Auf dem fantastischen, sinkenden Ozeandampfer

Zur Neuauflage von Patricia Bosworths großartiger Biografie der Fotografin Diane Arbus

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diane Arbus, geboren 1923 und durch Freitod 1971 gestorben in New York, war eine der herausragenden Fotografinnen des 20. Jahrhunderts. Mit ihrer direkten, schonungslosen Porträtfotografie war sie ihrer Zeit mindestens eine Dekade voraus. Ihre Arbeit wurde oft kopiert, aber selten erreicht. Arbus' rare Originalabzüge gehen heute für teils sechsstellige Summen über die Auktionstische. Die große Arbus-Retrospektive "Revelations" war 2005 auch in Deutschland, im Essener Folkwang-Museum, zu sehen. Mit Nicole Kidman in der Hauptrolle wurde ihr Leben unter dem Titel "Fur - An Imaginary Portrait of Diane Arbus" verfilmt. "Fur" heißt Pelz: Arbus' Vater, David Nemerov, führte in der Fifth Avenue in Manhattan ein Modekaufhaus, das berühmt für seine Pelze war. Der Film, an dem die Arbus-Biografin Patricia Bosworth als Co-Produzentin beteiligt war, startet demnächst in den deutschen Kinos.

So gibt es also einen gewissen Rummel um die Künstlerin Diane Arbus, was für den Kölner DuMont-Verlag der Anlass gewesen sein dürfte, die Biografie von Patricia Bosworth 22 Jahre nach ihrem erstmaligen Erscheinen neu aufzulegen. Während die alte Ausgabe, die bei Schirmer/Mosel erschienen war, noch schlicht "Diane Arbus. Eine Biographie" betitelt war, nennt sich die DuMont'sche Ausgabe "Schwarz & Weiß. Das Leben der Diane Arbus". Das Coverphoto wurde ausgetauscht und konsequenterweise in Blau gehalten. Ergänzt wurde der Band um ein aktuelles Nachwort der Biografin anlässlich der großen Arbus-Retrospektive "Revelations". Im Nachwort schreibt sie: "Seit 1984 meine Biographie über Diane erschien, ist ihr Ruf als Meisterin der Photokunst stetig gewachsen. Ihre Porträts von Transvestiten, Stars, Nudisten, Paaren in den Suburbs und wütenden Jugendlichen gelten bei Kunsthistorikern und Kritikern als Klassiker. Außerdem sind die Bilder von fundamentaler Bedeutung für unser Verständnis der Photographie im 20. Jahrhundert, auch wenn sie von manchen nach wie vor kontrovers betrachtet werden."

Sehr schade ist es allerdings, dass auch die Neuauflage keine Bilder von Diane Arbus enthält. Die Arbus-Erben wollten damals nicht; heute hat sich wohl niemand mehr darum bemüht. Für den Leser, der sich näher mit dem Lebensweg Arbus' und ihrer Photokunst beschäftigen möchte und der nicht Arbus' Werk vor seinem inneren Auge hat, bedeutet dies, dass er bei der Lektüre einen Bildband parat haben sollte. Denn sonst trifft Arbus' eigene Aussage - "Ich glaube, es gibt Dinge, die niemand sähe, wenn ich sie nicht photographiert hätte" - auf eine wohl nicht beabsichtigte Weise zu.

Bosworths Biografie lohnt sich auch für den Leser, dem der Name Arbus bislang unbekannt war. Diane Arbus' Leben war dunkel, mehrdeutig, fordert zu Deutungen heraus - und war eingebunden in die avantgardistische Kunstszene New Yorks nach dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl Arbus als Einzelgängerin galt, die sich keinen Künstlergruppen oder Bewegungen anschloss, war sie kontaktfreudig. Bosworth schildert beispielsweise Arbus' frühe Bekanntschaft mit dem blinden Jazzmusiker Moondog oder ihre lebenslange Freundschaft mit Richard Avedon. "Schwarz & Weiß" liefert quasi nebenbei Einblicke in die wilde, vitale und einflussreiche (Kunst)geschichte New Yorks.

