Gipfel der Niveaulosigkeit

Tilman Krause polemisiert mit einer Fehlinformation gegen die historisch-kritischen Kafka-Editoren Roland Reuß und Peter Staengle - und bedient damit antiintellektuelle Ressentiments

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Polemiken sind ein wichtiges Instrument der Literaturkritik. Ohne sie wäre unser Feuilleton ärmer, ja langweilig und belanglos. Lustig ist es zudem immer wieder, wenn sich erregte Kritiker in ihren blindwütigen Attacken kurzerhand selbst vernichten: Etwa dann, wenn sie das Buch nicht gelesen haben, über das sie sich so maßlos erregen. Oder wenn sie den Sachverhalt, über den sie sich empören, nicht einmal im Ansatz begriffen haben.

Auf Tilman Krause, dessen journalistischer Werdegang über die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (1990-1994) und den "Tagesspiegel" (1994-1998) zu seinem gegenwärtigen Posten als leitendem Literatur-Redakteur bei der "Welt" führte, trifft gleich beides zu: Weder scheint sich der promovierte Literaturwissenschaftler jemals intensiver mit den Texten Franz Kafkas auseinander gesetzt zu haben, noch war er offenbar in der Lage, auch nur einen Zeitungsartikel zu dem Thema, das er glaubte in der "Welt" glossieren zu müssen, ganz durchzulesen.

Dabei gab es vorher schon einige kenntnisreiche Beiträge, die sich unter anderem in verschiedenen großen Tageszeitungen mit dem neuen Konflikt um die im Frankfurter Stroemfeld Verlag erscheinende historisch-kritische Kafka-Ausgabe beschäftigt hatten. Seit Jahren wird sie von den Germanisten Roland Reuß und Peter Staengle besorgt. Die deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) lehnte einen Antrag auf eine zwölfjährige Förderung des mittlerweile renommierten Projektes ab und löste, vermittelt durch einen möglicherweise etwas voreilig publizierten offenen Brief der zurückgewiesenen Forscher, einen globalen Unterschriften-Proteststurm aus, dem sich bisher unter anderem die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek (und inzwischen auch ihr Kollege John Coetzee) angeschlossen haben.

Auch die von den Kafka-Editoren gesammelten Unterschriften einer ganzen Reihe sehr renommierter Wissenschaftler haben Krause jedoch nicht davon abgehalten, in der "Welt" dem polternden Antiintellektualismus stumpfsinniger Stammtischgesellen das Wort zu reden: Die Berufsgruppe der Philologen veräppelt er in seinem ungehobelten Kommentar kurzerhand als infantile und puerile Gestalten, deren "kindliche[s] Greinen" nach finanzieller Förderung für ihr "geschmäcklerische[s] Unternehmen" nun aber "dem Fass den Boden" ausschlage. Wer "für seine Liebhabereien andere zahlen lässt, zeigt schon schlechten Stil", schreibt Krause. "Denn um eine Liebhaberei handelt es sich bei dem aparten Editionsgeschäft im Hause Stroemfeld, vormals Roter Stern. Publizistische Notwendigkeiten sehen anders aus."

Guck mal, wer da spricht: Krause lässt sich seine eigenen "publizistischen Notwendigkeiten" jedenfalls ganz ungeniert vom Hause Springer entlohnen. Sein Artikel bedient noch dazu mit der frechen Behauptung, die zur Debatte stehende Kafka-Ausgabe sei nicht viel mehr als ein kostspieliges Hobby anmaßender Germanisten, das altbekannte Ressentiment denkunwilliger und lesunfähiger Spießbürger. Die haben sich die Universität nämlich schon immer als eine sündhaft teure Verwahrungsanstalt für demente Literaturprofessoren vorgestellt, die sinnlos Buchstaben hin- und herschieben.

Doch damit nicht genug: Aus den bisherigen Artikeln zum Thema spießt Krause Alexander Honolds eindrückliche Beschreibung Kafka'scher Handschriften in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" auf, um die "Basler Koryphäe der Germanistik" (Krause) als delirierenden "Liebhaber" irgendwelcher Strichmännchenzeichnungen zu veralbern: "Ich weiß nicht, was in solchen Fällen die Herren Kollegen empfehlen. Ich würde sagen: zurück auf los, verehrter Herr Professor, zurück zu Karl May!"

Das alles wirkt tatsächlich so, als habe man hier einen angetrunkenen BWL-Studenten aus dem Bierkeller der Jungen Union hervorgeholt und ihn in der Redaktion der "Welt" freundlich gebeten, den Menschen endlich einmal seine Meinung zur hohen Literatur und zu den berühmten Herren Philologen aufzuschreiben. Man mag einwenden, eine derartig indiskutable Entgleisung sei es nicht wert, darüber auch noch einen weiteren Artikel zu schreiben - eingedenk des Lessing'schen Grundsatzes, den man in diesem Fall auf Journalisten zu übertragen verleitet sein könnte: "Einen elenden Dichter tadelt man gar nicht; mit einem mittelmäßigen verfährt man gelinde; gegen einen großen ist man unerbittlich."

Doch der journalistische Totalausfall, den man so einfach nicht durchgehen lassen darf, kommt ja erst noch: Es ist Krauses Behauptung, gleichsam unter dem Deckmantel ihres Kafka-Spleens empörten sich im Falle von Reuß und Staengle verspielte Textwissenschaftler, bloß weil man ihre "Kafka-Ausgabe im originalen Handschriftenverlauf nach zwölf Jahren finanzieller Unterstützung nicht weiter fördern" wolle: Bekanntlich kam ihr Projekt in all den bisherigen Jahren ganz ohne jede öffentliche Förderung aus.

Die Leser der "Welt" aber werden mit Krauses kompletter Verdrehung der Tatsachen in ihrem blinden Hass auf alles geistige, versponnene und 'den Steuerzahler' womöglich noch seinen letzten Cent kostende Gewese "verwöhnter" und "arbeitslunlustiger" Akademiker bestärkt - wahrlich kein Ruhmesblatt für diese Zeitung. Würde sie nur ein bisschen auf sich halten - immerhin wird die "Literarische Welt" von einer so angesehenen Persönlichkeit wie Rachel Salamander herausgegeben - dürfte sie sich jemanden, der mit einer derart unverfrorenen Schlampigkeit arbeitet, im Literaturressort eigentlich nicht mehr leisten.