Fleisch auf die Knochen!

Ein von Sabine Lucia Müller und Sabine Schülting herausgegebener Sammelband bereitet der Zukunft der Gender Studies in den Kultur- und Literaturwissenschaften den Weg

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Zeit, in der sich die Entwicklung "alternativer Geschlechterszenarien" abzeichnet und sich "das Denken" über die Kategorie Geschlecht grundlegend ändert, ist eine "wissenschaftskritische Revision" der Theorien und Methoden der Geschlechterforschung "dringend geboten". Dieser Auffassung sind zumindest Lucia Müller und Sabine Schülting und stellen die Frage in den Raum, ob die Gender Studies derzeit darum keine rechte "Konjunktur" mehr haben, weil sie den "Anschluss" sowohl an die Naturwissenschaften als auch an die Populärkultur verloren haben, da ihr theoretisches und methodisches "Gerüst" deren Erfordernissen nur noch "bedingt" entspreche.

Wie sie weiter monieren, werden in den meisten Publikationen zum Stand des Feminismus und der Gender Studies theoretische Positionen "eher festgeschrieben und reproduziert" als weiterentwickelt. Im Wintersemester 2003/04 wurde an der freien Universität Berlin im Rahmen der Ringvorlesung "Studies that Matter?" hingegen über die "Zukunft von Feminismus und Gender Studies in den Kultur- und Literaturwissenschaften" diskutiert und mögliche Wege aus deren Konjunkturflaute aufgezeigt. Müller und Schülting haben die Vorträge nun in einem Sammelband mit dem Titel "Geschlechter-Revisionen" herausgegeben.

Der Band gliedert sich in drei Teile. Die Autorinnen des ersten widmen sich dem "widersprüchlichen und konfliktreichen Verhältnis" von Feminismus, Postfeminismus und Gender Studies und treten einer sich abzeichnenden "'Normierung' beziehungsweise 'Naturalisierung'" theoretischer Prämissen entgegen. Getragen von einem "gewisse[n] 'Unbehagen'" hinsichtlich der theoretischen Prämissen, der methodischen Verfahren und der Begrifflichkeiten der Gender Studies, entwerfen die Aufsätze des zweiten Teils "Perspektiven für die Neuordnung der Geschlechter(forschung)". Der abschließende Teil beleuchtet "(Re-)Visionen der Kategorie Geschlecht" in den Naturwissenschaften und der Medizin sowie in der Robotertechnologie und der Science Fiction vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatten um "das (Post-)Humane".

Zuvor widmet sich Sabine Schülting "Problemen und Perspektiven der kulturhistorischen Gender Studies" und macht die These plausibel, dass die Geschlechterdebatten der Frühen Neuzeit bestimmte Inhalte der poststrukturalistischen Gender Studies des ausgehenden 20. Jahrhunderts vorweg nahmen. Allerdings, so betont sie, lassen sich "frühneuzeitliche Geschlechtermodelle" nicht vollständig "in unser heutiges Denken übersetzen". Vielmehr bleibt ein nicht zur "Deckung" zu bringender Rest, so dass die heutige Lektüre frühneuzeitlicher Schriften notwendigerweise "Übersetzung, [...] Umschrift, Refiguration oder Revision" ist.

Weitere Beiträge beleuchten Virginia Woolfs Roman "The Hours" (Elfi Bettinger), erörtern die Codierung von Geschlecht im Medium Film (Tanja Nusser) oder wenden sich der 'Digitalen Szene' des Postmodernen zu. Jeffrey Wallen interessiert sich für "sociable robots" und Walter Erhard geht dem "neue[n] Unbehagen der Gender Studies" nach. Dies führt ihn zu der These, dass sich die kulturelle Konstruktion der Geschlechterdifferenz erst auf der Grundlage der "Hypothese einer prinzipiellen Gleichheit der Geschlechter" als "eine produktive und nützliche, vielleicht sogar notwendige Fiktion" erweise. Dies umso mehr, als ihre gesellschaftliche Macht- und Disziplinierungsfunktion langsam schwinde und ihre anthropologischen Grundlagen "höchst unsicher" geworden seien. Daher plädiert er dafür, sich nicht nur auf die "Ränder" der Gender Studies zu konzentrieren, sondern ebenso auf deren Zentrum, das er in der "kulturell verbreiteten Form der heterosexuellen Matrix", den "Beziehungen zwischen den zwei Geschlechtern" sowie in "Weiblichkeit und Männlichkeit als den zwei dominanten und womöglich nützlichen Fiktionen von Geschlecht" ausmacht.

