Das griechische Satyrspiel

Bravouröse Erschließung einer wenig beachteten Literaturgattung

Von Stefan SchornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schorn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beim Fest der großen Dionysien im antiken Athen nahm der Wettbewerb dreier Tragödiendichter einen zentralen Platz ein. Jeder der konkurrierenden Dichter führte an einem Tag drei Tragödien auf, gefolgt von einem heiteren Satyrspiel. Im Gegensatz zu den zahlreichen Tragödien, die uns von Aischylos, Sophokles und Euripides vollständig überliefert sind und die einen kaum abzuschätzenden Einfluss auf die europäischen Literaturen ausgeübt haben, ist von der Gattung des Satyrspiels nur ein einziges Stück erhalten: der "Kyklops" des Euripides. Ein Grund für diese Überlieferungslage ist, dass das Satyrspiel seine Hochphase im 5. Jahrhunderts v. Chr. hatte, in den folgenden Jahrhunderten jedoch an Bedeutung verlor, und dass in der Spätantike keine Satyrspiele in die Kanones der "Schultexte" aufgenommen worden sind. Infolgedessen wurden Satyrspiele kaum noch abgeschrieben und gingen verloren. Auch in der Neuzeit hat diese Literaturgattung nur wenige Autoren hervorgebracht; zu erwähnen wären der Franzose Paul Claudel (1868-1955) und der Brite Tony Harrison.

Charakteristikum eines jeden Satyrspiels ist der Chor, der stets aus Satyrn besteht, ferner ihr Vater, der Silen. Die Satyrn sind durch Vollbart, stumpfe Nase, spitze Pferdeohren, Pferdeschwanz und einen (meist erigierten) Phallus gekennzeichnet. Sie sind typischerweise naiv, ängstlich, stets trinkfreudig und geil. Die Handlung der Satyrspiele war im Gegensatz zu derjenigen der zuvor aufgeführten Tragödien simpel und heiter. Der Stoff der Handlung war aber wie die Tragödienstoffe dem tradierten Mythos entnommen. "Man nehme einen Mythos, füge Satyrn hinzu und beobachte, was geschieht", beschreibt der Altphilologe François Lissarrague das Wesen des Satyrspiels.

Neben diesem einzigen vollständig erhaltenen Satyrspiel des Euripides sind Fragmente zahlreicher weiterer Stücke überliefert, durch Zitate bei späteren Autoren und durch Papyri, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Ägypten gefunden wurden. Zusätzlich gibt es archäologische Zeugnisse mit Darstellungen von Szenen aus Satyrspielen, vor allem auf Vasen. Die gesamte Textbasis liegt in dem Band "Das griechische Satyrspiel" gesammelt, übersetzt und kommentiert vor.

Das Buch hat seinen Ausgangspunkt in einem Hauptseminar an der Freien Universität Berlin, an dem Studenten der Klassischen Philologie und der Archäologie teilgenommen haben. Herausgegeben wird es von zwei ausgewiesenen Kennern des antiken Theaters, von Nikolaus Pechstein und Bernd Seidensticker, sowie vom Archäologen Ralf Krumeich. Aus der Feder der Herausgeber und ihrer Studenten stammt die Bearbeitung der einzelnen Satyrspiele. Die philologisch-literarische und die archäologische Einleitung ist sicherlich die derzeit beste Einführung in diese Gattung. Es folgen die erhaltenen Fragmente, chronologisch nach Autoren geordnet. Daran schließen einige Adespota an. Die Bearbeitung der einzelnen Stücke folgt dem Schema: didaskalische Informationen, (möglicher) Stoff des Stücks, Text und Übersetzung der Fragmente, archäologische Zeugnisse, Rekonstruktionsversuch des Stücks. Der abgedruckte griechische Text ist derjenige der heute maßgeblichen Ausgabe der "Tragicorum Graecorum Fragmenta", allerdings ohne den kritischen Apparat. Zu bemerken ist, dass Richard Kannicht für die zahlreichen Fragmente aus den Satyrspielen des Euripides den Text seiner Edition noch vor der eigentlichen Publikation zur Verfügung gestellt hat. Die Übersetzungen sind durchweg sehr gelungen, wie meist auch die Kommentierung. Oft liegen die griechischen Texte hier zum ersten Mal in deutscher Übertragung vor. Vor allem bei den durch Papyri bruchstückhaft erhaltenen Texten kann der Benutzer der Sammlung den Übersetzern nur dankbar sein. Man betrachte etwa die Fragmente aus den "Spürhunden" des Sophokles, bei denen oft weniger als die Hälfte der Zeile erhalten ist. Eine umfangreiche Bibliographie, Indizes und 30 Schwarz-Weiß-Tafeln beschließen den Band.

Es ist den drei Herausgebern und ihrem Team gelungen, eine Gattung zu erschließen, die heute selbst manchem Klassischen Philologen fremd ist. Die Präsentation und Interpretation des Stoffes ist in einer Weise gelungen, die es auch Interessenten außerhalb der Altertumswissenschaft ermöglicht, einen Einblick in diese Variante des Dramas zu gewinnen und zu ermessen, welche literarischen Meisterwerke wohl unwiederbringlich verloren sind.

Titelbild

Ralf Krumeich / Nikolaus Pechstein / Bernd Seidensticker: Das griechische Satyrspiel. Hrsg. v. Krumeich, Ralf; Pechstein, Nikolaus; Seidensticker, Bernd.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 1999.
680 Seiten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 3534145933

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch