Dingwelten und Seelenleben

Ein Lesebuch bietet Zugang zu Texten des russischen Priesters, Ingenieurs, Kunsthistorikers, Essayisten und Religionsphilosophen Pavel Florenski

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"In der lebendigen Vorstellung findet ein ununterbrochenes Strömen, Überfließen, findet Veränderung, Kampf statt; sie spielt unaufhörlich, sie sprüht, pulsiert, sie erstarrt in der inneren Betrachtung niemals als totes Schema eines Dings" - so äußerte sich Pawel Florenski über Probleme der Wahrnehmung in der russischen Ikonenmalerei in seiner Schrift "Die umgekehrte Perspektive" - und gewährt zugleich einen Einblick in seinen ureigensten Wahrnehmungskosmos. Bereits als Schüler hatte sich der wissbegierige Gymnasiast Geräte und Apparaturen zum Teil selbst gebastelt, um sich unmittelbare und experimentelle Zugänge zu beobachteten Objekten wie Pflanzen und Moosen, Rinden oder Steinen zu verschaffen. Noch als Sträfling gegen Ende seines Lebens auf den Solowki-Inseln hatte Pawel Florenski Gelegenheit gehabt, sich mit der Verwertung von Meeresalgen sowie dem möglichen Aufbau einer Jod- und Agarproduktion zu beschäftigen. Es gelang ihm dabei sogar noch im Lager, einige Patente aus diesem Schaffensbereich anzumelden.

Strukturmerkmale aus der empirischen Welt stellen für Florenski Botschaften aus einer transzendeten Seinsweise in gewandelter Form dar. Zu den Besonderheiten der Gedankenwelt von Pawel Florenski (1882-1937) gehört die gleichzeitige Verankerung in verschiedenen Denksystemen wie der empirischen Naturwissenschaft, der Kunstgeschichte, der Theologie sowie einer intensiven mystischen Schau. Neben Schriften zur orthodoxen Theologie und Philosophie hatte der 1911 zum Priester geweihte Pawel Florenski auch bedeutende Artikel und Lehrbücher zur Physik, Elektrotechnik, Mathematik und Astronomie verfasst. Nicht zu Unrecht haftete ihm der Ruf eines "Leonardo da Vinci des Ostens" an.

Die Verbindung von Naturwissenschaft und Theologie stellt bei Florenski keine Kippfigur einer bloßen rhetorischen Geste dar, sondern entspricht einem mit sinnlichem Leben erfüllten Wirklichkeitsverständnis. Hier liegt auch die tiefere Begründung dafür, dass Florenski immer wieder die rationalistische Philosophie Immanuel Kants als anämisch und wirklichkeitsfremd kritisiert hatte.

Die Zuwendung und Beschäftigung mit den Mysterien des Seins begreift Florenski als ganz konkrete Praxis, die ihre höchste Entfaltung in der Priesterschaft, im religiösen Kult findet. Der Kult bildet somit für Florenski kein bloßes kulturelles Anhängsel einer Zivilisation, sondern ist Ursache, Grund und differenziertester Ausdruck jeglichen menschlichen Seins überhaupt. Hier kommt wieder Florenskis fundamentale Kritik an der westlichen Renaissance zum Ausdruck, die in der wesensfremden Zerstückelung des Menschen jene unselige Entwicklung einleitete, welche zur Fäulnis, zum augenscheinlichen Zerfall von Mensch und Kultur geführt habe. Im Kult hingegen würden die Dinge zusammengeführt - Zeitlichkeit und Ewigkeit, Tod und Auferstehung, Existenz und Wert.

Pavel Alexandrovic Florenski wurde am 21. Januar 1882 in der Nähe von Jewlach im heutigen Azerbejdžan geboren. Seine Kindheit war vom kulturellen Interesse seiner Familie geprägt - die für ihn später so bedeutungsvolle Religiösität hatte im Elternhaus allerdings keine Rolle gespielt. Am 26. Februar 1933 wurde er von der GPU verhaftet und zuerst nach Sibirien, später in ein Lager auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer verbracht. Am 8. Dezember 1937 wurde Pawel Florenski wegen "konterrevolutionärer Tätigkeit" erschossen. In den 50er Jahren erfolgte Florenskis Rehabilitation. Eine offizielle Sterbeurkunde erhielten seine Nachkommen in Moskau in den Jahren der Gorbatschow'schen "Perestroika": Das Dokument ist mit dem Datum vom 24. November 1989 versehen.

Fritz und Sieglinde Mierau stellen zu so verschiedenen Stichworten wie "Natur", "Symbol", "Erfahrung", "Kult und Kultur" oder "Denken" in zwölf Abschnitten Texte und Textausschnitte aus dem umfangreichen Schrifttum Pawel Florenskis zusammen. Daß den beiden Herausgebern gleichzeitig eine subtile Komposition dessen Gedankenwelt gelungen ist, belegt deren langjährige Beschäftigung mit diesem russischen Denker. Fritz und Sieglinde Mierau haben sich neben der Übersetzung von Florenskis Texten auch in der Herausgabe und Begleitung seiner Bücher, sowie nicht zuletzt im Engagement für die Edition der Gesamtausgabe von Florenskis Werken in der Berliner editionKONTEXT einen Namen gemacht. Die vorliegende Textsammlung bietet eine vorzügliche Gelegenheit, einem ungewöhnlichen Denker zu begegnen.


Titelbild

Pawel Florenski: Konkrete Metaphysik. Ausgewählte Texte.
Übersetzt aus dem Russischen von Fritz Mierau.
Pforte Verlag, Dornach 2006.
299 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-10: 3856361677

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