Lang und Schmerzvoll: Über das Gedächtnis des Körpers und der Schrift

Roland Bogard und Günter Oesterle geben einen Sammelband zu "Schmerz und Erinnerung" heraus

Von Oliver GeislerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Geisler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Schmerz war der, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen. [...] Wer seinen Körperschmerz mitteilen wollte, wäre darauf gestellt, ihn zuzufügen und damit selbst zum Folterknecht zu werden." Jean Amérys Überlegungen aus seinem Buch "Jenseits von Schuld und Sühne" benennen eine Prämisse einer kulturwissenschaftlichen Erschließung von Schmerz. Aus der Erfahrung der Shoah heraus steht Schmerz schlichtweg für die Verneinung von Sagbarkeit und Literatur. Kultur, verstanden als Kommunikationssystem, kann in dieser Perspektive vor dem Schmerz nur kapitulieren und kommt zu ihrem Ende.

Dagegen fungiert Schmerz in einer Fülle von Texten und wissenschaftlichen Untersuchungen als "privilegierter Ort einer Wahrheit der Literatur" (Heiko Christians, "Über den Schmerz"). Und immer wieder werden Erzählungen und Erzähler von dem Verlangen nach der Mitteilung und Mitteilbarkeit von Schmerz angetrieben. Das Sagen hört nicht am Schmerz auf, sondern fängt vielmehr nach ihm überhaupt erst an. Eine andere Prämisse lautet dann: Schmerz ist ein zentraler Baustein von Verhandlungen der Kommunikation und Erzählbarkeit und berührt damit die Grundbedingungen von Literatur im speziellen und Kultur im Allgemeinen.

Oder handelt es sich hierbei nicht vielmehr um zwei aufeinander bezogene Facetten des Erfahrungs- und Deutungsspektrums von Schmerz? In enger Relation zum Begriff des Traumas gerät mit Schmerz das Unaussprechliche und Uneinholbare in den Blick. Und wie bei dem Trauma-Begriff bleibt auch bezüglich des Schmerzes das Areal jenseits der Sprache selbst nicht unausgesprochen, sondern wird - so unerträglich die Erfahrung selbst ist - zu einer Bedingung und Möglichkeit von Kultur.

Die beiden genannten Pole - (Schmerz-)Körper und Kultur - um die Ideen von Zeitlichkeit und Nachträglichkeit, also um den Begriff der Memoria zu erweitern, erschließt dann jene Dimensionen, die der Herausgeber des Bandes "Schmerz und Erinnerung", Roland Bogards, seiner Publikation zugrunde gelegt hat. Dazu in der Einleitung: "Der Schmerz, so zeigen die Studien dieses Bandes, hat nicht nur eine körperliche Dimension, sondern ist zudem konstitutiv an ein mnemotechnisches und kulturelles Wissen gebunden".

Schmerz wird so, aus dem physisch-psychischen Akt des Zufügens und Erleidens heraus, einerseits als Körper- und Geisteserfahrung, andererseits als ein Konstituent von Kultur und als eine Chiffre des Poetischen begriffen. Destruktive und konstruktive Aspekte scheinen sich im Begriff Schmerz gegenseitig zu spiegeln. Lässt man die Plausibilisierungsfloskeln des ,bisher noch nicht erforscht' und ,erstmals umfassend erfasst', die in der Wissenschaftskultur leider unumgänglich sind, einmal beseite, liefert die Einleitung des Herausgebers (gemeinsam mit Günter Oesterle) wichtige Impulse für eine Systematisierung des Forschungsfeldes. So unterteilt er den Komplex Schmerz und Erinnerung in drei Bereiche, die aber stets ins Verhältnis zueinander gesetzt bleiben: (1) Schmerz erzeugt Erinnerung; (2) Erinnern erzeugt Schmerzen; (3) Schmerz wird erinnert. Gleichsam überlagert werden diese drei ,Wirkungsweisen' durch zwei mögliche kultur- und schmerztheoretische Fragehorizonte: (1) Schmerz und kulturelles Gedächtnis; (2) Schmerz und individuelles Gedächtnis. Sicherlich ließ sich dieses Modell kleingliedriger gestalten oder weitere Modi und Bezugsgrößen könnten hinzugefügt werden. Aber eine als Forschungsimpuls konzipierte Publikation kann und muss das nicht leisten.

