Auf Spurensuche im Theaterdschungel

Ein von Erika Fischer-Lichte und anderen herausgegebener Sammelband untersucht neue Strategien von Authentizität, Einfühlung und Aufmerksamkeitslenkung im zeitgenössischen Theater

Von Corinna PapeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Corinna Pape

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn es um die Beschreibung eines Theatererlebnisses geht, hat der Begriff der Authentizität seit einiger Zeit Konjunktur. Dennoch besteht gerade in der theaterwissenschaftlichen Diskussion wenig Klarheit darüber, welche Kriterien zu einer ,authentischen' Darstellung beitragen. Was sind ,echte' Menschen auf der Bühne? Und sind Schauspieler professionelle Selbstdarsteller? In einem Gespräch mit Dramaturgen, Wissenschaftlern und Künstlern gegenwärtiger Theaterexperimente suchen Erika Fischer-Lichte, Barbara Gronau, Sabine Schouten und Christel Weiler im ersten Teil ihres Sammelbandes "Wege der Wahrnehmung" nach Antworten.

Stets wird verständnisvoll genickt, meint Daniel Wetzel vom Theaterkollektiv Rimini Protokoll, wenn jemand versucht, die Darstellung der Alltagsexperten, der nicht-professionellen Schauspieler, die zum Beispiel in den Theaterprojekten von SheShePop, Lubricat, X Wohnungen oder Stefan Kaegi von ihrem Berufsalltag berichten, mit diesem "Authentizi-Dings-Begriff" zu beschreiben. Dass dieses, Spiel von Laien' (Sandra Umathum) allerdings wenig mit Echtheit zu tun hat, sondern auf dem stets inhärenten Zweifel "Ist das echt?" beruht (Schouten), der das Faktum jeder Theaterrezeption ist, wird in Anbetracht der Unmöglichkeit einer Inszenierung von Authentizität schnell klar.

Eine Antwort auf die Frage, ob es in den Theaterprojekten mit Alltagsexperten, mit "Spezialisten in eigener Sache", wie sie Miriam Dreysse einmal beschrieben hat, dagegen um Authentizitätseffekte (Annemarie Matzke) geht oder vielmehr die bewusste Inszenierung von Authentizität Verunsicherungseffekte beim Publikum auslösen soll (Umathum), kann im Rahmen der Diskussion nicht gefunden werden. Sie offenbart sich jedoch zumindest im Hinblick auf jene Theaterprojekte, die das Gespräch episodenartig andeutet: Hier kann sich der Zuschauer längst nicht mehr sicher sein, ob etwas als authentisch Erscheinendes auch tatsächlich authentisch ist. Damit würde eine reine Bestimmung von Authentizitätseffekten durch den Zuschauer, der nach Graden und "Effekten" bewerten soll, wie sich die Alltagsexperten ein authentisch wirkendes Image für ihre Performance aufbauen, vermutlich zu kurz greifen. Denn gerade im Theater, so stellt Sandra Umathum fest, "ist das Scheitern ja häufig auch schon inszeniert".

Fraglos geht es hier nicht nur um Strategien der Realitätskonstruktion, sondern auch um die Suche nach einer anderen Form des Schauspiels, die sich in den anschließenden Texten fortsetzt und die nun nach einem einführenden Gespräch, welches oft bei Phänomenbeschreibungen haltmachte, noch vertieft wird. Neben Annemarie Matzke, die "von echten Menschen und wahren Performern" und sogleich von einer "Veränderung des Schauspielbegriffs" spricht und Sabine Schouten, die den Begriff der 'Einfühlung' für die Wahrnehmung des Gegenwartstheaters fruchtbar machen möchte, untersuchen die beiden weiteren Texte ein umfangreiches Spektrum von Phänomenen. Sie betrachten das Repertoire des Authentischen diskursiv, ohne es dabei jedoch einzugrenzen: Jens Roselt untersucht exemplarisch, wie das wahre Leben im ästhetischen Raum verortet wird, und Christel Weiler verweist darauf, dass wir das Authentische heute nicht mehr in den Selbstverwirklichungsprozessen eines Subjekts suchen, sondern "in einem Bereich [...] des zufällig Entstehenden". Möchte man dem Buch an dieser Stelle die ernstliche Kritik entgegenstellen, dass der Terminus Authentizität dadurch für ein viel breiteres Spektrum von Phänomenen von Belang sei als allein für das zeitgenössische Theater, gerät diese sogleich zu einem Kompliment, da Weiler den Bogen gekonnt zurück verfolgt und schreibt: "Wenn außerhalb des Theaters schon alles inszeniert erscheint, dann muss sich das Theater notwendigerweise fragen, wie es das gesellschaftlich Inszenierte durch seine ihm eigenen Mittel kritisch hinterfragen und vielleicht sogar wirkungslos machen kann."

