Die Würde des kleinen Mannes

Zwei neue Bücher von Andrea Camilleri

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Anruf kommt morgens ganz früh. Montalbano beschwert sich: "Catarè, es ist Punkt sechs!" Aber auf Catarellas Uhr ist es schon drei Minuten nach sechs. Er bedankt sich für die Korrektur, und beide legen auf. Aber dann klingelt es noch einmal: "Dottori, bitte verzeihen Sie, aber bei der Uhrzeit habe ich vergessen, dass ich ja angerufen habe, weil ich Sie wegen was anrufen wollte. [...] Einem Mädchen sein Motorroller ist weg."

Catarella hat wieder einmal alles verwechselt. Es geht nämlich nicht um den Motorroller, sondern um das Mädchen: Susanna Mistretta wurde entführt. Und obwohl Commissario Montalbano eigentlich krankgeschrieben ist, macht er sich gleich auf den Weg. Schnell findet er heraus, dass vieles nicht stimmt: Dass die Familie des entführten Mädchens bekanntermaßen gar kein Geld hat, dass ihr Onkel ein Verbrecher ist, aber für sie bezahlen könnte, dass die Entführer irgendein Spiel spielen und dazu ihren Freund, die Polizei, die Fernsehsender und das ganze Dorf Vigàta benutzt.

Ein neuer Camilleri, gar ein neuer Montalbano, das ist für viele Leser ein Ereignis. Auch im neuen Roman "Die Passion des stillen Rächers" findet er alle vertrauten Zutaten: den Commissario, der vor sich hinbruddelt und mit Catarella, seinen Kollegen und den Vorgesetzten Probleme hat, sich aber immer durchlaviert, der mit seiner Freundin Livia immer enger zusammen lebt und auch mit ihr ganz normale Probleme hat, der gutes Essen liebt (diesmal ist er auf Diät gesetzt und kann sich trotzdem wenigstens einmal ein gutes Mahl gönnen) und seine Ruhe - und sich doch immer wieder einmischen muss. Camilleris Montalbano-Krimis sind kleine, gemütliche Hymnen auf die Würde des kleinen Mannes und die Überraschungen des normalen Alltagslebens.

Er ist, wie immer, voll mit sizilianischer Atmosphäre, mit vielen Liebenswürdigkeiten und skurrilen Szenen. Er ist aber auch, was den Kriminalfall betrifft, nicht so sicher und genau konstruiert wie die vorherigen, er ist sogar ziemlich durchsichtig und eher schwach. Viel wichtiger sind auch in diesem Band die persönlichen Geschichten des Commissario, der immer älter wird und sich immer mehr nach Frieden und Stille sehnt.

Ein zweiter, ganz kleiner Band von Camilleri, "Das Medaillon", der jetzt auch erschienen ist, erzählt von Maresciallo Antonio Brancato, der in dem kleinen Bergdorf Belcolle seinen Dienst tut. Als die Frau des Schäfers Ciccino stirbt, beginnt er um sich zu schießen. Ganz sachte erzählt Camilleri, wie es Brancato gelingt herauszufinden, was vorgefallen ist: Nach dem Tod seiner Frau hat Ciccino in einem Medaillon, das sie immer trug, ein Bild gefunden, das Bild eines anderen Mannes. Natürlich ist er verbittert. Es ist, wie so oft bei Camilleri, eine kleine, menschliche Tragödie, die Brancato zum Besten wenden kann. Auch in diesem kleinen Bändchen wird mit viel Lokalkolorit und Sympathie ein kleines Universum aufgeblättert, eine kleine Geschichte erzählt. Besonders schön sind die vielen bunten, sorgfältig detaillierten Zeichnungen von Roberto Innocenti, die dem Buch eine ganz besondere Note geben.


Titelbild

Andrea Camilleri: Das Medaillon. Illustriert von Roberto Innocenti.
Übersetzt aus dem Italienischen von Moshe Kahn.
Kindler Verlag, Berlin 2006.
72 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3463405040

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Titelbild

Andrea Camilleri: Die Passion des stillen Rächers. Commissario Montalbano stößt an seine Grenzen.
Übersetzt aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim.
Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 2006.
252 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3785715811

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