Kampfhandlungen des Lebens

Über die Neuausgabe von Karl-Heinz Otts "Ins Offene"

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das von der Zeit zerfressene Wirkliche läßt sich nicht, läßt sich jeden Tag anders, läßt sich von jedem immerzu anders erzählen. Jeder Blick ist ungerecht, weil er, um sich zu orientieren, Unendliches aussparen muß. Das Gedächtnis weiß nicht, ob es das Gewesene bewahrt oder erschafft, ob es sich erinnert oder das Zurückliegende mit nachträglichen Vorstellungen übermalt," notiert der Ich-Erzähler am Ende in Karl-Heinz Otts autobiografisch grundiertem Roman "Ins Offene", vor acht Jahren erstmals im Salzburger Residenz Verlag erschienen. Nun liegt das Erzähldebüt des damals 40-jährigen Autors in einer unveränderten Neuausgabe in Otts neuem Verlag Hoffmann und Campe vor, nachdem sowohl die Hardcover-Ausgabe auch als die Suhrkamp-Taschenbuch-Ausgabe seit längerem vergriffen waren.

Bis Otts namenloser Ich-Erzähler vom anfänglichen "dumpf schreienden, tobsüchtigen Gefühl" diesen Zustand einer distanzierten Gelassenheit erreicht hat, erinnert er zahllose große und kleine Schmerzen seiner Kindheit und Jugend.

Herausgekommen ist dabei ein ebenso eindringlicher wie poetischer Text des 1957 in der Nähe von Ulm geborenen Autors. Auf den fulminanten Erstling, der unter anderem mit dem Förderpreis zum Hölderlin-Preis und dem Thaddäus-Troll-Preis ausgezeichnet wurde, folgte erst 2005 mit "Endlich Stille" Otts zweiter Roman. Dem vor allem ob seiner Sprachkraft gerühmten Mutter-Sohn-Schuldroman steht "Endlich Stille" - unter anderem mit dem Alemannischen Literaturpreis, dem Preis der LiteraTour Nord sowie dem Candide-Preis ausgezeichnet - als Geschichte einer "trotzigen Unterwerfung" in Nichts nach.

Karl-Heinz Otts literarische Trauerarbeit "Ins Offene" setzt ein mit der Mitteilung eines "Assistenzarztes nachts am Telefon", die Mutter des Erzählers, "habe nur noch wenige Wochen zu leben." Das lähmende Entsetzen, den Schrecken, der vom Sohn Besitz ergreift, versucht dieser alsbald in einen "Auftakt einer neuen Zeitzählung" zu verwandeln: "Das Bisherige darf nach ihrem Tod nicht meine gesamte Erinnerung überschatten."

Die Hassliebe, die den vaterlos in der oberschwäbischen Provinz aufgewachsenen unehelichen Sohn an seine Mutter bindet, die "Kampfhandlungen, die unser Leben" bestimmen und "das wir gegeneinander führen", sollen in eine "Friedenszeit münden, die nichts vom Gewesenen beschönigt." Doch gerade angesichts des nahenden Todes seiner Mutter verlebendigen sich die Erinnerungen des Erzählers an die "mißlingende Distanz". Immer wieder erinnert der Erzähler Szenen einer gescheiterten Bindung: "Zwischen Streit und Schweigen können unsere miteinander verklebten Seelen kein Maß, keine Ruhe, keinen Ausgleich finden."

Die Erinnerungen des Ich-Erzählers sind zwangsläufig auch an die Orte der dörflichen Umgebung seiner Kindheit und Jugend gekoppelt. Es ist eine Welt der Heiligenlegenden, der Marienwallfahrten und eines rigiden dörflichen Moralkodex. Die Erinnerung setzt, ähnlich wie bei Arnold Stadlers Texten, nicht nur die Kehrseiten dieser Enge ins Bild, sondern zugleich auch kritische Reflexionen über das Verschwinden dieser Welt in Gang: "Die Dörfer dümpeln längst als Trabanten der städtischen Industrie- und Bürobetriebe leblos vor sich hin, den Ortskern beleuchtet die Neonreklame des Getränkemarkts, zerfetzte Veranstaltungsplakate verdecken seit Jahren die Schaufenster einstiger Lebensmittelgeschäfte, und die nur noch an den kirchlichen Vierfesten gut besuchten Kirchen stehen wie Relikte aus alten Tagen in der einstigen Dorfmitte."

Erst mit Hilfe der sterbenden Mutter kann sich der Erzähler aus seinem 'double bind' zwischen "Erlösungshoffnung" und "Schuldgefühlen" befreien. Denn noch auf dem Totenbett versperrt die Mutter dem Sohn den Aus- und Umweg in eine (selbst-)erpresste Versöhnung: 'Es war alles gut so, wie es war', sage ich ihr, in der Hoffnung, sie mit diesen Worten in Frieden gehen zu lassen. Da öffnet sie die Augen, reckt sich noch einmal empor und sagt mit unverhoffter Energie und lachenden Augen: "'Mach dir nichts vor, ich war auch ein altes Lästermaul.'"

Diese mütterliche Verweigerung einer "voreiligen, aus der Not geborenen Versöhnung" erlaubt dem Erzähler jene "seltsame Gefaßtheit", die seine literarische Trauerarbeit ins Positive wendet: "Diesen Gedanken", schließt Ott seinen an Hölderlin gemahnenden Roman "Ins Offene" mit einer positiven, hoffnungsfrohen Wendung ab, "mögen solche folgen, die all das anders und anderes sehen."


Titelbild

Karl-Heinz Ott: Ins Offene. Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006.
143 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-10: 345540006X

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