Aufgewachsen in einem gut situierten Elternhaus in Manhattan, waren es die Ausflüge mit ihrem Kindermädchen, die Diane Arbus die ersten, noch seltenen Einblicke in eine ihr fremde Realität lieferten. "Als Kind litt ich darunter, daß ich immer in Watte gepackt wurde", erinnert sich Arbus, "und nichts vom Unglück auf der Welt mitkriegte." Arbus, eine sehr gute, kluge Schülerin, fiel ihren Lehrern schon früh durch ihre kreative Begabung auf. Entgegen den Vorstellungen ihrer Eltern heiratete sie sehr jung ihre Jugendliebe, den Angestellten Allan Arbus, mit dem sie sich eine Fotoagentur für Modeaufnahmen aufbaute. Sie wurde zweifache Mutter und verband in einer Zeit, als dies noch eine Ausnahme war, Haushalt, Familie, Kinder mit der Karriere. Doch insgeheim verachtete sie die Künstlichkeit der Modebranche, und als Ende der Fünfziger ihre Ehe scheiterte, war für sie der Weg frei, um etwas Neues zu beginnen.

Arbus zog es hinaus aus dem Studio auf die Straßen New Yorks. Beeindruckt von den Bildern des Fotoreporters Weegee und der Arbeit der Dokumentaristen Robert Frank und Walker Evans, sowie unterrichtet von der Fotografin Lisette Model schuf die an sich schüchterne Arbus ihren einzigartigen, provokanten Porträtstil, der sie sehr bald von allen Vorbildern und Einflüssen abhob. Ihre bevorzugten Sujets waren so genannte "Freaks": Transvestiten, Liliputaner, deformierte Menschen, die sie auf Jahrmärkten und in Zirkussen fand.

"Die meisten Leute haben ihr Leben lang Angst davor, daß ihnen etwas Traumatisches zustößt. Freaks sind mit ihrem Trauma auf die Welt gekommen. Die Lebensprüfung haben sie schon bestanden. Sie sind Aristokraten", erklärte Arbus. Sie fotographierte Nudisten in verwahrlosten Freizeitcamps in New Jersey, junge Paare im Central Park, patriotische Unterstützer des Vietnam-Krieges mit "Bomb Hanoi!"-Button, Männer mit Lockenwickler und junge Frauen mit Zigarren, kleine Jungs mit Spielzeughandgranaten, Schwertschluckerinnen (nicht, dass dies schon absonderlich genug wäre: Nein, die Schwertschluckerin ist auch noch eine Albino-Frau).

Arbus machte Aufnahmen in Leichenschauhäusern, psychiatrischen Anstalten und in Bordellen. Ihr vielleicht berühmtestes Bild, "die Ikone ihrer Selbstdefinition", zeigt ein eineiiges Zwillingspärchen aus Roselle, New Jersey. Wer je dieses Bild sah, wird es nicht vergessen. Zwei junge Mädchen, identisch gekleidet, stehen in ihren schwarzen Kleidern vor einer weißen Mauer und blicken in die Kamera. Bosworth schreibt darüber: "Auf den ersten Blick wirkt das Doppelporträt wie ein bloßer Schnappschuß [...] Aber die psychologischen Implikationen reichen sehr viel tiefer." Alles andere als ein Zufall also, dass Stanley Kubrick, der seine Karriere als Pressefotograf in New York begann, diese Aufnahme in seinem Film "Shining" zitierte.

Obwohl Diane Arbus 1967 mit ihrer Teilnahme an der bahnbrechenden Ausstellung "New Documents" im New Yorker MoMA der endgültige künstlerische Durchbruch gelang, wirkte sich dies nicht finanziell auf ihre Arbeit aus. Von ihrer Kunst konnte sie nicht leben. Um Geld zu verdienen, musste sie Fotoklassen unterrichten und war weiterhin auf Auftragsarbeiten für Zeitschriften angewiesen. Seit ihrer Kindheit litt sie unter Depressionen, die immer schlimmer wurden. Die Spätfolgen einer Hepatitis-Erkrankung kamen erschwerend hinzu. Sie fühlte sich einsam und isoliert, hoffnungslos, ausgebrannt. Sie begann, geistig behinderte Menschen zu fotografieren, und zum ersten Mal in ihrem Künstlerleben "entglitten" ihr die Modelle. Arbus, die davon lebte, eine einzigartige Verbindung zwischen ihr, der Fotografin, und den Fotografierten herzustellen, wurde plötzlich mit Desinteresse konfrontiert. Selbstzweifel, eine schwere künstlerische Schaffenskrise stellten sich ein. Patricia Bosworth berichtet über diese letzten Monate.