Auch Renate Hof fordert einen neuen Fokus der Gender Studies. Wie die renommierte Gender-Theoretikerin argumentiert, sollte die - wenn man so will - interdisziplinäre Disziplin ihre Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die "'Unnatürlichkeit' bestimmter Geschlechterarrangements" richten und "Geschlechtervielfalt oder auch die Vielfalt von Differenzen" nicht als "Heilmittel zur Befreiung von Normzwängen oder zur Beseitigung bestehender Machtverhältnisse" ansehen, sondern vielmehr der Frage nachgehen, "wie Differenzen legitimiert werden". Denn "Machtstrukturen" seien zwar immer wieder mit Hilfe von binären Oppositionen gerechtfertigt worden, die "Ursache der bestehenden Machtverhältnisse" seien sie jedoch nicht. Das ist zweifellos zutreffend. Und abgesehen davon, dass in den Gender Studies kaum von "Unnatürlichkeit" die Rede, sondern in aller Regel an Nicht-Natürlichkeit gedacht ist, ist auch Hofs an die Gender Studies gerichtetes Ansinnen so unberechtigt nicht. Zumal bestimmte der vielfältigen Geschlechter(-verhältnisse) selbst repressive Strukturen aufweisen bzw. hervorrufen können. Eine notwendige Möglichkeitsbedingung der Negierung von Geschlechterhierarchien bleibt dennoch die Möglichkeit vielfältiger Differenzen. In einem weiteren Argumentationsstrang vertritt Hof mit Charles Shepherdson die Auffassung, dass "die Möglichkeiten der Konstruktion nicht per se als eine Art Befreiung zu verstehen" sind. Um die "bestehende soziale Ausgestaltung der Geschlechterdifferenz" zurückweisen zu können, sei es nicht notwendig, die "'Unnatürlichkeit' von Heterosexualität" herauszustellen oder zu betonen, "dass hinter dem sozialen Geschlecht kein biologisches existiert". Eine solche Argumentation sei sogar von Nachteil, weil sie verhindere, dass Materialität "außerhalb der bekannten Natur-Kultur-Opposition" gedacht werde oder die "Frage nach einer Naturbasis von Gesellschaft" gestellt werden könne.

Weder Erhard noch Hof dürften mit den Überlegungen von Franziska Rauchut so ganz einverstanden sein, gilt ihr Interesse doch gerade den 'Rändern'. In ihrem Beitrag "Wie queer ist queer?" stellt sie einige - im übrigen sehr kluge - Überlegungen zu den "Folgen der Fixierung eines notwendig unbestimmten Begriffs" an. Durch seinen Import in den deutschen Sprachraum habe der angloamerikanische Begriff queer nicht nur eine neue Konnotation erhalten, sondern laufe zudem Gefahr, "seine politische Schlagkraft und Provokation zu verlieren". Insbesondere kritisiert Rauchut die in der deutschen Queer Theory nicht unüblichen Wortspiele mit queer und quer. "Was vermutlich logisch und lustig klingen soll(te)", so moniert sie, entpuppe sich als "Negierung von kulturellen Differenzen" und als "Preisgabe von politischer Schlagkraft".

Zu den instruktivsten Beiträgen des Bands zählt derjenige Ina Schaberts. Die langjährige Sprecherin des in den 1990 Jahren an der Ludwig-Maximilians-Universität ansässigen Graduiertenkollegs "Geschlechterdifferenz und Literatur" charakterisiert die Gender Studies als "Wissenschaft der zwei Geschwindigkeiten". Anders als andere BeiträgerInnen fordert sie gerade nicht dazu auf, sich auf die Suche nach neuen Paradigmen oder Ansätzen zu begeben. Vielmehr beklagt sie, dass die Gender-Theorie (in) der Literaturwissenschaft zu einem "Skelett der Abstraktionen" abgemagert sei, dem weitgehend das "'Fleisch' der textuellen Konkretisierungen" fehle. Daher sei ein "theoretisches Atemholen" im immer schnellere Runden drehenden "race for theory" an der Zeit. Nicht neue Theorien seien das "Desiderat des Augenblicks" sondern "theorieinduzierte Textuntersuchungen".

Da die Entdeckung, Erschließung und korrelationierenden Deutung von Literatur mit dem "theoretischen Wettrennen" der Modellbildung schon seit geraumer Zeit nicht mehr Schritt halten könne, sei es kein Schaden, wenn die Theoriebildung in den literaturwissenschaftlichen Gender Studies etwas innehalte und sich die gendertheoretisch geschulten WissenschaftlerInnen wieder verstärkt der "theoriegeleiteten Lektüre der Primärtexte" zuwenden würden. Wohl wahr!


Titelbild

Sabine L. Müller / Sabine Schülting (Hg.): Geschlechter Revisionen. Zur Zukunft von Feminismus und Gender Studies in den Kultur- und Literaturwissenschaften.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus 2006.
269 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3897412063

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch