Ist das Theater noch zu retten?

Eine Diagnose von Werner Schulze-Reimpell

Von Nina BirknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Birkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die subventionierten Bühnen stehen heute wie nie zuvor unter Legitimationsdruck. Stadt- und Staatstheater haben mit einer geringen Platzauslastung zu kämpfen; von einer mangelnden öffentlichen Akzeptanz zeugen auch die immer wiederkehrenden Forderungen nach 'Werktreue' und die Ablehnung des Regietheaters. In diesem Zusammenhang sorgte im letzten Jahr Horst Köhler für vehemente Diskussionen. Anlässlich einer Sonntagsmatinee zum Schiller-Jahr im Berliner Ensemble 2005 beklagte der Bundespräsident das Fehlen texttreuer Inszenierungen, für ihn "Ausweis einer neuen arroganten Spießigkeit", und konstatierte: "Ein ganzer Tell, ein ganzer Don Carlos! Das ist doch was!" Auch in den wochenlangen Aufregungen um Gerhard Stadelmaiers Spiralblock, der dem FAZ-Kritiker bei der Premiere von Ionescos 'Das große Massakerspiel' im Februar 2006 von dem Schauspieler Thomas Lawinky entrissen wurde, manifestiert sich die Krise des Schauspiels. Anstatt das Theater als Kunstform zu begreifen, das mit ästhetischen Stilen experimentiert und in dem bestehende gesellschaftliche Regeln vorübergehend außer Kraft gesetzt werden können, gilt die Bühne vielen Rezipienten als 'illustriertes Reclamheft', das sich dem Publikumsgeschmack weitestgehend anzupassen hat.

Ist das Theater noch zu retten? Dieser Frage geht Werner Schulze-Reimpell in seinem Band "Zwischen Roststift und Spaßzwang" nach, in dem er diverse, bereits im 'Rheinischen Merkur' erschienene Artikel zur prekären Situation des zeitgenössischen Theaters vereint. Der Dramaturg und Journalist plädiert für ein Schauspiel, das nicht Museum ist, sondern Gegenwartsbezug besitzt. Er vergegenwärtigt, dass ein Regisseur "die alten Stücke als Mensch des 21. Jahrhunderts mit anderen Erfahrungen, Einsichten, Theatervorstellungen" liest. Als Interpret des zu inszenierenden Stückes sorgt er im Idealfall dafür, dass die Klassiker, die "zu heutigen Stücken werden, [...] ihre Brisanz zurück" gewinnen.

Die vor etwa 40 Jahren einsetzende "Emanzipation des Theatralischen als einer autochthonen, dem Literarischen gleichwertige Qualität" wertet Schulze-Reimpell als positive Entwicklung: "anderenfalls könnte man ein Stück besser mit verteilten Rollen vorlesen." Diese Auffassung teilen, so der Journalist, viele zeitgenössische Theaterautoren, darunter Tankred Dorst und Elfriede Jelinek, die den Regisseuren, aus Neugier auf die vielfältigen Deutungsmöglichkeiten ihrer Texte, bei der Inszenierung ihrer Bühnenvorlagen freie Hand lassen. Dabei dient Dorst der große Dichterfürst Goethe als Vorbild. "Denn dessen Kollege Schiller sprang als Regisseur mit den Stücken seines Freundes ähnlich rigoros um wie heutige Regisseure mit Klassikern."

In seinen Kritiken verdeutlicht Schulze-Reimpell klug das Dilemma der heutigen Theater. Um vom Publikum anerkannt zu werden, bringen viele Bühnen biedere, gefällige Produktionen heraus. Das kann zwar zu einem rapiden Anstieg der Zuschauerzahlen führen, gleichzeitig sinkt aber der Ruf des Hauses in der Theaterszene. Auf diese Weise entziehen sich die Theater selbst die Existenzberechtigung, denn "warum soll die öffentliche Hand eine Bühne mit Millionen subventionieren, die in der Szene nichts gilt? (...] Der umgekehrte Fall ist das experimentierfreudige TAT in Frankfurt/Main, das ebenfalls geschlossen werden soll: Mehr Ansehen als Zuspruch ist auch tödlich."

Für die Misere des Theaters sieht Schulze-Reimpell auch die überholte Stadt- und Staatstheaterstruktur verantwortlich. Für ihn greifen Etatkürzungen zu kurz, um die Theaterbetriebe zu sanieren. Stattdessen müsse grundlegend über "die Organisationsform des Theaters der Zukunft" nachgedacht werden. Statt der Schließung ganzer Häuser bzw. einzelner Sparten schweben ihm "kleine Truppen ohne großen Apparat und entsprechende Spielstätten vor" vor, die "ganz nebenbei auch Strukturen des Stadttheaters der Zukunft entwickeln und erproben" können.

Neben seinen Essays zu der heutigen Theaterlandschaft stellt Schulze-Reimpell in seinem Band zeitgenössische Theaterautoren wie Armin Petras, Moritz Rinke oder Falk Richter vor. Auch kanonisierte Literaten und Theaterschaffende, wie Ödön von Horváth, Marie Luise Fleißer oder Gustav Gründgens werden porträtiert. Für einen unbewanderten Zeitungsleser bieten diese Artikel einen ersten kurzen Überblick, als Beitrag in einem Sammelband für literatur- und theaterinteressierte Leser sind sie allerdings wenig informativ.

Zudem erscheint die Artikelauswahl für das schmale Bändchen recht willkürlich. Hat Schulze-Reimpell einfach alle Beiträge, die er zwischen 1998 und 2005 für den "Rheinischen Merkur" verfasst hat und die dem Themenfeld Theater zuzurechnen sind, in diesem Band veröffentlicht? Für die so wichtige Frage "Ist das Theater noch zu retten?" bietet Schulze-Reimpell mit seinem Band eine erste Informations- und Diskussionsgrundlage. Eine umfassende Erörterung der Leitfrage bleibt jedoch aus. So bleibt Schulze-Reimpells Band eine Sammlung kleiner, wenn meist auch kluger Zeitungsartikel.


Titelbild

Werner Schulze-Reimpell: Zwischen Rotstift und Spasszwang. Ist das Theater noch zu retten?
Von Bockel Verlag, Hamburg 2005.
135 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3932696603

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