Fromme Schreibkultur

Ulrike Gleixner untersucht die pietistische Traditionsbildung im württembergischen Bürgertum

Von Ruth AlbrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ruth Albrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die pietistische Bewegung bildete in Württemberg vom späten 17. bis zum 19. Jahrhundert ein entscheidendes Element zur Herausbildung einer bürgerlichen Elite, die sich durch einen gemeinschaftlichen Habitus auszeichnete. In keiner anderen Region Deutschlands konnte sich der Pietismus so flächendeckend und langfristig ausbreiten wie in den lutherischen Gebieten dieses Herzogtums. Neben den Pfarrern trugen vor allem Familien der höheren Beamtenschaft, Akademiker, Juristen und Mediziner sowie Lehrer und Apotheker zur breiten Akzeptanz der pietistischen Reformen bei.

Obwohl es auch in Württemberg separatistische Tendenzen innerhalb des Pietismus gab, gelang hier in sehr viel stärkerem Ausmaß als in anderen Landeskirchen die Integration der pietistischen Anliegen in die amtlichen Kirchenstrukturen. Der aus dem pietistischen Glaubensverständnis abgeleitete Anspruch, sich von der umgebenden Welt möglichst zu distanzieren, ließ sich gleichwohl aufgrund dieser besonderen Konstellationen mit dem Aufstieg in bedeutende öffentliche Ämter verbinden. Die Stabilität des württembergischen Pietismus beruht unter anderem auf einigen Familienclans, deren Genealogie sich über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg verfolgen lässt.

In ihrer Studie "Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit" dokumentiert die Berliner Historikerin Ulrike Gleixner diese familiengeschichtlichen Zusammenhänge höchst anschaulich, indem sie beispielhafte Familiengeschichten in zum Teil fünf Generationenabfolgen rekonstruiert. Die geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen lassen die Mechanismen des Traditionsbildungsprozesses, der zunehmend nur noch männliche Helden propagiert, markant deutlich werden. Das Bildmaterial - 30 Abbildungen, zumeist Porträts - unterstreicht auf eigene Weise die Vielfalt der pietistischen Personenprofile.

Gleixners Studie, die auf ihrer 2002 in Berlin angenommenen Habilitation beruht, bereichert die vielfach von theologischen und kirchengeschichtlichen Perspektiven ausgehende Erforschung des württembergischen Pietismus um kulturgeschichtliche Facetten. Gleixners Buch besticht durch die umfangreiche Auswertung handschriftlich überlieferter Dokumente, die an einigen Punkten ganz andere Eindrücke ergeben als die bisher bekannten Darstellungen. Die Autorin stellt die subjektiven Deutungen einzelner in Briefen, Tagebüchern, Biografien und Autobiografien in den Kontext der Gruppenbildung der pietistischen Elite. Zum einen erfahren dadurch die weithin bekannten Symbolfiguren des württembergischen Pietismus wie Philipp Matthäus Hahn, Johann Albrecht Bengel oder Albert Knapp neue Deutungen; zum anderen treten insbesondere Frauen wie Beate Paulus, Johanne Rosine Williardts oder Charlotte Zeller aus dem Hintergrund der auf den familiären Horizont beschränkten Überlieferung hervor.

In sieben Kapiteln entschlüsselt Gleixner mit sehr unterschiedlichen methodischen Vorgehensweisen die pietistische Frömmigkeitspraxis und Weltdeutung. Zunächst bettet die Verfasserin den sich in Württemberg formierenden Pietismus in das kirchliche Panorama des 17. Jahrhunderts ein, indem sie die lutherische Kirchlichkeit mit ihren wichtigsten Vertretern und Positionen charakterisiert sowie europaweite Verbindungen berücksichtigt. Die in dieser Epoche in Württemberg verbreitete Erbauungsliteratur weist auf die Bedeutung puritanischer, quietistischer und jansenistischer Einflüsse für die Herausbildung der speziellen Frömmigkeitskultur mit ihrer Spiritualisierung des Alltags hin.

Als "Baustein pietistischer Kultur" betrachtet Gleixner das ausgeprägte Kommunikationsnetz. Durch regelmäßige Besuche, Korrespondenzen und die Teilnahme an den pietistischen Gruppentreffen, den so genannten Collegia pietatis, wurden die Kontakte der frommen Elite untereinander etabliert und aufrecht erhalten. Gleixner arbeitet heraus, dass diese Praktiken sowohl eine gewisse Individualisierung der einzelnen Männer und Frauen beförderten als auch zur Gemeinschaftsbildung mit verpflichtendem Habitus beitrugen: "Jeder Pietist und jede Pietistin muss eine individuelle Frömmigkeit nach pietistischem Muster praktizieren und zugleich in einen kontinuierlichen Austausch über den eigenen Seelenzustand und das religiöse Fühlen mit den anderen Gruppenmitgliedern treten. Über einen beständigen Wechsel der Positionen introvertierter Einkehr und extrovertierter Kommunikation formen Pietisten und Pietistinnen eine verbindliche Gruppenkultur des religiösen Fühlens und Erlebens, die von den Einzelnen individuell reformulierend bestätigt werden muss."

Der umfangreichste Abschnitt des Buchs konzentriert sich auf Zeugnisse autobiografischen und biografischen Schreibens. Diese Schreibpraktiken wollen zwar individuelles Erleben festhalten, die handschriftlichen und die gedruckten Versionen dienen jedoch vor allem dem Erweis der Gnade Gottes. Männer und Frauen reihen ihr Leben beziehungsweise das ihrer Verwandten und Freunde ein in die göttliche Heilsgeschichte, die Auswirkungen auf alle Ebenen des Alltags hat. Während sich in den ersten pietistischen Generationen nachweislich auch viele Frauen literarisch betätigten, fand im Laufe der Traditionsbildung eine geschlechterbezogene Selektion statt.

"Im Unterschied zu den Texten von namhaften männlichen Pietisten verblieben die allermeisten Texte von Frauen und Mädchen in den Familienarchiven und wurden auch posthum nicht gedruckt. Auch die familieninterne Rezeption trug dazu bei, dass vorwiegend Texte aus männlicher Feder in archivalisch zugängliche Nachlässe kamen, was wiederum mit der Beurteilung der Relevanz von Texten verbunden ist. Da Männer ihre pietistische Spiritualität berufszentriert dokumentierten, während Frauen diese viel stärker familienbezogen ausführen, sah man wohl insbesondere seit dem 19. Jahrhundert die Texte von Frauen als zu privat und von daher für eine wissenschaftliche Leserschaft als irrelevant an."

Gleixner zeichnet über mehrere Stufen nach, wie der im 19. Jahrhundert fest etablierte "Väterkult" des württembergischen Pietismus, der seine Auswirkungen bis in die Gegenwart zeigt, allmählich entsteht. Sie charakterisiert diesen als neuen pietistischen Heiligenkult, der sich auf männliche Heroen stützt. An einigen Stellen kann die Autorin durch Heranziehung von Material aus unterschiedlichen Phasen nachzeichnen, wie pietistische Lebensverläufe zu Exempeln für die nachfolgenden Generationen geformt werden, nicht in dieses vorbildhafte Schema passende Züge verschwinden zugunsten eindeutiger Tugendhaftigkeit.

Ein weiteres Kapitel ist dem Verständnis der Ehe gewidmet. Es gibt "keinen grundsätzlich neuen Entwurf. Es lassen sich jedoch gewisse Verschiebungen feststellen, denn die pietistische Forderung, das ganze Leben mit praktischer Frömmigkeit zu durchdringen, hatte selbstverständlich Konsequenzen für Ehe und Familie. Die Frömmigkeit des innerkirchlichen Pietismus versah das lutherische Eheverständnis mit einer eigenen Ausprägung." Diese spezifisch pietistische Akzentuierung sieht Gleixner in der "stärkere(n) Betonung der spirituell-religiösen Beziehung in der Ehe" sowie in der "Hervorhebung der spirituellen Gleichheit von Mann und Frau mit der davon abgeleiteten geistigen Eigenständigkeit der Frau."

Zwei Fallstudien illustrieren konfliktreiche Eheerfahrungen: Philipp Matthäus Hahn reflektiert in seinen Tagebüchern über die Schwierigkeiten, die er in zwei Ehen erlebt. Seine Deutungen werden kontextualisiert und konfrontiert mit anderem zeitgeschichtlichem Material, so dass ein vielschichtiges Bild entsteht. Eine der Töchter Hahns, Beate Paulus, beschreibt in ihren Aufzeichnungen den Ehealltag mit einem nicht-pietistischen Pfarrer. Ihre Tagebuchnotizen hinterlassen den Eindruck ständiger Auseinandersetzungen mit gewalttätigen Übergriffen von Seiten des Ehegatten. Zu den Umstilisierungen im Kontext der Erinnerungskultur gehört, dass dieselbe Frau aus späterer Perspektive ihre Ehe als durchaus positiv darstellt. Zwei Kapitel bündeln die Aussagen der literarischen Zeugnisse unter geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen. Der Alltag der pietistischen Frauen ist sehr stark von den Themen Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung geprägt, dazu gehört auch der Bereich der familiären Krankenpflege. Verwandte und befreundete Pietistinnen unterstützen sich gegenseitig bei diesen Herausforderungen der Alltagsbewältigung.

Bei der Dokumentation von Erfahrungen männlicher Pietisten spielen die beruflichen Orientierungen eine sehr viel stärkere Rolle als bei den Frauen. Gerade im Beruf ging es um die Bewährung pietistischer Haltungen. Die bedeutendste Berufsgruppe für die Formung der pietistischen Individual- und Gruppenkultur bildete die Pfarrerschaft. Unter ihnen entstand eine besondere Korrespondenzform, die vor allem jüngere Amtsbrüder pflegten: die Zirkularkorrespondenzen. Eine feste Gruppe von Freunden, die sich zumeist während des Studiums kennen gelernt hatte, tauschte Berufserfahrungen aus und bemühte sich vor allem um gegenseitige Bestärkung bei Problemen hinsichtlich einer pietistischen Amtsführung und Seelsorge.

Ihre detaillierten Auswertungen der Zeugnisse pietistischer Schreibkultur bündelt Gleixner abschließend in instruktiven Überlegungen zu "Genealogie, Traditionsstiftung und Geschichtsschreibung". Die von ihr untersuchten Vertreter und Vertreterinnen der württembergischen Bildungselite erschreiben sich ihre Geschichte, in der sie die religiöse Elite der Auserwählten darstellen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts lassen sich einschneidende Veränderungen in der Tradierung erkennen, die schließlich in den Väterkult mündeten. Die pietistischen Vertreter mussten sich angesichts einer geringer werdenden Plausibilität ihrer Frömmigkeitsausrichtung neu orientieren. Der Infragestellung des beginnenden 19. Jahrhunderts wurden als bleibende pietistische Gegenpositionen die "Väter" entgegen gehalten, nicht jedoch die "Mütter".


Titelbild

Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005.
464 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-10: 3525368410

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