Literatur und Lebensentwurf

Peter-André Alts große Kafka-Biografie

Von Jürgen PelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Pelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es scheint in der Natur der Kafka-Forschung zu liegen, dass man immer wieder bemüht ist, einen "Schlüssel" zur Dekuvrierung dieses nach wie vor rätselhaften Werks zu liefern. Auch der Berliner Literaturwissenschaftler Peter-André Alt tut dies, indem er bereits im Untertitel seiner Biografie die Formel des "ewigen Sohns" prägt, womit er auf das Unfertige, Unabgeschlossene und letztlich Scheiternde in Kafkas Leben abhebt, dem im Literarischen die ähnliche Tendenz zum Fragmentarischen, Spontanen, Vorläufigen oder Offenen entspreche.

Auch zum Verhältnis von Leben und Literatur offeriert Alt eine These, um einer simplen Ableitung des Werks aus der Biografie zu entgehen und die eigene Darstellung auf eine theoretisch-reflektierte Grundlage zu stellen: Gerade bei Kafka sei es die Literatur, die "Allmacht der Fiktion", die das Leben strukturiere; die Texte eilten dem Leben oft voraus (man denke an den "Landarzt" und die "tödliche Wunde", einer literarischen Präfiguration des nachfolgenden Ausbruchs der Tuberkulose bei Kafka), oder die Lebenserfahrung werde nachträglich in literarische Traumbilder überführt. Keinesfalls könne man (was kaum Widerspruch finden dürfte) die biografischen Dokumente (also namentlich Tagebücher und Briefe) als objektive Quellen zur Rekonstruktion der Biografie betrachten, da sie stilisiert, literarisiert, oft ausdrücklich auf Literatur hin konzipiert seien.

Selbst die angeblich objektiven Tatbestände von Geschichte, Gesellschaft und Politik gewännen ihre Relevanz erst, indem sie subjektiv mit Bedeutung aufgeladen würden, weshalb man in einer wissenschaftlich ambitionierten Biografie von einem komplizierten Wechselverhältnis von individueller Biografie und sozialem Kontext ausgehen müsse.

Schließlich wartet Alt im Einleitungsteil mit einer dritten These auf, derzufolge man im Falle Kafkas weder von einem traditionellen Autor-, noch von einem herkömmlichen Werkkonzept ausgehen könne: Die Identität des Autors bestehe in Wahrheit aus diversen, miteinander oft in Widerstreit liegenden liegenden Identitätsmustern und gleichzeitig sei das Ziel der literarischen Arbeit kein kohärentes 'Werk', sondern das prozesshafte Schreiben selbst, die 'Schrift', die sich - nach Jacques Derrida - dem, was sie repräsentieren möchte, allenfalls annähern könne.

Dies sind die zentralen theoretischen Vorgaben einer Biografie, die sowohl Kafkas Leben wie dessen Werk entschlüsseln und dies auf systematisch-analytische Weise erreichen möchte. Von Reiner Stachs monumentaler Teilbiografie, die beantworten wollte, "wie es war, Kafka zu sein", und die dabei unter anderem das Mittel der szenischen Vergegenwärtigung nutzte, setzt Alt sich (unausgesprochen) ab. Sein Ziel besteht vielmehr in einer betont literaturwissenschaftlichen, theoretisch-reflektierenden, ja nüchternen Herangehensweise, die auch den akademischen Jargon nicht scheut. Anders als Stach, der sich in seiner Teilbiographie vorerst auf die wenigen "Jahre der Entscheidungen", 1910 bis 1915, konzentriert, um so den Durchbruch des Autors Kafka herauszustreichen, hat Alt den Mut zur umfassenden Chronik aufgebracht. Und hier liegt wohl eine der wesentlichen Stärken der neuen Biografie, die in ausführlichen Kapiteln Kafkas Familien- und Kindheitsgeschichte, Studium und Lebensfreundschaften, das literarische Leben Prags sowie die kulturellen Trends zwischen 1900 und 1920 vorstellt und auch auf Kafkas gelegentliche Bordellbesuche, Reiseerfahrungen, seine Technikfaszination und Filmbegeisterung oder seine (widersprüchliche) Haltung zu Krieg und Politik eingeht, um so die Facetten der verschiedenen "Identitätsmuster" auszuleuchten. Obendrein liefert Alt Interpretationen der wichtigen Werke Kafkas; den großen Romanen sind jeweils ganze Kapitel gewidmet.

Es stellt sich natürlich die Frage, inwieweit Alt die eingangs genannten theoretischen Vorgaben einhalten kann. Was die Gesamtanlage betrifft, so sprengt das mit enormer Sachkenntnis ausgebreitete Material fast zwangsläufig den chronologischen Rahmen, so dass es immer wieder zu zeitlichen Überlappungen kommt (so wird z. B. das Jahr 1912 in sechs verschiedenen Kapiteln abgehandelt). Das Eigengewicht der oft ausufernden, aber brilliant präsentierten kulturhistorischen Exkurse kommt letztlich aber der Anschaulichkeit des Ganzen zugute und situiert den Autor und seine literarische Arbeit im größeren Zusammenhang.

Die zentrale Formel vom 'ewigen Sohn' erscheint dagegen, so sehr sie immer wieder ins Feld geführt wird, als überstrapaziert und nur bedingt tragfähig. Denn zum einen schreibt sie, letztlich unbewiesen, den Grund zu Kafkas Künstlerexistenz rigoros fest, zum anderen lassen sich natürlich zahlreiche Ausbruchsversuche aus der angeblich selbstgewollten Rolle des Sohnes anführen; man denke z. B. an die Berliner Zeit mit Dora Diamant, die bei Alt flugs zur Mutterfigur stilisiert wird, um das Image des "ewigen Sohnes" retten zu können. Auch die Rolle vom Vorrang der Fiktion erscheint allzusehr forciert und wird obendrein, abgesehen von den allbekannten Beispielen, in den diversen Interpretationen kaum weiter überzeugend ausgeführt.

Die kapitellangen Romaninterpretationen beschränken sich im Wesentlichen auf psychoanalytisch inspirierte, aber im Formelhaften verbleibende Ansätze, verfolgen oder vertiefen aber den eingangs genannten theoretischen Zugang nicht weiter. Am überzeugendsten eingelöst erscheint dagegen die - auch andernorts in der Kafka- Forschung vertretene - These vom Prozesshaften in Kafkas Schreiben und von der veränderten, komplizierten Autorfunktion. Sie erweist sich als tragendes Fundament, insofern sich so Biografie und Schreiben, Literatur und (jeweiliger) Lebensentwurf sinnfällig aufeinander beziehen lassen. Gleichzeitig wird Kafka, der immer noch oft als isolierter, auf sich selbst konzentrierter Einzelgänger hingestellt wird, bei Alt im Netzwerk der politischen und kulturellen Diskurse seiner Zeit gezeigt, die er kritisch- distanziert begleitet und verarbeitet hat.


Titelbild

Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
763 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3406534414

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