Gelungen scheint damit die Überleitung zur Diskussionsrunde über Reflexivität mit dem Schauspieler Ulrich Matthes und dem Videokünstler Jan Speckenbach. Selbst- und Fremdwahrnehmung funktionieren laut Matthes überraschenderweise nicht über die "gewissen Bilder im Kopf" (Fischer-Lichte), sondern durch die Herstellung von Bezügen zwischen Figuren, Situationen und Szenen. Analog dazu beschreibt Speckenbach seine Aufgabe mit Rekurs auf die Arbeit bei Frank Castorf als ein Ausloten des Verhältnisses zwischen Aufmerksamkeit und Interaktion. Weder reichen jedoch die behutsamen Gedankengänge des Gesprächs an das Forschungsfeld heran, welches sich hier in Form eines (inter-)medialen Theaters eröffnet, noch widmet sich die lediglich aus zwei Beiträgen bestehende Sektion "Reflexivität" der durchaus spannenden Frage nach einer grundsätzlich veränderten Situation von Sehen und Gesehenwerden, die ein solches Theater doch offensichtlich mit sich bringt.

Matthias Warstat spürt in seinem Text dem Phänomen der Nervosität nach, das die Kehrseite des Gesehenwerdens beleuchtet, und durch ein Gefühl des den Blicken der anderen Ausgesetztseins hervorgerufen wird. Clemens Risi reflektiert gekonnt die wechselseitige Zurückweisung am Beispiel der Oper und der Erotik der Sängerstimme und erschließt damit ein für die Theaterwissenschaft ebenso unbekanntes wie bedeutendes Kapitel. Nicht wahllos aneinander gereiht, sondern aufeinander Bezug nehmend sind diese Beiträge - was gerade im Hinblick auf die Publikation als Sammelband positiv hervorzuheben ist. Man kann sich also tatsächlich vorstellen, dass ein an der kulturellen Avantgarde unserer Zeit interessierter, aber keinesfalls wissenschaftlich motivierter Leser dieses Buch mit Freude studiert.

Dass stets Schnittstellen zwischen den drei Aspekten Authentizität, Reflexivität und schließlich auch Aufmerksamkeit erkennbar sind, trägt ebenso wohltuend zum "aufgeräumten" Charakter dieses Sammelbands bei. Doch so klar und markant die Einzelbeiträge ihren jeweiligen thematischen Schwerpunkt auch ausgearbeitet haben, so sehr neigt das Buch gerade aufgrund seiner Aufteilung dazu, scharfe Kontraste innerhalb der Abschnitte unter einem Terminus vereinen zu wollen und diese Unterschiede damit herunterzuspielen oder zu verbergen.

Besonders deutlich zeigt sich dies am Beispiel der vor dem Hintergrund zahlreicher "Erfahrungsberichte" unaufgelösten Frage nach den tatsächlichen Wirkungsweisen von Authentizität, die selbst in Zeiten postmodern-pluralistischer Denkkreisen doch nicht völlig in unterschiedliche Richtungen streben sollten, oder in dem deutlich zu kurz besprochenen Verhältnis zwischen Zuschauer, Videotechnik und Schauspieler.

Dem dritten und letzten Teil - und dies ist charakteristisch für den jeweils letzten Text der beiden ersten Abschnitte - gelingt es dennoch wieder, den Bogen zu spannen und dabei tatsächlich den Faden nicht zu verlieren: Aufmerksamkeit als "neue Währung" der Mediengesellschaft bedeute Wahrnehmungsmacht, so Fischer-Lichte. Und gerade die Theatergeschichte hat sich dieser als einer Kulturtechnik stets angenommen, so dass sie auch als eine Geschichte der Inszenierung von Aufmerksamkeit gelesen werden könne. Im Mittelpunkt des Gesprächs über verschiedene Praktiken der theatralen Lenkung von Aufmerksamkeit mit dem Klangkünstler Hans-Peter Kuhn und dem Theaterregisseur von Lose Combo Jörg Laue stehen vor allem künstlerische Mittel, die beim Publikum der gegenwärtigen Theaterprojekte ein in dem Maße nie da gewesenes Gefühl der Entscheidungsfreiheit fördern.

Dies fordert dem Zuschauer heute andere Haltungen und Handlungen ab als die des Nachvollzugs einer Narration. Vorsichtig deutet Fischer-Lichte diese Vorgänge als "Oszillation zwischen einer Ordnung der Präsenz und einer der Repräsentation", widmet sich Christa Brüstle Aufmerksamkeitseffekten zeitgenössischer Klanginstallationen und folgt Nina Tecklenburgs Analyse souverän dem Gefühl des Ekels, mit dem in Inszenierungen gespielt wird. Gerade Tecklenburgs Text verweist dabei auf den stark reflexiven Charakter von Aufmerksamkeit und steht exemplarisch für die zahlreichen hervorragenden Passagen dieses Buchs, innerhalb derer nicht nur die Vielfalt von Wahrnehmungen im Gegenwartstheater thematisiert wird, sondern diese auch wirklich spezifiziert werden.

Der Anspruch der Herausgeberinnen, "unterschiedlichen Wegen der Wahrnehmung zu folgen", wurde damit mehr als erfüllt. Und in Anbetracht dieser wertvollen Erfahrungsberichte und Einzelanalysen zeitgenössischer Theaterarbeiten wird auch die differenzierende Wahrnehmung des Lesers geschult, der nun vor einer sicherlich von der Zuschauerposition verschiedenen und doch vergleichbaren Situation steht: dem Moment der Entscheidungsfreiheit, die das Theoriedickicht dieses Sammelbands zulässt.


Titelbild

Erika Fischer-Lichte / Barbara Gronau / Sabine Schouten / Christel Weiler (Hg.): Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater.
Theater der Zeit, Berlin 2006.
176 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 393434464X

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