Während eines schwülen, anstrengenden Sommers in der Stadt schnitt sich Diane Arbus Ende Juli 1971 die Pulsadern auf. Sie hatte einst einem Bekannten erzählt: "Ich habe einmal geträumt, daß ich auf einem phantastischen Ozeandampfer war. Alles hell, golden und reich verziert - wie eine Hochzeitstorte. Die Luft war rauchig, und die Leute tranken und spielten. Ich wußte, daß das Schiff brannte und wir langsam sanken; sie wußten es auch, aber sie waren fröhlich, tanzten und sangen, wie im Delirium. Es gab keine Hoffnung. Ich war in unheimlicher Hochstimmung. Ich konnte alles photographieren, was ich nur wollte."

Patricia Bosworth, die Diane Arbus zwar persönlich, aber nicht näher kannte, hat für ihre Biografie hunderte von Zeitzeugen und Weggefährten befragt, doch weder Arbus' Ex-Ehemann Allan Arbus noch ihre beiden Töchter Doon und Amy, auch nicht ihr langjähriger Mentor Marvin Israel, wollten sich über Diane Arbus äußern. Von daher ist es eine Biografie "von außen" der gelungene Versuch, aus lauter und lauten New Yorker Stimmen ein Porträt einer außergewöhnlichen Künstlerin zu bauen. Eine (teils erzwungene) Arbeitsweise, die der direkten, frontalen, konfrontativen Fotografin Arbus vielleicht fremd vorkommen würde, was aber andererseits den Reiz dieser Biografie ausmacht. Bosworth nähert sich an, chronologisch berichtend, mit zahlreichen Zitaten, Figuren und Ereignissen samt Erläuterungen dazu, jedoch nie, ohne Arbus und ihre Kunst aus dem Blickwinkel zu verlieren. Eine Hauptquelle für Bosworths Arbeit war Diane Arbus' älterer Bruder Howard Nemerov, ein erfolgreicher Literaturdozent, Dichter und Pulitzer-Preisträger. In Vielem scheint er ein Gegenpol zu seiner Schwester gewesen zu sein: Während Diane Arbus' Kosmos New York City war, zog es ihn hinaus in die Provinz. Während seine Schwester beinahe manisch den Kontakt mit Freaks suchte, wollte er am liebsten seine Ruhe haben. Dadurch, dass Howard Nemerov, ein hierzulande unbekannter Lyriker, sehr viel zu dieser Biografie beigetragen hat, ist es auch seine Biografie geworden.

Was man in Bosworths Werk vermissen kann, ist der kritische Blick auf Diane Arbus' Kunst, auf die scheinbar leere Rückseite der Fotografie. Bosworth erwähnt zwar mehrmals die Kontroversen, die sich an Arbus' Arbeiten entzündeten: "Voyeurismus" versus "Empathie" beispielsweise. Doch sie löscht eher das Feuer, anstatt es zu entfachen. Susan Sontag, die selbst von Arbus 1965 für den "Esquire" porträtiert wurde und die im Buch in einer einzigen Fußnote Erwähnung findet, schrieb in ihrem die Fotografie Amerikas betrachtenden Essay "Amerika im düstern Spiegel der Fotografie" (zu finden im Sammelband "Über Fotografie", bei S. Fischer als Taschenbuch erhältlich) in erster Linie über Diane Arbus. Und Susan Sontag legt Finger in offene Wunden. Sie spricht von Arbus als einen "Sonderfall in der Geschichte der Fotografie." Arbus sei "an ethischem Journalismus nicht interessiert" gewesen. Sontag spricht von Naivität, von einer ahistorischen Einstellung.

Es verwundert, dass Patricia Bosworth (nicht nur) diesen komplexen, fulminanten Essay, der 1973 unter dem Eindruck der ersten Arbus-Retrospektive im MoMA entstanden ist, einfach ignoriert. Doch dies sind alte Debatten. Bosworths Biografie erschien bereits 1984, jetzt kommt die Hollywood-Verfilmung mit Nicole Kidman. Wir sind im 21. Jahrhundert. Für viele digitale Fotografen ist die Dunkelkammer ein Ort aus einem Märchen. "Schwarz & Weiß" ein Klick bei "Photoshop".

Wer sich mit Diane Arbus' Kunst beschäftigt, sollte Patricia Bosworths Biografie lesen. Doch darüber hinaus ist "Schwarz & Weiß" eine eigenständige literarische Arbeit, ein Künstlerporträt, das Friedrich Nietzsches oft zitierten Ausspruch aus "Jenseits von Gut und Böse" - "Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein" - zwar nicht neu interpretiert, aber neu schildert.


Titelbild

Patricia Bosworth: Schwarz & Weiß. Das Leben der Diane Arbus.
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Münder, Frank Thomas Mende, Dorothee Asendorf und Barbara Evers.
DuMont Buchverlag, Köln 2006.
439 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3832179933

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