Die anschließenden Einzelstudien sind chronologisch geordnet und reichen von der Antike (Jörg Jochen Berens: "Schmerzende Bilder: Zu Machart und mnemonischer Qualität monströser Konstrukte in Antike und Früher Neuzeit") bis zu aktuellen medizinischen Forschungsergebnissen (Volker Roelcke: "Statistik und Erinnerung: Theoretische und methodische Zugänge zum Schmerz in der (ethno-) medizinischen Forschung"). Dennoch lassen sich einzelne Beiträge zu Schwerpunkten anordnen: Faszinierend und überzeugend sind die beiden Beiträge zu ,Körperzeichen' und ,Dermographien'. Einmal wird die "Logik der Stigmatisierung" (Schmidt-Hannisa) aus der christlichen ,imitatio'-Lehre entwickelt. Daran anknüpfend untersucht Ulrike Landfester die "Tätowierung als Erinnerungsfigur". Ausgehend von Heinrich Seuse sind es dann vor allem die Überlegungen zu den Pilgertätowierungen der Frühen Neuzeit, die ein bisher kaum beachtetes Phänomen einer Kulturgeschichte des Reisens, der Geschichte der Erinnerungskultur und eines literarischen Motivs ,Tätowierung' gleichermaßen erschließt.

Einen zweiten Komplex bilden die Beiträge zum Schmerz um 1800. Karl Philipp Moritz, Sophie von La Roche, Hölty, Goethe, Novalis, Achim von Arnim und Matthias Claudius und vor allem deren Werke werden vor dem Hintergrund von ,Schmerz und Erinnerung' einer erneuten Lektüre unterzogen. Es zeigt sich insgesamt, dass mit der von dem Band vorgeschlagenen Fragestellung zahlreiche neue Deutungsperspektiven gewonnen werden können.

Und natürlich auch Kafka: Fast schon erwartungsgemäß leitet ein Beitrag über Franz Kafka die Arbeiten zur Moderne - den dritten Bereich - ein; und fast schon erwartungsgemäß ist dieser Beitrag von Gerhard Neumann verfasst. Aber diese Erwartung wird dann auch nicht enttäuscht. Überzeugend entwickelt Neumann Kafkas Konzept, die "Wunde zu Zeigen" (Kafka, Tagebücher) und stellt fest: "Es gibt offenbar keine bessere Formulierung für die Realisierung des aporetischen Vorhabens, aus dem Schmerz - eines Individuums, einer Nation - ein literarisches Gedächtnis herauszutreiben, als diese Vision des ,Zeigens der Wunde' auf einem Gedächtnistheater, das die Kunst errichtet."

Hier artikuliert sich das spannungsreiche Verhältnis von Körpererfahrung und Erzählung, der Umarbeitung des Eindrucks zum Ausdruck, das den Bedingungen der ,condition mediale' unterliegt. Die Frage nach der Erinnerbarkeit und Erzählbarkeit des Schmerzes ,nach Auschwitz' treibt zwei Untersuchungen über Primo Levi (Hubert Thüring) und Paul Celan (Thomas Böning) an. An Bönings Beitrag fasziniert die Idee einer "Physiologie des Sprechens" und einer ",Semantik' des Atems", auch wenn die Dichte des Theoriegebäudes einen Durchgang durch den Text deutlich erschwert - aber die Mühe lohnt sich!

Wie auch der Band insgesamt zahlreiche wichtige Impulse für eine Erforschung des Komplexes 'Schmerz und Erinnerung' liefert. Wie bei Tagungsbänden üblich kann so einerseits ein panoramatischer Blick auf das Forschungsgebiet gewonnen werden, zum anderen bietet sich die Möglichkeit einer punktuellen Lektüre, die von einzelnen Interesselagen - wie auch der des Rezensenten - geleitet wird.


Titelbild

Roland Borgards / Günter Oesterle (Hg.): Schmerz und Erinnerung.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2005.
269 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3770540670

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