Endlich stehlen wie die Deutschen

Nicholas Stargardt analysiert die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen im Zweiten Weltkrieg und der unmittelbaren Nachkriegszeit

Von Armin NolzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Nolzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich will stehlen, ich will rauben, ich will essen, ich will ein Deutscher sein", so schrie ein achtjähriger jüdischer Junge, der ins Warschauer Ghetto eingepfercht lebte, im Mai 1940 seine ganze Verzweiflung aus sich heraus. Wut, Hunger und Ohnmacht über die deutsche Besatzung ballten sich in diesen Sätzen, die gleichzeitig auch die wesentlichen Ingredienzen der NS-Okkupationspolitik in Polen widerspiegeln.

Stehlen, Rauben und Essen, darauf lässt sich diese Politik reduzieren, die zwischen September 1939 und Januar 1945 auf die systematische Vernichtung der Juden und großer Teile der polnischen Intelligenz abzielte. Insgesamt ermordete das NS-Regime mehr als eineinhalb Millionen jüdische Kinder, nur wenige Zehntausend überlebten den Holocaust. Viele mussten die Vernichtung ihrer Eltern und Geschwister mit eigenen Augen ansehen. Sie froren, hungerten, bekamen täglich die Abstumpfung der Erwachsenen zu spüren und waren auf ihre nackte Existenz zurückgeworfen.

Wenn jüdische Kinder den Krieg überhaupt überlebten, war ihr weiterer Lebensweg oftmals von massiven Persönlichkeitsstörungen gekennzeichnet. Der Psychoanalytiker Hans Keilson, der nach dem Zweiten Weltkrieg 200 jüdische Kriegswaisen in den Niederlanden betreute, sah dies als unmittelbare Folge eines Prozesses an, den er als massive kumulative oder auch sequenzielle Traumatisierung bezeichnete.

Nicholas Stargardts Untersuchung, deren englisches Original den Titel "Witnesses of War. Children's Lives under the Nazis" trägt, befasst sich - allgemein gesprochen - mit den vielfältigen Folgen, die der Zweite Weltkrieg für das Alltagsleben von Heranwachsenden hatte. Auf der Basis autobiografischer Zeugnisse, darunter Tagebücher, Schulaufsätze, Memoiren und Nachkriegsaussagen, behandelt der an der Universität Oxford lehrende Autor die Lebensbedingungen der als "reinrassig" geltenden deutschen, der polnischen beziehungsweise der aus dem Deutschen Reich, Österreich, der Tschechoslowakei oder Polen stammenden jüdischen Kinder. Die Mehrzahl seiner Beispiele betrifft allerdings die Alterskohorte von 12 bis 18 Jahren. Geht man von einer Definition aus, die den Prozess der Kindheit mit dem Beginn der Geschlechtsreife enden lässt, so handelt es sich hierbei im eigentlichen Sinne des Wortes um Jugendliche. Die vorliegende Studie stellt demnach keine übergreifende Synthese zur Geschichte der Kriegskindheit dar, wie Buchtitel, Verlagsankündigung und Klappentext suggerieren. Vielmehr nimmt der Autor die Kriegs- und Nachkriegserfahrungen von Kindern und Jugendlichen in seinen Blick.

Schauplätze der Analyse sind die Heil- und Pflegeanstalten, in denen das NS-Regime im Rahmen der Euthanasie-Aktion 5000 behinderte Kinder ermorden ließ, Arbeitserziehungs- und Jugendschutzlager, in denen so genannte asoziale Jugendliche eingepfercht wurden, die Großstädte des Deutschen Reiches, die seit 1941/42 unter den alliierten Luftangriffen litten, die Lager der Erweiterten Kinderlandverschickung (KLV), in die von 1940 bis 1945 insgesamt 800.000 deutsche Mädchen und Jungen evakuiert wurden, polnische Klein- und Mittelstädte sowie die Ghettos im okkupierten Polen, Litauen, Weißrussland und der Tschechoslowakei. Die einfühlsame Schilderung der unmenschlichen Lebensbedingungen jüdischer Kinder in Warschau, Lodz, Minsk und in Theresienstadt bildet zweifelsohne den Höhepunkt des Buches. Stargardt zeichnet nach, wie ihre individuellen Entwicklungsmöglichkeiten immer weiter eingeschränkt wurden und wie sie in ihren Spielen "Haussuchungen", "Bunker sprengen" und "den Toten die Kleider rauben" die deutschen Besatzer imitierten und bisweilen auch persiflierten. Der Autor zeigt, wie sie Lebensmittel schmuggelten und sich in Weißrussland den einheimischen Partisanenverbänden anschlossen. Detailliert schildert er, wie jüdische Kinder ihre visuellen Eindrücke in Zeichnungen und Bildern verarbeiteten und in Theresienstadt unter Rückgriff auf die deutsche Reformpädagogik und zionistische Ideale versuchten, ihren Hunger nach Bildung zu stillen. Das unerträgliche Leid dieser Kinder in Worte gefasst zu haben, ist ein unschätzbares Verdienst der vorliegenden Studie.

