Sprachgewinn und Sprachverlust

Wolfgang Frühwald über Goethe, Schiller, Thomas Mann und das Talent, Deutsch zu schreiben

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch ist die deutsche Sprache eine der großen und geachteten Kultursprachen der Welt. Aber das amerikanische Englisch breitet sich als lingua franca in Wissenschaft und Wirtschaft immer mehr aus, und wer kann sich rühmen, heute noch eine derart gepflegte und durchdachte Sprache zu schreiben wie es einst Goethe, Schiller und Thomas Mann getan haben, von unserem Umgang mit der Sprache im Alltag ganz zu schweigen? Den drei Großen der deutschen Literatur war "das Talent, Deutsch zu schreiben" in hohem Maße zu eigen. Darauf beruft sich auch der emeritierte Germanist und Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung, Wolfgang Frühwald, Jahrgang 1935. In unterschiedlichen Essays, in denen es vor allem um Goethe, Schiller und Thomas Mann geht, untersucht er Phänomene deutscher Sprachkultur aus zwei Jahrhunderten, die in Deutschland ebenso sprach- und kulturbildend waren wie in den USA, in Japan oder Korea, in Russland oder Großbritannien.

In Italien, legt Frühwald in seinem titelgebenden Aufsatz dar, habe Goethe die Freuden der Sinnlichkeit, auch des eigenen Körpers, entdeckt und sich in seinen "Venezianischen Epigrammen" zu dreisten und unartigen Versen hinreißen lassen, womit er über alle engen Sprachgrenzen hinaus geschritten sei. Friedrich Klopstock wiederum, 25 Jahre älter als Goethe, der die einst so widerständige deutsche Sprache, insbesondere die deutsche Literatursprache, vom Reim- und Regelapparat der barocken Stilmuster befreit und sie dadurch geschmeidig gemacht hatte, sah sich durch Goethe in seiner Lebensleistung verletzt. Mehreren Generationen deutscher Schriftsteller hatte Klopstock nämlich die Emanzipation vom französischen Ausdrucks-, Sprach- und Regelkanon vorgelebt und erwiesen, dass die deutsche Sprache mit den antiken Sprachen und dem Französischen durchaus konkurrenzfähig ist.

Frühwald preist die gewaltige Sprachleistung, die Goethe und seine Schüler im Laufe ihres Lebens erbracht haben, und macht deutlich, dass der Versuch, der mit Klopstock und Lessing begann, einen neuen Sinnhorizont in Poesie, Sprache und Kunst um die zerfallenden Weltbilder zu ziehen, nachdem Philosophie und Theologie gegenüber dem andrängenden Erfahrungswissen versagt haben, in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts mit dem Erschrecken vor der zwecklosen Fülle der angehäuften Fakten geendet habe. "Nun trennte sich die Literatur von der Sprache des Alltags so weit wie niemals zuvor, nun traten die Spötter und Zweifler auf, welche die Zeitalter des Überflusses und der Fülle stets abzuschließen pflegen. Am Ende dieses Kunstzeitalters, das die von Goethes Sprache dominierte Epoche war, trat der Spötter Heinrich Heine auf [...]. Nun erschien der Melancholiker Georg Büchner."

Auch andere Beiträge, von denen nicht wenige schon anderweitig publiziert wurden, kreisen um Dichter und ihre Sprache, wie etwa um Schillers Probleme mit der schwäbischen Mundart oder um den Kampf im Hause Thomas Manns zwischen der Sprache des Vaters und der Sprache des Sohnes Klaus. Doch etliche Beiträge greifen auch ganz andere, oft recht entlegene Themen auf, die wohl mit den Dichtern, aber weniger mit deren Sprache zu tun haben.

In einem Essay sichtet Frühwald die italienischen Tagebücher der Familie Goethe. Der Dichterfürst Goethe fand in Italien alles, wovon er geträumt hatte. Schon sein Vater Johann Caspar hatte ihm den Keim der Sehnsucht nach diesem Land eingepflanzt, das er selbst erst spät kennen gelernt hatte. Johann Wolfgang wiederum vermittelte anderen Dichtern wie Wackenroder, Tieck, E.T.A.Hoffmann, Joseph von Eichendorff sein Italienbild, das Bild eines Landes, in dem unter südlich heiterem Himmel menschliches Maß, das heißt Humanität, zu entdecken sei. Den ewig blauen Himmel empfand dagegen sein Sohn August 1830 bei seiner vergeblichen Flucht nach Italien als unerträglich. Eigentlich wollte er sich aus der Abhängigkeit seines Vaters befreien, doch hat ihm die Reise nicht neues Leben geschenkt, sondern den Tod gebracht. Nicht einmal im Grabe durfte er er selber sein. Denn begraben wurde er als der Sohn seines Vaters, nicht als August von Goethe. "Goethe Filius Patri Antevertens Obiit." ist auf dem Grabstein im römischen Cimitero degli stranieri acattolici" ("Seinem Vater vorausgehend starb Goethe, der Sohn) zu lesen.

