Geh nicht, fahr nicht, lass mich nicht allein!

In Gregor Hens' Thirtysomething-Roman "In diesem neuen Licht" wird Freundschaft zur Fußangel

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf seinen bisherigen Autorenfotos zog Gregor Hens stets eine finstere Schnute. Im besten Fall gab's obenauf noch einen latent irren Reh-im-Scheinwerferlicht-Blick. Doch jetzt, auf dem Foto zu seinem dritten Roman "In diesem neuen Licht", lächelt der 41-jährige so einladend und warm wie ein Darsteller aus "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" im Seifenopernvorspann. Wie eine jener alterslosen Retortenfiguren mit Kindern im Teenager-Alter und einer Freundin Mitte 20 - erwachsen, aber trendbewusst; erfolgreich, aber flexibel. Jemand, der in Ohio als Literaturprofessor lehren könnte, nebenher Romane schreibt, und in der vorlesungsfreien Zeit eine Fallschirmspringerschule im Münsterland und eine Kaffeebar in Berlin betreibt. Mindestens.

Solche Lebensentwürfe stehen auch im Mittelpunkt der Hens'schen Romane. Es geht um Deutsche aus Arbeiterkreisen, die vor zehn, fünfzehn Jahren den Sprung über den Atlantik geschafft haben, und jetzt polyglotte, kompetente, attraktive und akademisch versierte Freiberufler sind, mit verwickelten, abstrusen Karrieren: Figuren, immer ein wenig zu groß, zu schön, zu klug. In Hens' Debüt, dem Campusroman "Himmelssturz" (2002), bauen Farald und Skye ihr Traumhaus in Columbus und diskutieren über das Design von Brotschränken. Der Protagonist aus "Matta verlässt seine Kinder" (2004) bereist im Auftrag von Konzernen Krisengebiete, um deren wirtschaftliches Potenzial einzuschätzen. Und die Figuren aus Hens' Erzählungssammlung "Transfer Lounge" sind Lyrikredakteure in Südafrika und Deputys aus Tuscola/Michigan, Übersetzer im kalifornischen Nappa Valley und texanische Schweißer, die mit ihren Metallskulpturen die Kunstszene auf den Kopf stellen.

Geht das nicht weniger glamourös? Weniger amerikanisch, weniger Seifenoper? Offenbar nicht: Denn zum einen ist Gregor Hens selbst Literaturprofessor in Ohio, und lebt nur zeitweilig in Berlin (wenn auch ohne Kaffeebar und Fallschirmspringerschule); verbürgt sich also bereits mit der eigenen Biografie für ein gewisses Maß an Authentizität. Und zum anderen verorten sich seine Romane mit Hilfe ihrer bunten, aber niemals grellen Kulissen in einer Realität, die ungleich globaler ist als der typische Hamburg- oder München-Mief. Gregor Hens hat kein Interesse am Kleinklein der Befindlichkeitsliteratur, keine Lust auf übersichtliche Miniaturwelten: was in der Botschaft von Karadschi beginnt, kann auf einer Landstraße im Harz enden - oder umgekehrt. Der Leser behält dabei stets das große, globale Ganze im Augenwinkel: Gegenwartsliteratur im besten Sinne. Vorausgesetzt, man kann Figurennamen wie "Farald" und "Skye" verkraften, und eine gewisse ästhetische Nähe zum TV-Melodram.

"In diesem neuen Licht" dreht sich um Tobias Vlaming, einen Sprachwissenschaftler, der während seiner Zeit an der University of Austin, Texas die Neurochirurgie revolutionierte, danach die beste "Tristram Shandy"-Übersetzung aller Zeiten vorlegte, und seitdem - Achtung, Antiklimax! - gemeinsam mit Partnerin Tina "Global English"-Seminare in Sachsen-Anhalt gibt. Sein bester Freund ist der berühmte US-Lyriker David: seine Eltern wohnen im Dakota Building am Central Park, seine Schwester Lala ist ein "it-Girl" à la Paris Hilton. Und David selbst besitzt eine alte Ranch an der mexikanischen Grenze und ein Loft in Düsseldorf. Verheiratet ist er mit Tess, einer grotesk kompetenten deutschen Anwältin, die rund um den Globus Arbeitsplätze wegrationalisiert - was für pompöse Lebensläufe! Warum schreibt Gregor Hens nicht gleich über Astronauten, die während ihrer Opernkarriere in Plutoniumgeschäfte verwickelt werden?

