Für dieses Buch werden sie alle lieben

Sibylle Berg erzählt ein Märchen von der Flucht ins Glück

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob ich das Buch unbeaufsichtigt in der Wohnung herumliegen lassen würde, hätte ich eine halbwüchsige Tochter, weiß ich nicht. Frau Berg, die letztes Jahr noch mir die Welt erklärte, erklärt nun meiner Tochter: "Ich kann nur jedem Kind raten, einmal abzuhauen." Das ist wohl richtig; aber darf meine Tochter das wissen? "Ich glaube, später hat man zu viel, das einen davon abhält. Eine Bibliothek und gute Kollegen, oder ein Haus und Gewohnheiten." Das sitzt! Das mit dem Haus schaffen meine Generationsgenossen, geboren vor nicht allzu langer Zeit in Ost- oder Westdeutschland, vielleicht nicht mehr, der Rest aber ist ein Problem. Wo stellen wir unsere Büchersammlungen unter?

Tatsächlich hat Sibylle Berg natürlich kein "Märchen für alle" geschrieben, wenn der Untertitel Leser und Leserinnen aller Altersstufen meinen sollte. Vielmehr hat sie ein Märchen für "alle" geschrieben, "die es normal finden, wenn ein unbekannter Ameisenbär an ihrem Frühstückstisch sitzt". Die Widmung appelliert an unsere Bereitschaft, Literatur als Mitteilung einer vielleicht fantastischen, aber möglichen Welt ernst zu nehmen.

Was Berg vorderhand in ihrem Märchen erzählt, ist dies: Die 13-jährige Anna, unglückliche Tochter einer allein erziehenden Alkoholikerin, und der gleichaltrige Max, unglücklicher Sohn eines allein erziehenden Polizisten, beschließen, nachdem sie sich in einer thüringischen Kleinstadt der 1970er oder 80er Jahre zufällig begegnet sind, abzuhauen: "weil es Winter ist und weil alles so furchtbar nervt". Das Reiseziel lautet etwas vage: "Süden"; jedenfalls geht es Richtung Schwarzes Meer, und von dort "mit einem Boot nach Italien oder Griechenland oder sonst wohin, wo es anders ist". Am Ende des Buchs liegen die beiden im Wäscheraum eines hoffentlich wirklich türkischen Schiffs, das den Hafen von Constanza verlässt und die beiden in die "Freiheit" transportiert.

Nicht nur das Ende ist märchenhaft, auch die Reise selbst hat wahrscheinlich weniger mit der Wirklichkeit unserer Jahre zu tun als mit Literatur. In Polen werden Anna und Max vorübergehend von einer Art Orco und seiner Frau (kennen Sie Basiles "Pentamerone"?) gefangen, können sich aber natürlich befreien; könnten sogar die anderen gefangenen Kinderarbeiter befreien, doch wollen diese gar nicht befreit werden. In der Tschechoslowakei (so hieß der Staat damals noch) verwirren sich die Gefühle, eine Art schwer erträgliche Leichtigkeit des Seins irritiert die erste Liebe von Anna und Max, doch finden sich die beiden (die Leser atmen auf) in Budapest wieder. Ganz ohne Komplikationen geht es auch zwischen Ungarn und Rumänien nicht ab (das ist richtig spannend, so dass ich dazu weiter nichts sage), doch diesmal geht es beglückend gut aus.

Eigentlich ist die Geschichte zu schön, um wahr zu sein, aber das muss sie als Märchen schließlich auch! Doch wäre es kein richtiges Berg-Buch, wenn der Hintergrund des Märchens nicht ein wenig trist wäre. Kindsein in der DDR: Da fällt der Autorin "nichts Nettes ein". Die Kälte in den ungeheizten Altbauwohnungen kann sich ein Westler gar nicht vorstellen. Eher war auch ihnen die Farblosigkeit aufgefallen: Die "Stadt ist grau, und auch das ganze Land", sogar die Möbel. Die Leute sind schlecht gelaunt und wissen nichts mit sich anzufangen. "Für junge Menschen ist dieses Land die Hölle. Es gibt nichts, was sie hier machen können, außer im Kino Russenfilme (über traurige Leute in ungeheizten Wohnungen) schauen oder am Denkmal in der Stadt rumzuhängen."

Anna und Max tun nicht einmal das. Stattdessen schauen sie aus dem Fenster oder lesen. "Natürlich aus dem Grund, aus dem alle lesesüchtigen Kinder lesen: Realitätsflucht." Als sie sich endlich getroffen haben, wird aus der Realitätsflucht Republikflucht. Das ist weniger gefährlich als gedacht. "Habe ich schon erzählt, wie einfach dann doch alles ist?" Die beiden Kinder wachsen über sich hinaus. "Plan A ist durch. Und Plan B gibt es nicht." Was soll man da machen? Nur nicht nachdenken; "es gibt Situationen, in denen man seine Feigheit einfach vergessen und handeln muss."

Das tun die beiden. Und damit hat die Freiheit, nach denen sie sich sehnen, unvermerkt schon begonnen. "Es ist ein großes Gefühl, so unbeschwert von Angst und jedem Gedanken etwas zu tun. Sehr empfehlenswert." Zunächst hält Anna dies für etwas typisch Männliches. Aber im Lauf der Geschichte lernt sie, dass die Mädchen wahrscheinlich doch die Mutigeren sind. Jungs "haben immer etwas mehr Angst bei Sachen, wo es wirklich drauf ankommt. Beim Entfernen von Spinnen sind sie besser, aber bei Erdbeben wäre ich mir da nicht so sicher." Nebenbei klärt Berg also auch über die "Rätsel" des "Jungs-und-Mädchen-Zeugs" auf; darin war sie ja schon immer gut.

Am Ende wissen Anna und Max, "wie schön es ist, wenn einer einem die Hände hält"; und dass es sich gelohnt hat, mutig zu sein. "Egal was jetzt kommt, es wird besser sein als das, was wir verlassen haben." Hoffnungsvoll und optimistisch wie selten endet das neue Buch von Sibylle Berg. Dafür würden sie alle lieben, befürchtete die Autorin in einem Interview. Das mag schon sein - aber da muss sie jetzt durch. Sehr empfehlenswert.


Titelbild

Sibylle Berg: Habe ich dir eigentlich schon erzählt ... Ein Märchen für alle.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
169 Seiten, 7,95 EUR.
ISBN-10: 3462037358

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