Ein anderer Aufsatz befasst sich mit der Auflagen- und Wirkungsgeschichte von Georg Büchmanns berühmter, erstmals 1864 veröffentlichter Sammlung "Geflügelte Worte".Vor allem die nationalsozialistischen Parteiführer entnahmen ihr zahlreiche Schiller-Zitate und "schmückten" mit ihnen formelhaft ihre Reden. Da die Führungsriege der Nazis in ihren Reden Schiller bevorzugten, wenn auch entstellt, und Goethe zu missbrauchen kaum imstande waren, wurde der Weimarer Dichterfürst (hiervon handelt der eindrucksvolle Aufsatz "Goethe im Exil. Zur Rezeption eines Klassikers in finsteren Zeiten") für Emigranten zum Garanten der Weltgeltung deutscher Sprache, zum Beispiel für den 1940 nach Amerika geflüchteten Theaterkritiker Julius Baab. Nicht nur Elias Canetti verdankte Goethes Sprache im Exil die Kraft zum Überleben. Thomas Mann und seine Familie versuchten im amerikanischen Exil sogar, den deutschen, den europäischen Bildungs- und Humanitätsgedanken in die Neue Welt zu übertragen und so vor der in Deutschland zur Herrschaft gelangten Barbarei zu retten.

In anderen Essays hinterfragt der Autor Thomas Manns Erzählung "Schwere Stunde", in der Mann, seiner Meinung nach, Schiller zu heldenhaft dargestellt hat, und ehrt Schiller als "Mann des Theaters", der bis heute den "tollsten Regie-Einfällen" standgehalten hat. Er erzählt, dass Ludwig I., König von Bayern, Goethe an dessen Geburtstag 1827 in Weimar besucht und sich einige Jahre später mit einem taktlosen Gedicht an die Spitze von Goethes Kritikern gestellt habe.

Weiter führt der Germanist seinen Lesern vor Augen, wie sich im deutschen Kaiserreich bildungsbürgerliche Literatur mit Chauvinismus und Antisemitismus verbunden hat. Das wiederum rief eine international konkurrenzfähige Literatur in Deutschland auf den Plan und weckte ihre Kritik und Ironie, "so dass Raabe und Fontane, nicht nur stilistisch, den Weg zu Thomas Mann, zur Neuromantik der Jahrhundertwende bis hin zum jungen Bertolt Brecht gewiesen haben."

Dann wieder liest man eine Abhandlung über Thomas Manns Milieu- und Stilparodie in seiner Erzählung "Gladius Dei", über seine "Moses-Phantasie" und erfährt manches aus seiner Familie, nicht zuletzt durch die gelungene Rekonstruktion von Katia Manns "Ungehaltener Rede an die Nachgeborenen".

Wolfgang Frühwald wartet mit einer Vielzahl origineller Aspekte auf und wechselt nicht selten auf eine überraschende Weise die Perspektiven. Plötzlich ist er, statt bei Literaturwissenschaft und Germanistik, bei der Biologie, der Physik, der Schönheitschirurgie und der Zahnmedizin, zum Beispiel in seiner Betrachtung "Über Zahnlücken, Zahnschmerzen und Zahnersatz in der deutschen Literatur von Goethe bis Grass." In seinem Altersroman "Wilhelm Meister", schreibt Frühwald, verknüpfte Goethe das Bild des Zahnverlustes mit Reflexionen über Zahnersatz und über das Ende des Lebens - immerhin verliert hier ein Mann von fünfzig Jahren wegen einer Zahnlücke sein Selbstbewusstsein und seine junge Geliebte. Bei Thomas Mann stirbt Thomas Buddenbrook an einem kranken Zahn. In Grass heiterem Rebellenroman "Örtlich betäubt" (erschienen1969) geben die Gespräche des Berliner Studienrats Eberhard Starusch mit seinem Zahnarzt während einer Behandlung eine Innenansicht der alten Bundesrepublik Deutschland. Unversehens gerät der Zahnersatz zur Verjüngungskur, individuell und gesellschaftlich.

Da versteht es sich fast von selbst, dass der Autor nun auch auf Zahnersatz, plastische Chirurgie und Forschung an embryonalen und adulten Stammzellen zu sprechen kommt. Mitunter holt er weit aus, und dann ist man immer wieder erstaunt, was er alles miteinander in Einklang zu bringen versteht. Obgleich manches verstiegen und abwegig wirkt, so sind die Essays doch recht informativ und, da insgesamt flüssig geschrieben, auch gut zu lesen.


Titelbild

Wolfgang Frühwald: Das Talent, Deutsch zu schreiben. Goethe - Schiller - Thomas Mann.
DuMont Buchverlag, Köln 2005.
440 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 3832178953

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