subjekte" wurde schließlich schon lange vor dem Ende der DDR als 'theoretisches Problem' begriffen - je nachdem, auf welche Diskussionskontexte und Theorierezeption man sich eben bezieht. Und sicherlich bekam die Diskussion um Rassismus und Patriarchalismus nach 1989 neue Akzente innerhalb 'der Linken', aber die Verbindung mit der Rezeption etwa von Foucaults Schriften erschließt sich nicht. Denn schon seit Mitte der 1980er Jahre hatte sich die feministische Diskussion um Macht- und Gewaltkonzepte gewandelt: Ausgehend von der Einsicht, dass Frauen nicht ausschließlich als Opfer, sondern auch als Mit-Täterinnen und Profiteurinnen herrschender gesellschaftlicher Strukturen anzusehen sind - hatte sich, inspiriert von diskurstheoretischen Einsichten - eine Abkehr vom Konzept des Patriarchats vollzogen.

Gerade mit Blick auf die feministische Diskussion finden sich solche und ähnliche Verwirrung stiftenden Sätze. In Andrea Trumanns Artikel "Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologien" ist beispielsweise zu lesen: "Die Selbstbestimmung, die Frauen aus Westeuropa und den USA [in den 80er Jahren] für sich forderten, war in ihrer individualistischen Ausformung schon von Grund auf ein Vehikel von Herrschaft [!] und wurde es nicht erst dadurch, dass man sie schwarzen Frauen aufdrängte [!], selbst wenn der Herrschaftscharakter dieses Konzepts bei schwarzen Frauen klarer sichtbar wird, da Staat [welcher?] und NGOs [die auch? und wie?] hier direkter auf Frauen zugreifen." Nebenbei erfährt man auch, dass Frauen den Reproduktionstechnologien zur Durchsetzung verhalfen, "indem sie diese haufenweise [!] in Anspruch nahmen". Ist man gutmütig, hält man solche Stellen für höchstens ansatzweise durchdachte Formulierungen, die in der Kürze hermetisch bis kurios wirken. Ist man schlechter gelaunt, sieht man kaum lesbare stilistische Katastrophen, die mit inhaltlichen Hand in Hand gehen. Eindeutig zu Letzterem zählt die Aussage Trumanns: "Weiterhin werden sich die ArbeiterInnen für den Arbeitsprozess disziplinieren müssen, und darin liegt auch begründet, dass Antisemitismus, Rassismus und Behindertenfeindlichkeit innerhalb kapitalistischer Verhältnisse nicht abschaffbar sind". Nicht nur Antisemitismus-Forscher/innen werden sich hier die Haare sträuben. Solche Stellen sind nicht einfach nur unterkomplex. Sie stellen den Anspruch des Bandes, einen Beitrag zu einer theoretisch fundierten politischen Diskussion zu leisten, insgesamt in Frage.

Bio-Politik ist ein Querschnittsthema, das vielfältige Übergänge zwischen historischen, theoretischen und politischen Diskussionsfeldern eröffnet. Wie spannend, wie politisch wichtig und theoretisch anspruchsvoll dieses Feld ist, aber auch, welche Fallstricke dort lauern, zeigt der Band "Das Leben lebt nicht" gleichermaßen auf.


Titelbild

Das Leben lebt nicht. Postmoderne Subjektivität und der Drang zur Biopolitik.
Herausgegeben von "die röteln".
Verbrecher Verlag, Berlin 2006.
189 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3935843526

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