Aus gutem Grund: denn das Ensemble aus "In diesem neuen Licht" besteht zwar aus vielen Big Playern, doch die Wurzeln von Tobias, Tess und Tina liegen in der Provinz, in der Enge der Bonner Republik. Und egal, wie erfolgreich sie werden, die Angst vor dem sozialem Abstieg bleibt - die Frage: sind sie am Ende nicht doch nur Mittelklasse, Kreisliga? Während Tobias seine Seminare hält, fühlt er sich zynisch gegenüber den Teilnehmern: "[Er weiß], dass diese Leute den Kampf gegen die Zeit längst verloren haben. Dass sie ihr Ziel nicht erreichen werden, eigentlich schon gescheitert sind. 'Weitermachen, durchhalten!', scheint er ihnen wider besseres Wissen zuzurufen: 'Pflegen Sie Ihre Illusionen, träumen Sie, es ist das letzte, was Ihnen bleibt. Eine echte Chance haben Sie nie gehabt.' "

Partnerin Tina hat Tobias mittlerweile verlassen. Sie ist nach Südamerika ausgewandert, mit einem Mann, der ihr Cousin, vielleicht aber auch ihr Bruder sein könnte, so ganz klar ist das nicht. Wenn er ihr Bruder ist, dann ist er zugleich auch das Kind von Geschwistern (beileibe nicht die einzige Konstellation in der Figurenriege, die Anleihen bei Seifenopern macht). Tobias, Tess und David malen Familienstammbäume, spielen Schach und trinken teuren Wein. Das befreundete Ehepaar wird zu Tobias' einziger Stütze, zum Lebensmittelpunkt: David vermittelt ihm einen Übersetzungsjob, eine Reisereportage aus den 20er Jahren über D. H. Lawrences Zeit in Zentralamerika. Tess dagegen benutzt den Hausfreund als Kontrastfläche, tariert mit Tobias die Machtstrukturen ihrer Ehe aus. Keine simple Dreiecksbeziehung, sondern ein subtiles, ungleich grausameres Spiel. "Du bist im Begriff, dich selbst wegzurationalisieren!", wirft Tobias seiner karrieristischen Freundin vor. Und bemerkt dabei nicht, wie er immer tiefer einsinkt in die Lügen und Geheimnisse des Paars.

Hens' Figuren sind, trotz allem Pomp, dreidimensional und kantig. Ihre Probleme sind hübsch verwickelt, die Sprache bleibt derweil kristallklar: "Sie standen auf einer Landstraße. Es war noch dunkel. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Er trat mit dem Stiefel in den Schnee, merkte gleich, dass mit dieser Geste etwas nicht stimmte. Zu oft gesehen, in irgendwelchen Filmen. 'Das ist es, was passiert!', rief er. 'Das hier. Wir beide in einem Lieferwagen im Alten Land. Was soll denn noch kommen? Was fehlt dir? Warum reicht es dir nicht?' Sie schüttelte den Kopf. Sie weinte. Sie wusste es nicht." In diesem Ensemble gibt es genug unausgesprochene Animositäten, um die Handlung zu tragen: zwei Alphamännchen und eine gnadenlose Karrierefrau säuseln einander zu, wie sehr sie sich gegenseitig brauchen - und fahren ihre Krallen aus, sobald einer von ihnen das Gleichgewicht bedroht. Lebenslügen wie unter dem Mikroskop, eine Freundschaft als Kalter Krieg, beleuchtet von einem meisterlich distanzierten Erzähler. Großartig!