Demgegenüber wuchsen deutsche Kinder und Jugendliche, wenn sie nicht behindert waren oder gegen die Verhaltensvorschriften des NS-Regimes verstießen, vergleichsweise sorgenfrei auf. Ein Dreijähriger, der zwischen einem Messinglöffel aus geplündertem jüdischen Besitz und einem "Deutschlandlöffel" aus Aluminium zu unterscheiden wusste, aß seine Suppe erst, wenn er sein deutsches Besteck bekam. Andere "arische" Kinder und Jugendliche hatten Kindermädchen aus der Ukraine. Im Unterschied zum Ersten Weltkrieg, in dem viele Kinder an Tuberkulose starben, war deren Gesundheitsversorgung außerordentlich gut. Hungern mussten deutsche Kinder nicht, weil die Wehrmacht alle nur erdenklichen Nahrungsmittel aus den besetzten Gebieten herauspresste. Erst mit der Eskalation des alliierten Luftkrieges gegen das Deutsche Reich sank der Lebensstandard langsam ab, und Kinder und Jugendliche sahen sich vielfältigen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt. Jedoch garantierte die KLV ein Mindestmaß an Schutz, indem Kinder und Jugendliche aus luftkriegsgefährdeten Gebieten aufs Land evakuiert wurden. In den letzten Kriegsmonaten wurden männliche Jugendliche im Alter von 15 bis 16 Jahren unter teils massiven Verlusten zur Wehrmacht, dem "Deutschen Volkssturm" und den "Werwolf"-Formationen zum Kampfeinsatz herangezogen. Sie fungierten als letztes Aufgebot eines verbrecherischen Regimes, und viele taten begeistert ihre Pflicht für "Volk und Vaterland".

Stargardts Buch hat den nicht zu unterschätzenden Vorzug, die Kriegsschicksale verschiedener Gruppen von Kindern und Jugendlichen gleichrangig zu beleuchten. In dieser umfassenden Herangehensweise an das Thema zeigt sich zugleich jedoch ein gravierender Nachteil. Auf der einen Seite betont Stargardt zu Recht, dass Kinder und Jugendliche äußerst unterschiedliche Verlusterfahrungen gemacht hätten und ihr Leid nicht umstandslos über einen Kamm geschoren werden dürfe. Auf der anderen Seite entsteht durch seine Darstellung, die wenig systematisch zwischen den genannten Gruppen und den Schauplätzen ihres Aufwachsens hin und her springt, eher der gegenteilige Eindruck. Der Autor entwickelt kein geeignetes Kategorienraster, mit dessen Hilfe das Alltagsleben von Kindern und Jugendlichen während des Zweiten Weltkrieges vergleichend analysiert werden könnte. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass er dem Leser keine Schlussbetrachtung gönnt, in der er seine Ergebnisse auf den Punkt bringt. Dass es der Verlag nicht für nötig befunden hat, dem Buch ein Quellen- und ein Abkürzungsverzeichnis beizugeben, erleichtert dessen Benutzbarkeit nicht.

Ferner steht der deutsche Titel "Maikäfer flieg!", ein Kinderlied aus dem Dreißigjährigen Krieg, das Clemens von Brentano und Achim von Arnim in ihre 1805 bis 1808 publizierte Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" aufnahmen, in keinem Zusammenhang zum Inhalt des Buches. Stargardt hat eine beeindruckende, zudem exzellent geschriebene Studie über die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen im Zweiten Weltkrieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit vorgelegt. Eine Gesamtdarstellung kindlichen Alltagslebens im NS-Staat, konzipiert als Generationengeschichte der Kriegskinder, steht jedoch noch immer aus.


Titelbild

Nicholas Stargardt: "Maikäfer flieg!". Hitlers Krieg und die Kinder.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
581 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3421059055

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