Doch "In diesem neuen Licht" ist zugleich - und hier erklärt sich Hens' Lächeln auf dem Autorenfoto - der verspielteste und humorvollste Roman, den er bislang vorgelegt hat. Denn statt bei den Problemen des dysfuntionalen Freundeskreises zu verharren, kommen immer neue Figuren, Handlungsorte und Zusammenhänge ins Spiel: Die schöne Marokkanerin Nabila, an der sich Tess' Helfersyndrom entlädt. Tobias' Lawrence-Übersetzung, die allmählich außer Kontrolle gerät, zur eigenständigen Erzählung wird. Und immer wieder absurde Richtungswechsel, gefährliche Zufälle, GZSZ-Momente: "Tess hätte, wenn ihr die Sache mit Richard nicht dazwischengekommen wäre, versucht, Tina ausfindig zu machen. Für Tobias." Und Phillip, das muss man sagen, übte tatsächlich einen viel besseren Einfluss auf Natalie aus als Louis.

Der peinlich unpräzise Klappentext fasst gut zusammen, wie eigenartig zerfasert dieser Roman ist: "Ein Buch über Prinzessinnen und Pistolen, Sun-Tzu-Schach und D.H. Lawrence, Priester und Pathologen, Südseemythen und Inzest. Mit Schauplätzen vom Rhein bis zum Rio Grande, von Ananasplantagen in Ghana bis in ein Naturreservat in Panama, von 1923 bis ins neue Jahrtausend." Interessiert das? Ja! Denn Hens geht wunderbar rücksichtslos mit seinem Ensemble um: er verknüpft Nebenfiguren durch virtuose Wendungen, zoomt ins Bewusstsein von Passanten, die gerade vorbeiflanieren, und springt in halsbrecherischen Manövern bis in die ferne Zukunft: "In Accra tummeln sich der Tripolis-Jetset und das Palo Alto Old Money, die Shanghai Tycoons und die Frankfurter Privatbankiers. Der mongolische Yokozuna Hakuho betreibt eine Schönheitsfarm. In Accra feiert Chelsea Clinton, die Frau des ghanaischen Präsidenten, in einer Villa am Stadtrand ihren fünfzigsten Geburtstag."

Doch leider wird das Thema des Romans durch all diese postmodernen Gimmicks so sehr an den Rand gedrängt, dass man irgendwann gar nicht mehr weiß, was das sein soll, dieses Thema. Und zwischendurch switchen die Figuren unvermittelt und for no apparent reason ins Englische, tauchen mitunter seitenlang in die fremde Sprache ein, in Dialogen, both hauntingly shallow and utterly gratituous. Das ist nur verkraftbar, weil der Roman angetrieben wird von einer (für Hens überraschend warmen, gutgelaunten) Erzählfreude; ja, Erzählwut. Und wäre die Geschichte um Tess, Tobias und David ein Film, der Oskar für die beste Kameraarbeit wäre ihm sicher.

Nur das aus Hens' vorigen Romanen bekannte Gefühl, hier sei keine Passage, kein einziges Wort zuviel, bleibt bei "In diesem neuen Licht" ganz und gar aus: der Roman ist über weite Strecken enttäuschend selbstzweckhaft. Ein wenig wie ein Kinotrailer, der Schauwerte über Inhalte setzt. Oder der Vorspann einer Seifenoper, mit vielen teuren Außendrehs. "Entspräche alles unseren Erwartungen, gäbe es überhaupt nichts zu erzählen", verteidigt Tobias sein wirres Lawrence-Projekt an einer Stelle: "Würde jedes Ereignis auf dem flachen Gipfel der Glockenkurve aufsetzen, mit der Stochastiker ihre Normalverteilungen darstellen: wir hätten überhaupt keine Literatur." Stimmt. Aber würden in allen Büchern Hens'sche Universalgenies rastlos um den Globus hetzen, ständig in absurde Zufälle verstrickt, hätten wir genauso wenig Literatur. Sondern nur Jetlag und Schleudertrauma, pausenlos.


Titelbild

Gregor Hens: In diesem neuen Licht. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
326 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 310032580X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch